Franziska Schutzbach: Mithu Sanyal, in Ihrem Buch ‚Vergewaltigung‘ fragen Sie, ob der Begriff des Opfers immer sinnvoll ist. Warum?
Mithu Sanyal: Ich hinterfrage den Begriff nicht pauschal. Mich interessiert, welche weiteren Begriffe wir brauchen, damit sich Menschen, denen eine Vergewaltigung widerfahren ist, richtig beschrieben fühlen. Aber vor allem geht es mir um die Frage: Wie kann es nach sexualisierter Gewalt zu Heilung kommen? Ich bin vielen, vor allem Frauen, begegnet, die die Bezeichnung Opfer lieber nicht benutzen wollten.

Mithu Melanie Sanyal, Autorin, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin, hauptsächlich für den Westdeutschen Rundfunk, aber auch für den SWR, Deutschlandfunk, Missy Magazine, ZEIT und viele andere. Für die taz schreibt sie die regelmäßige Kolumne „Mithulogie“. 2009 erschien ihre Kulturgeschichte des weiblchen Genitals „Vulva“ (Wagenbach), die inzwischen in mehrere Sprachen übertragen ist (Neuauflage 2017).
Woran liegt das?
Sie fühlen sich durch die Opferzuschreibungen entmündigt, sie verbinden damit ein Stigma, das sie kaum wieder loswerden: einmal Opfer, immer Opfer. Natascha Kampusch hat das sehr deutlich ausgedrückt, als sie sagte, sie wolle kein Opfer sein, denn sonst „würde mich nachher niemand mehr als normalen Menschen akzeptieren“. Der Opferbegriff hat etwas Umfassendes, dagegen wehren sich viele Frauen, denn sie schaffen ja genau das: Sie leben trotz Vergewaltigung weiter und sind Subjekte. Viele Frauen empfanden sich vielleicht in einer bestimmten Situation als Opfer, als völlig hilflos. Aber das heisst nicht, dass sie sich deshalb auch den Rest ihres Lebens so fühlen.
Woher kommt die Vorstellung, dass vergewaltigte Frauen für immer gezeichnet sind?
Das hat unter anderem mit Vorstellungen über weibliche Ehre zu tun. Historisch wurde die Ehre der Frau in ihrem Körper verortet. Eine vergewaltigte Frau ist quasi entehrt. Beschmutzt. Bis heute zirkuliert die Idee, man habe einer Frau das Innerste weggenommen. Das englische Wort „rape“ kommt von der germanischen Wortwurzel „Raub“.
Aber Vergewaltigung ist doch ein schlimmes Trauma?
Ja, natürlich, für viele ist es das. Aber eben nicht für alle und nicht für alle in derselben Form. Menschen gehen damit sehr verschieden um. Die Autorin Virginie Despentes wurde beim Trampen vergewaltigt, als sie danach wieder trampte, sagte man ihr: Ach, dann hast du wohl immer noch nicht genug. Aber sie wollte unbedingt ihr Leben weiter leben und sich nicht die Freiheit nehmen lassen, so zu leben, wie sie es möchte. Vergewaltigung ist bei uns als „das Schlimmste, das einer Frau passieren kann“ kodiert. Für viele ist eine solche Zuschreibung ein Problem, weil das die Heilung erschwert.

Rita Ackermann, aus der Serie „KLINE Rape“, 2015; Quelle: officemagazine.net
Sollten wir den Opferbegriff abschaffen?
Auf keinen Fall. Politisch und juristisch ist er notwendig. Vor Gericht geht es um Schuld und Bestrafung. Da braucht es diese Klarheit, mit der ein Opferstatus eindeutig festgestellt werden kann. Mir geht es um die gesellschaftliche und psychologische Dimension – besonders auch in der Selbstbezeichnung von Menschen Jahre nach dem Verbrechen. Ein einseitiger Opferbegriff läuft Gefahr, Menschen den Subjektstatus abzusprechen. Ich hätte gerne mehr Begriffe für „Opfer“, es bräuchte mehr Möglichkeiten, um über Vergewaltigung zu sprechen. Ich wünsche mir, dass wir über Gewalt sprechen können, ohne stereotype Vorstellungen von Weiblichkeit zu reproduzieren, nämlich: Frauen seien passiv, dauer-verletzlich, schwach usw.
