
Quelle: mdr.de
Nach mehreren Wochen voller Stochern im wortwörtlich Trüben war Mitte August endlich klar: Für das massenhafte Fischsterben in der Oder, das Ende Juli zum ersten Mal von polnischen Fischer:innen beobachtet worden war, war der rasante Wachstum der giftigen Goldalge verantwortlich. Doch woher der dafür notwendige erhöhte Salzgehalt im Wasser kam, ist bis heute unklar.
Seit Ende August verbessert sich aber immerhin die Wasserqualität spürbar wieder. Die Umweltkatastrophe, die über Wochen die Öffentlichkeit in Deutschland und Polen in Atem gehalten hatte, verschwand weitgehend aus den Medien. Berichtet und gestritten worden war vor allem um die Suche nach Ursachen, fehlendes Monitoring auf der polnischen Seite und gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen deutschen und polnischen Behörden und Politiker:innen. Kaum Beachtung hat hingegen gefunden, dass sich die politische Debatte in Polen, die sich vor allem um das Versagen von Regierung und Behörden drehte, wie auch, dass sich die dabei hervorgerufenen Verwerfungen im deutsch-polnischen Verhältnis in schon älteren Bahnen bewegten. Mit dem Verlust an Vertrauen und gegenseitigen Schuldzuweisungen, den die größte europäischen Umweltkatastrophe der jüngeren Vergangenheit nach sich zog, endet 2022 auch eine lange zurückreichende postsozialistische Erfolgsstory.
Schwarze Märsche für sauberes Trinkwasser in den 1980er Jahren
Für die politischen Transformation Polens in den 1980er Jahre spielte die Oder eine entscheidende Rolle. Dass sich gerade Wrocław, das frühere Breslau, im Südwesten des Landes zu einer der Hochburgen der polnischen Opposition entwickelte, lag nicht zuletzt an der Oder. Denn seit den ausgehenden 1970er Jahren kursierten in der Stadtöffentlichkeit Gerüchte, dass das aus dem Fluss gewonnene Trinkwasser mit Chrom belastet sei. Die staatlichen Behörden versuchten diese zunächst zu unterdrücken. Doch mit dem Aufkommen von unabhängigen Umweltgruppen – allen voran dem im Kontext der Solidarność-Revolution 1981 gegründeten „Polnischen Ökologischen Klub“ (Polski Klub Ekologiczny) – gelangten Berichte über die Chrombelastung zunehmend in die Öffentlichkeit. Als Verursacher der Verschmutzungen nannten die Umweltaktivist:innen das Stahlwerk Siechnice, wenige Kilometer von Wrocław flussaufwärts gelegen – eine Industrieanlage, die eigentlich schon Anfang der 1980er Jahre hätte geschlossen werden sollen.

Demonstration für die Schließung der Hütte Siechnice, Wrocław 1988; Quelle: fer.org.pl/historia/
Ab Mitte der 1980er Jahre griffen der Polnische Ökologische Klub und das ebenfalls oppositionelle Umwelt- und Friedensnetzwerk „Freiheit und Frieden“ (Wolność i Pokój, kurz: WiP) das Thema zunehmend offensiver auf. Auf ein erstes Sit-in, organisiert Ende 1986 von zwanzig WiP-Aktivist:innen, folgten ab 1987 „Schwarze Märsche“ genannte Demonstrationen durch die Wrocławer Innenstadt, an denen bis zu dreihundertfünfzig Menschen teilnahmen – eine hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass Demonstrationen zu diesem Zeitpunkt immer noch verboten waren und mit Geld- und Haftstrafen geahndet wurden. Flankiert wurden die Aktionen von Berichten in der oppositionellen Presse, in denen der sozialistische Staat für die Umweltprobleme verantwortlich gemacht wurde: als Betreiber des Stahlwerks, aber auch als versagende Aufsichtsbehörde: „Zu den dringendsten gesellschaftlichen Problemen in Polen gehört aktuell der Schutz der natürlichen Umwelt. Ein Beispiel dafür, dass der Staat sich nur deklarativ für die Gefahr interessiert, die die Verschmutzung von Böden, Wasser und Atmosphäre mit sich bringt, ist die Erlaubnis, die Hütte Siechnice weiter zu betreiben.“
Der Konflikt um die Wasserqualität der Oder blieb nicht auf die Region Niederschlesien beschränkt, sondern wurde dank der Proteste und Berichte zum nationalen Politikum. Nachdem zunächst die Modernisierung des Stahlwerks versprochen (und immer wieder verschoben) worden war, verkündete der polnische Industrieminister am 4. November 1988 die Schließung der Hütte. Die oppositionelle Umweltbewegung hatte einen ersten, offenkundigen Erfolg gegen den realsozialistischen Staat errungen.
