Es ist Nacht und regnet in Strömen. In einem hochtechnisierten und zugleich schäbigen Los Angeles trifft im November 2019 eine frierende junge Frau auf den kauzigen Bastler J. F. Sebastian, der mit der Herstellung von Gehirnen zu tun hat. Er bietet der merkwürdig verschüchterten Schönen an, in seine Wohnung zu kommen, und man sieht die beiden durch die dunkeln, regennassen Flure eines weiträumigen Altbaus gehen, eine gehobene Mietskaserne aus den 1920er Jahren mit verblichenem Art Deco-Chic und löchrigem Dach. Als J. F. Sebastian die Tür zu seiner Wohnung öffnet, kommen ihm mechanische Puppen entgegen: ein napoleonischer Spielzeugsoldat mit langer Nase und ein als General aus dem 18. Jahrhundert verkleideter Teddybär, die ihn beide freudig mit blecherner Stimme begrüßen – „Home again, home again, jiggity jig. Goooood evening J.F.“ – zum offenbaren Erstaunen von Pris, seiner neuen Bekanntschaft. „They’re toys“, sagt J. F. Sebastian, „my friends are toys. I make them. It’s a hobby.“
Es sind nicht die einzigen: Die Wohnung in Ridley Scotts Film Blade Runner von 1982 erweist sich übervoll von Erfindungen und Gerätschaften, vor allem aber von puppenartigen mechanischen Wesen, die hier leben. Das passt ganz gut, denn Pris ist eine Replikantin. Das sind humanoide Roboter, die im Roman Do Androids Dream of Electric Sheep? von Philip K. Dick (1968), von dem die frei interpretierte Vorlage zum Film stammt, noch Androiden hießen. Der Drehbuchautor David Webb Peoples hat sie dann aber – angeregt von seiner Molekularbiologie studierenden Tochter – auf den Neologismus „replicants“ getauft. Der Film erzählt von sechs Replikanten, so genannte Nexus-6-Maschinen – später die Taufpaten für ein Smartphone, das Google für sein Android-Betriebssystem auf den Markt brachte. Genauer gesagt sind die Replikanten der 6. Generation Bio-Maschinen, die mit einer Lebenszeit von vier Jahren für Aufgaben in fernen Galaxien gebaut wurden. Sie kamen jedoch unerlaubt auf die Erde zurück, um dort für die Verlängerung ihres Lebens zu kämpfen. Sie sind stark, gefühllos und gefährlich, aber so menschenähnlich, dass sie nur mit einem sehr geübten Blick in ihre Augen oder mit einem ihre Augen abtastenden Spezialgerät als Maschinen zu identifizieren sind.
Schichten der Vergangenheit
Bei der Verfolgung der Nexus-6-Replikanten gerät der Blade Runner Rick Deckard – ein Polizist, der darauf spezialisiert ist, sie aufzuspüren und zu töten, und dabei möglicherweise selbst ein Replikant – in eine Welt, die für uns noch in der Zukunft liegt, in der aber die Vergangenheit wie in Schichten abgelagert ist. Alles ist alt an dieser Zukunft. Das zeigt sich von der ersten Einstellung an schon deutlich am Bild der Stadt, die im Dauerregen zu zerfallen droht, und deren Architektur vom 19. Jahrhundert bis in eine sich endlos repetierende, schäbige Moderne reicht.

Pris (Daryl Hannah), „Blade Runner“, 1982: Quelle: nydaylynews.com
Es zeigt sich aber auch an den Figuren selbst: Die frierende Replikantin Pris – „a basic pleasure model, the standard item for military clubs in the outer colonies“ – sieht aus wie eine Punkerin der späten 1970er Jahre; die rehäugige Rachael, eine Replikantin von noch avancierterem Typus, die über eigene „Erinnerungen“ verfügt und den Helden mit romantischer Klaviermusik von Chopin betört, erscheint im Outfit der 1930er. Die Figur des blonden Hünen Roy Batty hingegen spielt unverhohlen mit dem Cliché des DDR-Bösewichts, der in der Folge seinen Schöpfer, den schachspielenden mad scientist Tyrell, mit seinen kräftigen Händen umbringen wird, indem er dessen Augen eindrückt und den Schädel zerquetscht (dazu später mehr).