Sie plädieren dafür, Geschlechterstereotype zu hinterfragen.
Ja. Ich denke, wir können das Problem der sexualisierten Gewalt nur angehen, wenn wir auch grundlegend über Sexualität und Geschlechterstereotype nachdenken. Zum Beispiel über die weit verbreitete Vorstellung weiblicher Passivität und damit die Idee, weibliche Sexualität sei ein allzeit bedrohtes Gebiet. Natürlich ist eine Vergewaltigung genau dies: eine Situation der totalen Bedrohung und Hilflosigkeit. Aber warum wird dies auf die gesamte weibliche Sexualität übertragen? Nicht zuletzt ist ja diese Idee von der Frau als einem passiven und damit zu erobernden Gebiet ein zentraler Ursprung sexualisierter Gewalt. Ich frage mich, wie wir endlich unser Ideal einer selbstbestimmten, aktiven weiblichen Sexualität umsetzen sollen, wenn sie insgesamt als bedroht und passiv gedacht wird.
Was schlagen Sie vor?
Es gibt ein paar Mythen, die ich gerne hinterfrage. Bis heute ist zum Beispiel die Idee vorherrschend, Sexualität bestehe aus einem Penis, der die Vagina penetriert. Die Autorin Bini Adamczak hat vorgeschlagen, nicht nur von Penetration, sondern auch von Circlusion zu sprechen. Denn Penetration wird automatisch mit Männlichkeit assoziiert, also dem, was der Penis tut – der Anteil der weiblichen Sexualität geht unter. Mit Circlusion, also Umschliessung, lässt sich auch der aktive Akt der Vagina beschreiben. Denn das Umschliessen ist ein aktiver Akt. Nehmen wir das Bild vom „Nuss knacken“, da ist ja auch klar, dass der Nussknacker etwas aktiv tut. Was ich damit sagen will: Auch wenn Frauen in unserer Gesellschaft strukturell oft unterlegen sind und wir in einer androzentrischen, das heisst am Männlichen ausgerichteten Welt leben, so sind Frauen nicht nur passiv. Es gibt strukturelle Machtverhältnisse und sexualisierte Gewalt gegen Frauen, gleichwohl haben Männer nicht immer mehr Macht als Frauen und nicht per se den aktiven Part.

Elena Mann, Myths of Rape (1977/2012); Quelle: elenamann.com
Sprechen wir über Heilung nach einer Vergewaltigung. Was gibt es da für Ansätze?
Ich habe mit vielen Beratungsstellen gesprochen, dort werden Klientinnen zum Beispiel nicht automatisch als Opfer adressiert, es geht vielmehr darum, welches Wort die Betroffene selbst verwenden möchte. Es gibt Frauen, für die Opfer wichtig ist, weil damit klar benannt ist, dass einem etwas angetan worden und man daran keine Schuld trägt. Andere sprechen lieber davon, dass ihnen etwas Schlimmes widerfahren ist oder sie etwas Schlimmes erlebt haben. Es gibt viele Vorschläge, zum Beispiel den Begriff ‚situatives Opfer‘, um deutlich zu machen, dass sich der Opferstatus auf eine bestimmte Situation im Leben beziehen kann, aber eben nicht auf das ganze Leben. Oder Widerfahrnis. Es gibt nicht den einen Begriff, der für alle richtig ist. Aber für den Heilungsprozess ist es wichtig, dass gesagt werden kann: Jetzt fühle ich mich als Opfer, jetzt aber nicht mehr, oder umgekehrt: Ich habe mich jahrelang nicht als Opfer gefühlt, aber jetzt schon.
Sie haben auch mit betroffenen Frauen gesprochen. Was haben Sie über Verarbeitungsstrategien herausgefunden?
