Das Brandenburger Tor sei zerstört worden, konnte man in den letzten Wochen vermehrt in den Sozialen Medien lesen, nachdem Aktivist*innen der Letzten Generation das Bauwerk mit orangener Farbe besprüht hatten. Diese ist nun offenbar tief in den offenporigen Sandstein eingedrungen und nur schwer zu entfernen. Ob es das Ziel der Gruppe war, den Anblick des Berliner Wahrzeichens dauerhaft zu verändern oder nicht, ist nicht bekannt. Die Letzte Generation erklärte lediglich, bei der Aktion handele es sich um einen Teil des von ihnen so genannten Wendepunktes, und für Wendepunkte stünde auch das Brandenburger Tor.
Man kann in unterschiedlicher Weise auf diese Aktion blicken und sie dementsprechend bewerten, man kann zum Beispiel – und nicht ganz unberechtigt – von „Beschädigung“ sprechen, wie viele Kommentator*innen und Politiker*innen es tun. Die Aussagen der Letzten Generation legen nahe, dass sie eine Umdeutung im Sinn hatten. Die Farbe Orange ist die Signalfarbe der Gruppierung und steht stellvertretend für die Anliegen, die sie vertritt. Man könnte das Besprühen dieses historischen Symbols somit auch dahingehend verstehen, dass das Brandenburger Tor nun nach 1945 und 1990 wieder für einen Wendepunkt stehen soll – einen Wendepunkt in der Klimapolitik. Aus der Perspektive dieser erneuten Umdeutung betrachtet, könnte man die Aktion der Letzten Generation als eine radikale Variante des Anti-Monumentalismus beschreiben. Der Begriff geht auf den US-amerikanischen Sprachwissenschaftler und Erinnerungsforscher James E. Young zurück und bezeichnet eine Form der Erinnerung, die sich gegen monumentale Denkmäler richtet, die den öffentlichen Raum narrativ bestimmen. Oft handelt es sich bei anti-monumentalen Denkmälern um Bauwerke, die Betrachter*innen herausfordern und irritieren, anstatt sie lediglich an das Erinnern zu gemahnen. Die Künstler*innen Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz errichteten beispielsweise 1986 in Hamburg-Harburg eine schwarze Säule als Mahnmal gegen den Faschismus. Die Bürger*innen waren aufgefordert, ihre Namen auf der Säule zu hinterlassen, je mehr Namen sich darauf fanden, desto weiter wurde sie im Boden versenkt, bis sie schließlich verschwunden war. Am Ende blieb eine leere Stelle, denn – so die Künstler*innen – nur die Menschen selbst könnten sich dauerhaft gegen Faschismus auflehnen.
Der Anti-Monumentalismus versteht sich somit unter anderem als Aufruf zur aktiven Auseinandersetzung. Anti-monumentale Werke haben häufig einen disruptiven Effekt, ihre Intention ist das Störmanöver im etablierten Umgang mit Erinnerungssymbolen. Die Bestimmung des inoffiziellen deutschen Nationaldenkmals zum Mahnmal an den Klimaschutz durch die Letzte Generation könnte als ein ebensolcher Bruch mit der Erzählung einer historischen Kontinuität gelesen werden.
Auf ähnliche Weise lassen sich auch die Blockaden von Autobahnen deuten, für die die Letzte Generation bekannt geworden ist. Zwar blockieren sie dadurch in erster Linie den alltäglichen Straßenverkehr, aber sie stören zudem ein Symbol des deutschen Selbstverständnisses: die Individualmobilität in Form des Autos und die Autobahn mit ihrer „Freien Fahrt für freie Bürger“. Schon die erste Verwendung dieses Slogans durch die FDP während der Ölkrise 1973/74 richtete sich gegen ein versuchsweise eingeführtes Tempolimit von 100km/h auf deutschen Autobahnen. Das Stören dieser symbolträchtigen freien Fahrt in Verbindung mit den Schildern, die vor der Klimakatastrophe warnen, ist somit das Aufbrechen der Idee von einem alltäglichen Weiter-So, nicht zuletzt in Deutschland. Der öffentliche Raum, in diesem Fall die Straße, wird auch hier umgedeutet.
Beide Varianten spielen mit einer Form des Verlusts. Das Deutschland der Gegenwart, das sich als moderne, fortschrittliche Größe im Herzen Europas versteht, dargestellt durch das Brandenburger Tor, und die Effizienz und die wirtschaftliche Stärke des Landes, dargestellt durch das Auto und die Autobahn, müssen in ihrer ursprünglichen Form weichen, um den Weg freizumachen für ein Land und eine Gesellschaft, die den Klimaschutz ernst nimmt.