Kläranlagen und grünes Business in den 1990er Jahren
Die politische Wende 1989 markierte in Polen nicht nur den Übergang zu Demokratie und Kapitalismus. Auch das Umweltparadigma setzte sich nun durch, freilich unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen. Umweltschutz war „modern“ und „westlich“, einschlägige NGO’s wurden zu gefragten, wenn auch zu deren zunehmendem Verdruss längst nicht immer umfänglich gehörten, Partnern der Politik. Staaten und zivilgesellschaftliche Stiftungen aus dem westlichen Ausland finanzierten Umweltschutzprojekte. In der Region um Wrocław blieb die Oder eines der zentralen Themen für die Umweltbewegung. Sie nutzte die neuen Möglichkeiten, um für die Einrichtung von Naturschutzgebieten und den Bau von Kläranlagen nicht nur zu werben, sondern war dank ihres technischen Fachwissens und Kontakten zu Fördermittelgebern aus dem Ausland im Zusammenspiel mit den häufig noch unerfahrenen, neuen Kommunalpolitiker:innen in der Rolle des Antreibers.

Kampagne „Zeit für die Oder“, Wrocław, Mitte 1990er Jahre; Quelle: fer.org.pl/historia/
In diesem Sinne gründeten ehemalige Aktivist:innen der Breslauer WiP-Gruppe 1993 die „Stiftung für die Olau und die Glatzer Neiße“. Sie hatte zum Ziel, die an den beiden zentralen Zuflüssen der Oder gelegenen Gemeinden dabei zu unterstützen, Kläranlagen und Kanalisationen zu bauen und damit mittelbar die Trinkwasserqualität für Wrocław zu verbessern – durchaus mit Erfolg. Als der Polnische Ökologische Klub Mitte der 1990er Jahre sein fünfzehnjähriges Bestehen feierte, klingt in Artikeln in dessen lokaler Zeitschrift Stolz auf das Erreichte durch: „Der Schnee taut jetzt schon zwei Wochen, aber er ist immer noch weiß! […] Und in der Oder, so hört man, kann man schon wieder durchaus essbare Fische angeln.“ Die Nachwendezeit war aus Sicht der polnischen Umweltbewegung eine Zeit wachsender Erfolge: Das Bewusstsein für Umweltfragen stieg sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung. Umwelt-NGO’s verfügten über zunehmend größere Budgets und konnten ihre Tätigkeit, vor allem im Bildungsbereich, ausbauen.
Aus dem eher technokratischen Projekt „Stiftung für die Olau und die Glatzer Neiße“ entwickelte sich im Laufe der 1990er Jahre unter dem Namen „Stiftung nachhaltige Entwicklung“ eine der dynamischsten Umwelt-NGO’s in Polen. Sie besteht bis heute, hat ihre Anfänge aber in den Kämpfen um sauberes Oder(trink)wasser der 1980er und 1990er Jahre. Die Oder ist damit für die polnische Umweltbewegung, vor allem im Südwesten des Landes, ein zentraler Teil der eigenen Geschichte. Sauberes Wasser und intakte Flussufer hatten symbolischen Gehalt: Sie waren Zeichen für den Erfolg der Umweltbewegung in der Auseinandersetzung mit dem realsozialistischen Staat und standen symbolisch für ihre neue Rolle als Teil einer nachholenden Modernisierung in den 1990er Jahren, zu der auch Umweltschutz und -bewusstsein gehörten.
