Die Proteste der Letzten Generation sind disruptiv und störend. Ihre Mittel erinnern an Praktiken des Anti-Monumentalismus, der Erinnern als fortdauernde Auseinandersetzung denkt. Aber lässt sich so auch Zukunft erinnern?

  • Simon Sahner

    Simon Sahner ist freier Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler und Mitherausgeber des feuilletonistischen Online-Magazins 54books. 2023 erschien sein Buch Beim Lösen der Knoten - Nachdenken über Krebs. Gerade arbeitet er mit dem Ökonomen Daniel Stähr an einem Sachbuch. Simon Sahner lebt in Freiburg.

Das Bran­den­burger Tor sei zerstört worden, konnte man in den letzten Wochen vermehrt in den Sozialen Medien lesen, nachdem Aktivist*innen der Letzten Gene­ra­tion das Bauwerk mit oran­gener Farbe besprüht hatten. Diese ist nun offenbar tief in den offen­po­rigen Sand­stein einge­drungen und nur schwer zu entfernen. Ob es das Ziel der Gruppe war, den Anblick des Berliner Wahr­zei­chens dauer­haft zu verän­dern oder nicht, ist nicht bekannt. Die Letzte Gene­ra­tion erklärte ledig­lich, bei der Aktion handele es sich um einen Teil des von ihnen so genannten Wende­punktes, und für Wende­punkte stünde auch das Bran­den­burger Tor.

Man kann in unter­schied­li­cher Weise auf diese Aktion blicken und sie dementspre­chend bewerten, man kann zum Beispiel – und nicht ganz unbe­rech­tigt – von „Beschä­di­gung“ spre­chen, wie viele Kommentator*innen und Politiker*innen es tun. Die Aussagen der Letzten Gene­ra­tion legen nahe, dass sie eine Umdeu­tung im Sinn hatten. Die Farbe Orange ist die Signal­farbe der Grup­pie­rung und steht stell­ver­tre­tend für die Anliegen, die sie vertritt. Man könnte das Besprühen dieses histo­ri­schen Symbols somit auch dahin­ge­hend verstehen, dass das Bran­den­burger Tor nun nach 1945 und 1990 wieder für einen Wende­punkt stehen soll – einen Wende­punkt in der Klima­po­litik. Aus der Perspek­tive dieser erneuten Umdeu­tung betrachtet, könnte man die Aktion der Letzten Gene­ra­tion als eine radi­kale Vari­ante des Anti-Monumentalismus beschreiben. Der Begriff geht auf den US-amerikanischen Sprach­wis­sen­schaftler und Erin­ne­rungs­for­scher James E. Young zurück und bezeichnet eine Form der Erin­ne­rung, die sich gegen monu­men­tale Denk­mäler richtet, die den öffent­li­chen Raum narrativ bestimmen. Oft handelt es sich bei anti-monumentalen Denk­mä­lern um Bauwerke, die Betrachter*innen heraus­for­dern und irri­tieren, anstatt sie ledig­lich an das Erin­nern zu gemahnen. Die Künstler*innen Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz errich­teten beispiels­weise 1986 in Hamburg-Harburg eine schwarze Säule als Mahnmal gegen den Faschismus. Die Bürger*innen waren aufge­for­dert, ihre Namen auf der Säule zu hinter­lassen, je mehr Namen sich darauf fanden, desto weiter wurde sie im Boden versenkt, bis sie schließ­lich verschwunden war. Am Ende blieb eine leere Stelle, denn – so die Künstler*innen – nur die Menschen selbst könnten sich dauer­haft gegen Faschismus auflehnen.

Der Anti-Monumentalismus versteht sich somit unter anderem als Aufruf zur aktiven Ausein­an­der­set­zung. Anti-monumentale Werke haben häufig einen disrup­tiven Effekt, ihre Inten­tion ist das Stör­ma­növer im etablierten Umgang mit Erin­ne­rungs­sym­bolen. Die Bestim­mung des inof­fi­zi­ellen deut­schen Natio­nal­denk­mals zum Mahnmal an den Klima­schutz durch die Letzte Gene­ra­tion könnte als ein eben­sol­cher Bruch mit der Erzäh­lung einer histo­ri­schen Konti­nuität gelesen werden.

Auf ähnliche Weise lassen sich auch die Blockaden von Auto­bahnen deuten, für die die Letzte Gene­ra­tion bekannt geworden ist. Zwar blockieren sie dadurch in erster Linie den alltäg­li­chen Stra­ßen­ver­kehr, aber sie stören zudem ein Symbol des deut­schen Selbst­ver­ständ­nisses: die Indi­vi­du­al­mo­bi­lität in Form des Autos und die Auto­bahn mit ihrer „Freien Fahrt für freie Bürger“. Schon die erste Verwen­dung dieses Slogans durch die FDP während der Ölkrise 1973/74 rich­tete sich gegen ein versuchs­weise einge­führtes Tempo­limit von 100km/h auf deut­schen Auto­bahnen. Das Stören dieser symbol­träch­tigen freien Fahrt in Verbin­dung mit den Schil­dern, die vor der Klima­ka­ta­strophe warnen, ist somit das Aufbre­chen der Idee von einem alltäg­li­chen Weiter-So, nicht zuletzt in Deutsch­land. Der öffent­liche Raum, in diesem Fall die Straße, wird auch hier umgedeutet.