Gedenken als Veränderung und Verzicht
Dass ausgerechnet die Autobahn und das Brandenburger Tor auf diese Weise umgedeutet werden, ist nicht weiter verwunderlich. Ihre Symbolkraft hat sie bereits mehrfach zu Objekten öffentlicher Wahrnehmungsdebatten gemacht – unter anderem im Architekturwettbewerb, der der Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, das seit 2005 in Berlin steht, vorausging. Auch weil James E. Young Teil der Findungskommission war, steht das Konzept des Anti-Momumentalismus in direkter Verbindung zu dieser schwierigen Suche nach einem angemessenen Gedenkort, die schließlich mit der Entscheidung für den Entwurf von Peter Eisenman endete. Ruft man sich einige der abgelehnten Entwürfe in Erinnerung, wird klar, dass Autobahn und Brandenburger Tor mit den Aktionen der Letzten Generation sogar noch ziemlich geschont werden. Im Sinne einer angemessenen Erinnerung an den Völkermord der Deutschen an den Juden gab es tatsächlich den Vorschlag einer dauerhaften Verlangsamung des Verkehrs und einer Zerstörung des Brandenburger Tores.
Im Wettbewerb zur Findung des Denkmals reichten die beiden Künstler Rudolph Herz und Reinhardt Matz einen Entwurf ein, der vorsah, den Autobahnkilometer 334 der A7 bei Kassel in beiden Richtungen auf Tempo 30 zu begrenzen und mit Kopfsteinpflaster zu versehen. Ein unübersehbares Schild über der Straße sollte den Schriftzug „Mahnmal für die ermordeten Juden Europas“ tragen. An einer Raststätte am Ende des Kilometers war ein Informationshaus geplant. Das Konzept lieferte zahlreiche Ansätze zur kontroversen Diskussion – angefangen bei der Auseinandersetzung um Tempolimits bis hin zur historischen Verbindung der Autobahnen mit dem Nationalsozialismus.
Ähnlich kontrovers erscheint der Entwurf von Horst Hoheisel. Er schlug vor, das Brandenburger Tor zu Staub zu zermahlen und diesen Staub auf dem für das Denkmal vorgesehene Feld zu verteilen. Das Symbol – wie er sagte – für historische Kontinuität und ungebrochene deutsche Identität sollte der Erinnerung an das größte Verbrechen der deutschen Geschichte geopfert werden als Zeichen für eine gebrochene deutsche Identität seit der Shoah.
Beide Entwürfe beziehen sich nicht nur auf die Erinnerung an den Mord an über sechs Millionen jüdischen Menschen, sondern sie fordern gleichzeitig dazu auf, dafür auf Teile der modernen deutschen Identität zu verzichten. Die Radikalität der Vorschläge schloss sie im Kontext des offiziellen und repräsentativen Vorhabens eines staatlichen Erinnerns beinahe von Beginn an aus. Doch auch in ihrer Nichtumsetzung bieten sie einen Raum, um Denkprozesse in Gang zu setzen, wie wir als Gesellschaft erinnern und wie wir mit Erinnerung und Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum umgehen wollen. Sie zeigen zudem, dass eine radikale Form der öffentlichen Bewusstmachung zumindest denkbar ist. Und sie weisen darauf hin, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit drängenden Fragen und Themen auch mit Veränderung und Verzicht zu tun haben kann – gerade darin zeigen sich Denkanstöße für den Umgang mit der Klimakrise.
Das Erinnern von Prozessen
Die diskursive und kollektive Erinnerung an Ereignisse der Vergangenheit ist aber in vielen Fällen ein fast ritueller Prozess. Das Ereignis wird historisiert und die Auseinandersetzung damit hat im Idealfall einen relevanten Einfluss auf die Gegenwart, kollektiv aber ist das Geschehen als Geschichte verbucht. Wer einmal durch eine beliebige Hauptstadt gelaufen ist, kommt an der stein- oder auch glasgewordenen Erinnerung kaum vorbei. Besonders eindrücklich erfährt man das auf der National Mall in Washington D.C. Dort stehen die unterschiedlichsten Formen eines öffentlichen Gedenkens in nächster Nähe zueinander, vom monumentalen Lincoln Memorial im Stil des Greek Revival bis hin zum anti-monumentalistischen Denkmal für die Veteranen des Vietnamkrieges. Die zahlreichen Erinnerungsorte auf der Mall sind auch Ausweis dafür, dass ein solches öffentliches Gedenken stets ein Narrativ vermittelt und eine kollektive Perspektive auf das jeweilige Ereignis oder die erinnerte Person einnimmt, die nicht neutral ist.
So komplex und schwierig die Findung und Entstehung solcher Erinnerungsorte sein kann – die langwierige Suche nach dem Denkmal in Berlin ist ein eindrückliches Beispiel –, so etabliert ist dieser Ablauf an sich. Im Idealfall schließen die Denk- und Mahnmäler die Erinnerung jedoch nicht ab, sondern halten sie in Form einer steten Auseinandersetzung wach. Diese Unabschließbarkeit gehört zur Idee anti-monumentalistischer Erinnerungsorte.