Was mich sehr bewegt, ist die ‚restorative justice‘. Es gibt in Deutschland die Möglichkeit, aussergerichtlich einen Ausgleich zu verhandeln, wenn Betroffene dies wünschen. Das nennt sich Täter-Opfer-Ausgleich und ist in unserem Strafrecht vorgesehen. Das gelingt nur, wenn alle es wollen und mit der Übereinkunft zufrieden sind. Wenn es für die Betroffenen nicht befriedigend ist, kommt der Fall vor Gericht und geht den normalen Gerichtsweg. Von dieser Möglichkeit wissen viele nicht. Oft kann eine aussergerichtliche Einigung befriedigend sein. Betroffene berichten, dass etwas ausgelöst wurde, eine Art Katharsis, weil ein Prozess in Gang kommt, der über die einfache Strafe hinausgeht. In einer solchen moderierten Begegnung mit dem Täter kann etwas auf andere Weise durchgearbeitet werden: Warum hat der mir das angetan? Es kann entlastend sein, ausführlich zu hören, dass die Gewalt mit Gründen zu tun hat, die wirklich beim Täter liegen und nicht bei einem selbst. Für andere ist es wiederum genau umgekehrt und wichtig, wenn das Gericht schlicht festhält, dass einem etwas angetan wurde und der Täter bestraft wird. Wenn es denn überhaupt dazu kommt, denn Verurteilungen in Vergewaltigungsfällen sind verhältnismässig selten, weil es häufig keine Zeugen gibt und Aussage gegen Aussage steht.

Staten Island Art School, Project, 2016; Quelle: ncac.org
Was sollte das familiäre Umfeld oder der Freundeskreis tun?
Erst einmal wirklich offene Fragen stellen und die Betroffenen nicht so behandeln, als wären sie nun andere Menschen als vorher. Es wird von vielen als stigmatisierend empfunden, wenn ihr Umfeld eine Vergewaltigung als Erklärung für alle ihre Probleme heranzieht. Für viele ist es zudem wichtig, dass ihr Umfeld akzeptiert, wenn sie sagen: jetzt ist gut, ich hab das durch, ich lebe jetzt mein Leben weiter. Und dass dann nicht gesagt wird: Bist du sicher? Willst du nicht doch noch eine Therapie machen? Tatsächlich werden viele Frauen von ihrem Umfeld in Therapien geschickt, weil die Meinung weit verbreitet ist, sonst würden die Frauen das nur verdrängen. Das kann sehr entmündigend wirken, denn es wird nahegelegt: Du bist dem, was passiert ist, ausgeliefert, du hast keine Kontrolle, die Vergewaltigung lauert in dir wie eine tickende Zeitbombe.
Aber holt einen eine Vergewaltigung nicht doch oft ein?
Natürlich kann das Erlebte wieder hochkommen. Aber es muss nicht. Das Umfeld oder auch Therapien sollten an dem anknüpfen, was Betroffene selbst tun und wollen, um mit der Situation klar zu kommen. Denn sie tun ja Dinge, um es auszuhalten. Sie sind meistens nicht einfach passiv allem ausgeliefert. Verdrängen kann unter bestimmten Umständen auch eine sinnvolle Handlung sein, es kann bedeuten, dass der Zeitpunkt selbst ausgewählt wird, an dem eine Auseinandersetzung möglich ist.
Vor kurzem erschien das Buch „South of Forgiveness“ der Isländerin Thordis Elva. Sie hat es zusammen mit dem Mann, der sie vergewaltigte, geschrieben. Ein irritierendes Vorgehen.
Das finde ich nicht. Denn das Buch ist ja das Ergebnis eines viele Jahre dauernden gemeinsamen Verarbeitungsprozesses, und es ist sehr beeindruckend. Gerade auch, weil sich der Täter Tom Stranger seiner Tat wirklich stellt und Verantwortung dafür übernimmt. Das sind Geschichten, die wir selten hören. Deshalb fand ich es so traurig, dass es Proteste dagegen gab, mit dem Argument: Wie kann sie ihm das verzeihen? Damit würde sie anderen Opfern vermitteln, Vergewaltigung sei nicht so schlimm. Andere wiederum mutmassten, es wäre wohl gar keine echte Vergewaltigung gewesen, sonst könnte sie nicht auf diese Weise handeln. Aber das ist doch Quatsch, ihr ging es um ihren eigenen Fall, um ihre Geschichte, sie hat nicht gesagt, dass alle mit ihrem Vergewaltiger reden sollen. Auch hat sie nicht gesagt, Vergewaltigung sei nicht so schlimm. Wie können wir einer Person absprechen, ihren eigenen Weg der Heilung zu gehen? Und wie können wir uns als Gesellschaft die Chance entgehen lassen, daraus zu lernen? Denn in diesem konkreten Fall handelte es sich nicht zuletzt um eine Vergewaltigung, die hätte verhindert werden können. Und zwar durch bessere Aufklärung darüber, was Konsens wirklich heisst.