Die Oder als Symbol der deutsch-polnischen Beziehungen nach 1989
Zum Erfolgssymbol wurde die Oder auch auf dem Feld der deutsch-polnischen Beziehungen. In den 1990er und 2000er Jahren entwickelte sich die Oder zu einem symbolischen Kontaktraum zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und dem demokratisch gewordenen Polen. Entlang der Oder wurden mehrere „Europaregionen“ gegründet mit dem Ziel, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu fördern. Die nun pass- und visafrei passierbaren Brücken über Oder und Neiße, allen voran die zwischen Frankfurt/Oder und Słubice, dienten in einschlägigen medialen Berichterstattungen häufig als Sinnbild für die neue Zeit, in der die oft als Ballast verstandene Vergangenheit überwunden war. Als der Fluss 1997 über die Ufer trat und verheerende Schäden anrichtete, kam Hilfe auch aus Deutschland, in Wrocław etwa in Form von Geldspenden und technischer Unterstützung aus der Partnerstadt Dresden. In der Zeit der euphorischen Annäherung sollte die Oder vom trägen dahinfließenden Grenzfluss an der Peripherie zum zweiten Rhein werden: einem Strom in der Mitte Europas, der zusammenbringt und nicht trennt. Vom Aufbruchsgeist dieser Zeit zeugen Projekte wie die 1999 vom Künstler Michael Kurzwelly gegründete Bürgerinitiative „Słubfurt“, die Frankfurt/Oder und Słubice zu einer Stadt zusammendachte, oder, mit eher klassisch akademischem Anspruch, die 2006 von den Historiker:innen Karl Schlögel und Beata Halicka organisierte Konferenz „Europa neu zusammensetzen – die Rekonstruktion der Oder als ein europäischer Kulturraum“.
Trotzdem blieb die Oder weiter auch eine Grenze, die trennte. Vor allem das Wohlstandsgefälle ist bis heute sichtbar, trotz einer beachtlichen Annäherung. Thematisiert wurde es nicht zuletzt in Filmen wie Hans-Christian Schmids Episodenfilm „Lichter“ aus dem Jahr 2003, in dem das Überschreiten der Grenze eine zentrale Rolle spielt. Peripher und trist ist die Oder auch in Andreas Dresens Spielfilm „Halbe Treppe“ aus dem Jahr 2002. Der Fluss und damit die Grenze nach Polen wird hier nur überquert, weil in Słubice das Hotel billiger ist, in dem zwei der Protagonist:innen ihre außereheliche Affären ausleben. Beide Filme bildeten, ohne direkt Bezug zu nehmen, ein Korrektiv zum Diskurs der deutsch-polnischen Erfolgsstory und lenkten den Blick auf die Schattenseiten des häufig mehr herbeigeschriebenen denn tatsächlich existenten Kontaktraums Oder.
2022: Zurück in die Vergangenheit
Dass es gerade die Oder ist, der deutsch-polnische Grenzfluss, auf dem im Sommer 2022 tonnenweise tote Fische treiben, entbehrt daher nicht einer gewissen politischen Symbolik. Die Zeit der euphorisch beschworenen deutsch-polnischen Annäherung ist genauso vorbei wie der Anfang der 1990er Jahre noch virulente Hoffnung auf ein ökologisches Zeitalter. Die aktuelle Umweltkrise bringt nicht, wie das Oderhochwasser 1997, Deutsche und Pol:innen zusammen – im Gegenteil: Im Sommer 2022 dominierten Schuldzuweisungen. Die deutsche Umweltministerin warf der polnischen Seite vor, viel zu spät über das Fischsterben informiert zu haben. Polnische Umweltaktivist:innen und Oppositionspolitiker:innen attestierten der eigenen Regierung Versagen beim Umgang mit der Katastrophe und beklagten das fehlende Monitoring im polnischen Teil des Flusses. Politiker:innen der regierenden PiS-Partei und das staatliche Fernsehen dagegen spielten die Geschehnisse herunter oder streuten gar Zweifel daran, dass die (bis heute nicht identifizierten) Verursacher der Gewässerverunreinigung auf der polnischen Seite zu finden seien.
Historisch betrachtet erinnern die Ereignisse des Sommers 2022 so auf mehreren Ebenen an vergangen geglaubte Zeiten: In Polen wurde die Umweltkatastrophe zu einem weiteren Spielfeld des Antagonismus zwischen „Opposition“ und „Regime“. Die Erfolge von Umweltschützer:innen der letzten Jahrzehnte, die mit Antritt der PiS-Regierung sowieso unter Druck gerieten, scheinen innerhalb weniger Wochen zunichte gemacht. Und der in den 1990er Jahren so euphorisch beschworene deutsch-polnische Kontaktraum Oder verwandelte sich über Wochen in eine stinkende Kloake. Der Gestank ist heute vorbei – doch der Schaden ist angerichtet.