Besonders sprechend aber ist die Wohnung des Tüftlers J. F. Sebastian, der mit Gensequenzen ebenso behänd umzugehen weiß wie mit possierlichen Blechautomaten: Ridley Scott imaginiert dieses Appartement nicht etwa als einen Ort avancierter Modernität, sondern im Gegenteil als nostalgische Wunderkammer, in der schließlich auch der Blade Runner über Blech und Plüsch stolpert, um die zwischen den mechanischen Puppen versteckte Replikantin Pris zu suchen. Die Wunderkammer quillt über von rückwärtsgewandten, zeichenhaften Versatzstücken, wie sie nur einer alteuropäischen Phantasie entsprungen sein können. Von den beiden ratternden „Freunden“, die an Vaucansons Automaten aus dem 18. Jahrhundert erinnern, bis hin zu den Replikanten selbst sind all diese Figuren Evokationen jener anthropoiden Maschinen, die das 17. und 18. Jahrhundert dem 19. als Traum vererbt und dem 20. als Forschungsprogramm übergeben haben.

Die Wohnung von J.F. Sebastian; „Blade Runner“, 1982; Quelle: Pinterest.com
L’homme machine
Einen mechanischen Maschinenmenschen hatte im 17. Jahrhundert schon der Philosoph René Descartes als Denkmöglichkeit postuliert, und es ist kein Zufall, dass der Name des Blade Runner Rick Deckard sich wie die schlechtgelaunte bad cop-Variante des berühmten Franzosen anhört. Vor allem aber hatte 1748 der als viel zu materialistisch verfemte Aufklärer Julien Offray de La Mettrie sich ohne weitere philosophische Umschweife den „home machine“ ausgedacht – allerdings nicht, wie immer behauptet wird, als ratternden Blechautomaten, sondern als eine programmierbare biologische Maschine. Im 19. Jahrhundert war es der Physiologe und Psychologe Wilhelm Wundt, der 1862 festhielt: „Das letzte Ziel der Physiologie ist der Homunculus“ – das heißt die Erzeugung eines menschenähnlichen, ja menschengleichen biologischen Modellkörpers, an dem alle natürlichen Prozesse experimentell erzeugt und studiert werden könnten.
Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass Wundt diesen Wissenschaftstraum in einem Aufsatz mit dem Titel „Beschreibung eines künstlichen Augenmuskelsystems“ im Archiv für Ophthalmologie zu Papier brachte: Das Auge ist nicht nur im Film das Organ, das dem Blade Runner bei genauem Blick den Replikanten bzw. die Replikantin verrät (es sei denn, er verliebt sich in die Maschine); das Auge hat als optisch-mechanisches System auch seit dem 19. Jahrhundert die Physiologen zu Nachbauphantasien angeregt. Wundts Kollege Hermann von Helmholtz hatte der menschlichen Natur gar nachgewiesen, das Auge längst nicht so perfekt konstruiert zu haben, wie das eigentlich möglich gewesen wäre. Mit anderen Worten: Der Traum vom perfekten Menschen als einer biomechanischen Maschine geisterte schon früh nicht nur durch die Philosophie, sondern dann vor allem durch die physiologische und später die genetische Forschung.
Aber warum wurden die Nexus-6-Maschinen denn so gefährlich, wenn sie doch perfekter konstruiert waren als jeder Mensch? Wie gesagt: Sie kämpften für die Verlängerung ihres Lebens, sie kämpften um „more life“ – das war ihr einziges Begehren. Die Frage des „Lebens“, das Geheimnis des „Lebens“, ja der Herstellung von „Leben“ beherrschte seit dem 18. Jahrhundert, als sich „Mechanisten“ und „Vitalisten“ gegenüberstanden, ebenso die philosophische Spekulation wie auch die wissenschaftliche Forschung. Ist das Leben etwas, was auf die Funktionsprinzipien einer ganz und gar weltlichen, letztlich cartesianischen Maschine zurückgeführt und daher auch konstruiert werden kann? Oder ist das Leben eine durch Wissenschaft nie einholbare „Kraft“, gar ein göttlicher Funke…? Die Frage ist bekanntlich bis heute nicht entschieden. Im November 2019 scheint aber doch schon klar, dass die Tyrell Corp. über das Geheimnis des Lebens – verstanden als vollständig entschlüsselte DNA – verfügt, und die entsprechend gebauten Maschinen daher nur im gigantischen, tempelartigen Hauptquartier des kalifornischen Biotech-Konzerns ihre lebensverlängernde Umprogrammierung einfordern können: längeres, wirkliches Leben.