Sprechen wir über Männer: Frauen werden am häufigsten vergewaltigt. Aber auch Männer werden, vor allem von anderen Männern, vergewaltigt. Überhaupt sind Männer insgesamt häufiger Opfer von Gewalt als Frauen.
Man stösst gesellschaftlich auf riesige Widerstände, wenn man Männer als Opfer sieht. Männer werden kaum in einer Position der Passivität, der Ausgeliefertheit gedacht, sondern immer als Täter, Penetrierer, Akteure. Das ist für Männer schlimm. Langsam hat sich in den letzten Jahren auch ein Diskurs über den Missbrauch von Männern und Jungen entwickelt. Oder über die Vergewaltigung von Männern in Gefängnissen. Die Sprachlosigkeit über männliche Opfer rührt auch daher, dass für Männer Vergewaltigung durch andere Männer oft mit der Schmach einer angeblichen Homosexualisierung verbunden ist. Männer fürchten, zusätzlich zum erlebten Horror der Vergewaltigung, als schwul, entmännlicht, also feminisiert zu gelten.
In Ihrem Buch geht es auch um Täterbilder. Während Frauen einseitig als schwache Opfer dargestellt werden, erscheinen Täter wiederum als absolut monströs.
Ja, ich denke, dass das Gewaltproblem damit externalisiert wird – monströs sind immer die anderen. Dadurch wird verhindert, darüber nachzudenken, inwiefern Gewalt nicht der Ausnahmezustand, sondern die Normalität ist und bei uns allen als Möglichkeit angelegt. Genauso, wie Verletzlichkeit für alle Menschen gilt. Es wird oft wahnsinnig intensiv über Täter berichtet, sie werden zu gesellschaftlichen Sündenbücken, an denen das Böse schlechthin exorziert wird. Meine These ist: Da wir kein gesellschaftliches Konzept für eine Heilung nach einer Vergewaltigung haben, haben wir auch kein Konzept für den Wiedereintritt von Vergewaltigern in die Gesellschaft. Vergewaltiger erscheinen als Antithese der Gesellschaft, als nicht rehabilitierbar. Aber was ist mit denen, die bereuen, die ihre Tat aufarbeiten wollen, etwas gut machen, Verantwortung übernehmen wollen? Wir können für etwas nur Verantwortung übernehmen, wenn es unseren Selbstwert nicht komplett zerstört. Mir geht es hier auch um die Frage der Prävention: Wenn es keine Aussicht auf Rehabilitation gibt, dann haben Täter gar keine andere Möglichkeit, als mit der Gewalt immer weiter zu machen. Damit meine ich mitnichten, dass es die Opfer sind, die irgendwie ihren Vergewaltigern vergeben müssen, oder überhaupt irgendetwas müssen. Ich spreche von gesellschaftlichen Möglichkeiten oder Dialogen.

Stanley Kubrick: Clockwork Orange, 1971; Quelle: YouTube.com
Welche Möglichkeiten wären das?
Es braucht einen ehrlicheren Umgang mit Gewalt, wir müssen offen darüber sprechen, dass Gewalt passiert und es nicht nur die paar „faulen Äpfel“ sind, die die ansonsten tolle Stimmung vermiesen. Auf diese Weise wäre es auch möglich, über Täterschaft nachzudenken, ohne sie komplett aus dem Menschsein zu verbannen. Auch sollten wir als Gemeinschaft davon ausgehen, dass Menschen sich ändern können. Wenn das Böse als nicht-menschlich gilt, gibt es keine Aussicht darauf, es mit menschlichen Mitteln zu bearbeiten. Damit tun wir letztlich das Gleiche wie die Täter: de-humanisieren. Aber wir können als Gesellschaft doch nicht wie die angeklagten Täter agieren, sondern müssen gerade anders mit Menschen umgehen und mit gutem Beispiel vorangehen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Mythos vom triebgesteuerten Mann, das ist ja auch eine dehumanisierende Vorstellung.