Die Klimakrise stellt uns aber vor eine Herausforderung unbekannter Art, der wir nicht mit den geläufigen erinnerungspolitischen Ritualen begegnen können, allein schon, weil sie in vollem Gange ist und ihre volle Kraft noch nicht einmal erreicht hat. Es handelt sich nicht um ein Ereignis, sondern um einen Prozess, der potenziell Jahrhunderte dauert und der je nach Verlauf in menschheitsgeschichtlich sehr kurzer Zeit jede kollektive Erinnerung unmöglich machen könnte. Wir sehen uns mit einer Katastrophe konfrontiert, an die wir uns erinnern müssen, während sie geschieht, um das Schlimmste zu verhindern. Gesellschaftlich und politisch sind wir diese Form des Umgangs mit schrecklichen Ereignissen – ob von Menschen begangen oder durch die Natur ausgelöst – nicht gewohnt. Wir haben kein Drehbuch für diese Art der Erinnerung. Wir kennen das Erinnern an Vergangenes, das unser Handeln der Gegenwart beeinflussen soll. Die Debatten um das Denkmal an die Ermordung der Juden und das in diesem Gedenken nachhallende „Nie wieder!“ sind solche Formen der Erinnerung. Auch das Vietnam Veterans Memorial in Washington hat durch seinen zurückhaltenden, fast leisen Ausdruck eine vergleichbare Funktion, indem es eine Auseinandersetzung wachhalten soll.
Doch auch wenn der Diskurs über diese Geschichte von Krieg und Vernichtung nicht abgeschlossen ist, liegt das zugrundeliegende Geschehen in der Vergangenheit. Davon kann bei der Klimakatastrophe keine Rede sein. Jährlich kommt es inzwischen beinahe weltweit zu Toten, Verletzten und Obdachlosen durch die Folgen der gefährlichen Klimaveränderungen. Diese Entwicklung wird bis zu einem noch unbekannten Ausmaß zunehmen. Wir können der Opfer erinnern und ihnen gedenken, wir können ihnen auch Denkmäler errichten, aber das muss in einer Form geschehen, die anerkennt und deutlich macht, dass es sich dabei nicht um Opfer eines vergangenen Ereignisses handelt, sondern eines Prozesses, der sich immer weiter entfaltet und auf den wir einen signifikanten Einfluss haben. Es muss sich um ein utopisches Erinnern handeln, im Sinne einer positiven Zukunftsvision. So könnte man eine Form der Erinnerung bezeichnen, die das erinnerte Ereignis begleitet und dadurch positiven Einfluss auf seinen weiteren Verlauf nehmen will.
Störung des Status Quo
Man kann die Aktionen der Letzten Generation grundsätzlich als ein solches utopisches Erinnern bezeichnen. Die Färbung des Brandenburger Tors im Zeichen der Klimabewegung macht aus dem Bauwerk sein eigenes Gegendenkmal. Als solches verweist es darauf, dass die fortschreitende Klimakatastrophe durch die Folgen für die Umwelt auch politische und soziale Konsequenzen haben würde: Menschen müssen fliehen, soziale Spannungen steigen und die Kämpfe um knappe Ressourcen nehmen zu.
Ein utopisches Erinnern ist in dieser Hinsicht auch ein prozessuales Erinnern, das sich viel stärker in Aktionen und einem Handeln ausdrückt als in Bauwerken, auch wenn durchaus anti-monumentalistische Denkmäler Teil davon sein können. Ein utopisches Erinnern muss zudem bestehende Denkmäler, deren Symbolik in Zweifel gezogen oder diskutiert werden kann, in Frage stellen und potenziell umdeuten. Das inhärente Problem dieses Gedenkens an einen gegenwärtigen und zukünftigen Prozess besteht offensichtlich darin, dass utopische Erinnerung eine Veränderung fordern muss. Damit ist utopisches Erinnern immer auch eine Störung des Status quo. Deswegen vollzieht es sich aktuell auch außerhalb politisch und teilweise gesellschaftlich gewollter Muster in Form von zivilem Widerstand. Solange sich von politischer Seite aus kein konsequenter Wille zeigt, das umzusetzen, was nötig ist, muss Erinnern auf diese Weise geschehen. Wünschenswert wäre aber ein Zustand, in dem ein gemeinsames und politisch gewolltes utopisches Erinnern möglich wäre, das die Klimakatastrophe begleitet und durch aktives Handeln dazu beiträgt, sie so weit abzuschwächen wie möglich. Ohne eine Störung des derzeitigen Alltags ist dieses Erinnern aber nicht zu haben, ebenso wenig wie ein wirksames Vorgehen gegen die Klimakatastrophe.
Das ist eine sehr interessante Perspektive, die im öffentlichen Diskurs bislang fehlt.