Bei der Tyrell Corp. arbeitet, wie erwähnt, auch J.F. Sebastian. J.F. ist ein Bastler, ein amateur des sciences, wie man im ‚populärwissenschaftsverrückten‘ 19. Jahrhundert gesagt hatte, und üblicherweise haben Bastler, Amateure und Populärwissenschaftler in Forschungslabors nichts zu suchen, sondern bleiben außen vor und sind bloß staunende Laien. Anders aber in Kalifornien. Nicht nur im Film hat der Bastler Sebastian zusammen mit Firmenchef Tyrell erfolgreich Gehirne programmiert. Auch in der Wirklichkeit der kalifornischen Tech-Kultur seit den 1970er Jahren waren die Grenzen zwischen Amateuren und Konzernen, zwischen wissenschaftlichen Großprojekten und Garagen-Bastlern ausgesprochen fließend, ja durchlässig. Denn hey, vielleicht hatte ja ein schräger Junge aus einer syrischen Flüchtlingsfamilie den Riecher für das nächste große Ding…?
Denkende Maschinen
Roy Batty jedenfalls will deshalb im Hauptquartier der Tyrell Corp. das Geheimnis des wirklichen Lebens ebenso dem Bastler J.F. Sebastian wie auch dem mad scientist Tyrell entreißen. Es ist nicht ohne Ironie, wenn der Replikant Batty seinem Schöpfer Tyrell gegenübertritt und diesem ins Gesicht sagt: „I want more life, fucker“, Tyrell aber ungerührt antwortet: „The facts of life. To make an alteration in the evolvement of an organic life-system is fatal. The coding sequence cannot be revised once it’s been established.“ Was tut der mad scientist, wenn er von seinen Schöpfungen bedroht wird? Er bricht die Diskussion mit der Bemerkung ab, dies alles sei ziemlich „academic“ und beruft sich aufs Naturgesetz, von dem die amateures des sciences dann doch nicht so viel verstehen. Roy Batty aber ist kein staunender Laie, sondern eine hochgebildete Maschine, die sich nur dem „god of biomechanics“ verpflichtet fühlt. Er diskutiert mit seinem Schöpfer biochemische Details, bis er schließlich Tyrells geniales Gehirn zerquetscht. Die Maschinen können ziemlich unangenehm werden, wenn sie zu klug sind.

Rick Deckard (Harrison Ford), „Blade Runner“, 1982; Quelle: Warner Los Angeles
Aber nicht nur das. Der als Polizist verkleidete Philosoph René „Rick“ Deckard, der beharrlich an die Gesetze der Mechanik glaubte und sein eigenes reales Leben nur knapp noch in der Selbstbeobachtung begründen konnte, dass er ja offensichtlich gerade denke, verdankt am Schluss sein Leben ausgerechnet der Humanität der denkenden Maschine Roy Batty. Doch handelt es sich bei Batty am Ende noch um eine Maschine? Kurz bevor seine vierjährige Lebenszeit endet, bewahrt er den nach dem finalen Kampf an der Dachkante eines Wolkenkratzers hängenden Polizisten Deckard durch einen spontanen Akt von Mitleid vor dem Sturz in die Tiefe – und akzeptiert gelassen seinen eigenen unausweichlich frühen Tod.
Im November 2019 haben sich, mit anderen Worten, die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verwischt. Während Deckard im unklaren – und durch nachgereichte Fassungen des Films weiter verunklarten – Schluss mit der schönen Replikantin Rachael das Weite sucht, rätseln wir seither nicht nur, ob Deckard nicht doch selbst ein Replikant ist. Wir stellen uns vielmehr noch weitergehende Fragen, wie etwa diejenige nach dem Blick ins Auge, die wir nicht mehr wie etwa Humphrey Bogart in Casablanca handhaben können: Braucht es, so fragen wir uns (allerdings nur noch rhetorisch) für den Iris-Scan denn nicht grundsätzlich eine Maschine? Sind es wirklich Menschen und nicht vielmehr Roboter, die uns „in die Augen schauen“, wenn es darum geht herauszufinden, wer wir wirklich sind? Und natürlich fragen wir uns auch, wohin das noch führen wird, wenn zunehmend Maschinen mit uns sprechen, die ziemlich erfolgreich so tun, als wären sie Menschen. Wir haben längst verstanden, dass der Traum vom „programmierten“ Gehirn und dem bis hin zur Konstruktion von „Menschen“ beherrschbaren genetischen Code wohl in erster Linie jene alte, nicht enden wollende, aber dabei auch nicht wirklich erfolgreiche Wissenschaftlerfantasie des 19. Jahrhunderts bleiben wird, während wir doch schon von Algorithmen umgeben sind, die keinen Körper brauchen, um uns glauben zu machen, dass sie Menschen seien. Eine sanfte Stimme, ein hübsches Bild, gegebenenfalls auch ein wenig romantische Klaviermusik reichen jedenfalls, damit wir uns in den neuen Städten der social media, wo es nie regnet, in ihrer Gesellschaft wohlfühlen.