Diese Vorstellung entstand im 18. und frühen 19. Jahrhundert, der Mann galt als eine Art Dampfkessel, der angeblich unter ständigem sexuellen Druck stehe und ejakulieren müsse, in Frauen hinein. Onanie war extrem verpönt. Es gab den Diskurs, es bräuchte genügend Zugang zu Prostituierten, und es wurde sogar nahegelegt, Männer sollten besser vergewaltigen als zu onanieren. Männer galten also als Menschen, die sich nicht beherrschen können. Aus dieser Zeit stammt auch die Vorstellung, Frauen dürften sich nicht zu aufreizend kleiden, um den Mann nicht zu provozieren.
Darauf bezogen sich 2011 auch die weltweiten Slutwalks, die ‚Schlampenmärsche‘, an denen hunderttausende Frauen gegen sexualisierte Gewalt protestierten.
Genau, das war eine Kritik am Dampfkesselmodell. Auslöser war ein Polizist in Toronto, der sagte, Frauen sollten sich, um Vergewaltigung zu vermeiden, weniger sexy anziehen. Daraus entstanden die „Slutwalks“, mit der Botschaft: Wir wollen uns anziehen, wie wir wollen, und trotzdem nicht vergewaltigt werden! Wir sind nicht Freiwild, bloss weil wir sexy angezogen sind. Es wurde also kritisiert, welche Auswirkung das Dampfkesselmodell auf Frauen hat. Aber es wurde nicht in Bezug auf Männer reflektiert. Was heisst das für Männer, wenn das Bild vorherrscht, sie würden alles bespringen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist?

„Schlampenmarsch“, Berlin 2012; Quelle: berliner-zeitung.de
Aber ist Männlichkeit nicht auch durch Souveränität und Selbstbeherrschung definiert? Durch die Vorstellung also, Männer würden, wie in der Odysseus-Sage, heldenhaft ihr Verlangen kontrollieren?
Ja, aber wir müssen hier auch die Frage der ‚Klasse’ und den Rassismus mitbedenken. Natürlich wurde und wird der bürgerliche weisse Mann als kontrolliert, souverän und zivilisiert gedacht, die Vorstellung vom Dampfkessel betrifft vor allem Männer aus der Arbeiterklasse oder nichtwestliche Männer. Der triebgesteuerte Schwarze oder heute der muslimische Vergewaltiger ist ein koloniales Bild.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, warum es in den USA in den 1970ern für Schwarze Frauen so schwer war, in der Anti-Rape-Bewegung mitzumachen.
Ja, weil die Anti-Rape-Bewegung eben mit massiv rassistischen Klischees über Schwarze Männer agierte, was teilweise bis zum Rechtfertigen von Lynchmorden ging. Schwarze Männer wurden von weissen Männern unter dem Vorwand gelynched, diese seien Vergewaltiger. Das ist ein schlimmes Kapitel der weissen Frauenbewegung. Und einige Elemente wiederholen sich teilweise. Etwa wenn Alice Schwarzer behauptet, dass 80 Prozent der Vergewaltigungen von Türken begangen werden und somit muslimische Männer die grösste Gefahr seien. Sie behauptet, das hätte ihr ein leitender Polizeibeamter unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt. Wer so etwas sagt, muss seine Quelle nennen, das kann man nicht machen! Alice Schwarzer argumentiert ähnlich wie die Feministin Susan Brownmiller in den 1970er Jahren: Brownmiller schaute sich Gerichtsakten an und sah: Vergewaltiger sind vor allem Schwarze Männer! Aus diesen Zahlen leitete sie ab, dass Schwarze Männer tatsächlich mehr vergewaltigen. Heute wissen wir: Man kann die angezeigten Delikte nicht zum Ausgangspunkt nehmen, weil zum Beispiel schwarze oder andere nicht weisse Männer eher angeklagt werden als weisse Männer.
Es gibt auch andere Feministinnen als Alice Schwarzer.
Ja, zum Glück. Ich denke, dass die aktuellen Frauenbewegungen sensibler sind. Der Women’s March in den USA hat einen zentralen Schwerpunkt auf Rassismus gelegt. Auch in Deutschland gibt es – vor allem im Zuge von Migration und Fluchtbewegungen – viele feministische Auseinandersetzungen um Rassismus.
Bekommen Sie den Vorwurf, das Problem zu verharmlosen? Dass wir ernstnehmen sollten, wenn wir mit den Geflüchteten eine grosse Gruppe von gewaltbereiten Männern ins Land lassen?
Den Vorwurf höre ich oft, aber er ist statistisch falsch. Geflüchtete oder Migranten vergewaltigen nicht mehr. Es ist komplexer. Sexualisierte Gewalt gibt es in allen Nationalitäten, in allen Schichten und Kulturen, und es gibt unzählige Gründe dafür, warum Menschen so etwas tun. Gleichwohl stimmt es natürlich, dass die Migrationsbewegung uns vor neue Herausforderungen stellt. Eine davon: es gibt jetzt relativ viele junge Männer im öffentlichen Raum, weil sie keine anderen Orte haben. Und es gibt viele kulturübergreifende Missverständnisse. Zum Beispiel, dass manche von diesen Männern offenbar denken, die Frauen in Deutschland seien alle sexuell freizügig. Ich denke, hier ist viel Aufklärung und Verständigung notwendig.
Der Psychologe Ahmad Mansour, der mit gewalttätigen muslimischen Jugendlichen arbeitet, ist der Meinung: Wir Muslime haben die Ehrenmorde, ihr Christen nicht, bei Euch sind das Einzelfälle.
Ich schätze Mansours Arbeit mit dem Projekt „Heroes“ sehr. Doch Mansour arbeitet mit Fällen, wo Brüder ihre Schwestern umbringen, weil sie einen Freund haben. Wenn du dir die extremen Fälle anschaust und daraus eine allgemeingültige Regel ableitest, finde ich das problematisch. Wenn ich mit rechten, nationalistischen deutschen Jugendlichen spreche, werde ich auch auf Erschreckendes stossen. Aber das heisst weder, dass alle Deutschen Nazis sind, noch dass „der Islam“ so frauenfeindlich ist. Trotzdem ist es wichtig, sich mit der Rolle von Religion bei diesen konkreten Jugendlichen auseinander zu setzen, wenn wir diesen konkreten Kids helfen wollen. Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen, wie Religion zurzeit dazu benutzt wird, um Menschen zu radikalisieren. Aber, und das ist die Erfahrung aus allen Präventionsprojekten, die ich kenne, die beste Prävention ist Integration und Dialog.
Was heisst das?
Wir müssen uns an einen Tisch setzen und fragen: Wie können wir unser aller problematische Geschlechtervorstellungen angehen? Ohne dieses dauernde: ihr und wir. Mehr im Sinne von: Was können wir voneinander lernen? Wo haben alle ihre Baustellen? Besonders die Medien sind in der Verantwortung: was skandalisieren sie auf welche Weise? Sobald ein Geflüchteter sexualisierte Gewalt ausübt, läuft das auf allen Kanälen, während wir über deutsche Täter wenig hören. Und auch nicht darüber, was deutsche Männer in anderen Ländern, zum Beispiel in asiatischen, so machen. Und wir hören kaum über die sexualisierte Gewalt, die Geflüchteten angetan wird. Dabei sind die statistisch viel häufiger davon betroffen.
Uns muss klar sein, dass es in Debatten über Geschlecht und Sexualität nie einfach um Geschlecht und Sexualität geht, sondern dass diese Themen politisch instrumentalisierbar sind. Im Diskurs über die „Sexualität der anderen“, „der Muslime“ usw. geht es auch darum, Grenzen zu ziehen, zu definieren, wer dazu gehört und wer nicht, wer zu „den Deutschen“ gehört, zu „den Europäern“, und wer nicht.
Mithu M. Sanyal, Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens, Hamburg: Edition Nautilus 2016.