Beide Vari­anten spielen mit einer Form des Verlusts. Das Deutsch­land der Gegen­wart, das sich als moderne, fort­schritt­liche Größe im Herzen Europas versteht, darge­stellt durch das Bran­den­burger Tor, und die Effi­zienz und die wirt­schaft­liche Stärke des Landes, darge­stellt durch das Auto und die Auto­bahn, müssen in ihrer ursprüng­li­chen Form weichen, um den Weg frei­zu­ma­chen für ein Land und eine Gesell­schaft, die den Klima­schutz ernst nimmt.

Gedenken als Verän­de­rung und Verzicht

Dass ausge­rechnet die Auto­bahn und das Bran­den­burger Tor auf diese Weise umge­deutet werden, ist nicht weiter verwun­der­lich. Ihre Symbol­kraft hat sie bereits mehr­fach zu Objekten öffent­li­cher Wahr­neh­mungs­de­batten gemacht – unter anderem im Archi­tek­tur­wett­be­werb, der der Errich­tung des Denk­mals für die ermor­deten Juden Europas, das seit 2005 in Berlin steht, voraus­ging. Auch weil James E. Young Teil der Findungs­kom­mis­sion war, steht das Konzept des Anti-Momumentalismus in direkter Verbin­dung zu dieser schwie­rigen Suche nach einem ange­mes­senen Gedenkort, die schließ­lich mit der Entschei­dung für den Entwurf von Peter Eisenman endete. Ruft man sich einige der abge­lehnten Entwürfe in Erin­ne­rung, wird klar, dass Auto­bahn und Bran­den­burger Tor mit den Aktionen der Letzten Gene­ra­tion sogar noch ziem­lich geschont werden. Im Sinne einer ange­mes­senen Erin­ne­rung an den Völker­mord der Deut­schen an den Juden gab es tatsäch­lich den Vorschlag einer dauer­haften Verlang­sa­mung des Verkehrs und einer Zerstö­rung des Bran­den­burger Tores.

Im Wett­be­werb zur Findung des Denk­mals reichten die beiden Künstler Rudolph Herz und Rein­hardt Matz einen Entwurf ein, der vorsah, den Auto­bahn­ki­lo­meter 334 der A7 bei Kassel in beiden Rich­tungen auf Tempo 30 zu begrenzen und mit Kopf­stein­pflaster zu versehen. Ein unüber­seh­bares Schild über der Straße sollte den Schriftzug „Mahnmal für die ermor­deten Juden Europas“ tragen. An einer Rast­stätte am Ende des Kilo­me­ters war ein Infor­ma­ti­ons­haus geplant. Das Konzept lieferte zahl­reiche Ansätze zur kontro­versen Diskus­sion – ange­fangen bei der Ausein­an­der­set­zung um Tempo­li­mits bis hin zur histo­ri­schen Verbin­dung der Auto­bahnen mit dem Nationalsozialismus.

Ähnlich kontro­vers erscheint der Entwurf von Horst Hoheisel. Er schlug vor, das Bran­den­burger Tor zu Staub zu zermahlen und diesen Staub auf dem für das Denkmal vorge­se­hene Feld zu verteilen. Das Symbol – wie er sagte – für histo­ri­sche Konti­nuität und unge­bro­chene deut­sche Iden­tität sollte der Erin­ne­rung an das größte Verbre­chen der deut­schen Geschichte geop­fert werden als Zeichen für eine gebro­chene deut­sche Iden­tität seit der Shoah.

Beide Entwürfe beziehen sich nicht nur auf die Erin­ne­rung an den Mord an über sechs Millionen jüdi­schen Menschen, sondern sie fordern gleich­zeitig dazu auf, dafür auf Teile der modernen deut­schen Iden­tität zu verzichten. Die Radi­ka­lität der Vorschläge schloss sie im Kontext des offi­zi­ellen und reprä­sen­ta­tiven Vorha­bens eines staat­li­chen Erin­nerns beinahe von Beginn an aus. Doch auch in ihrer Nicht­um­set­zung bieten sie einen Raum, um Denk­pro­zesse in Gang zu setzen, wie wir als Gesell­schaft erin­nern und wie wir mit Erin­ne­rung und Aufmerk­sam­keit im öffent­li­chen Raum umgehen wollen. Sie zeigen zudem, dass eine radi­kale Form der öffent­li­chen Bewusst­ma­chung zumin­dest denkbar ist. Und sie weisen darauf hin, dass eine ernst­hafte Ausein­an­der­set­zung mit drän­genden Fragen und Themen auch mit Verän­de­rung und Verzicht zu tun haben kann – gerade darin zeigen sich Denk­an­stöße für den Umgang mit der Klimakrise.

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Das Erin­nern von Prozessen 

Die diskur­sive und kollek­tive Erin­ne­rung an Ereig­nisse der Vergan­gen­heit ist aber in vielen Fällen ein fast ritu­eller Prozess. Das Ereignis wird histo­ri­siert und die Ausein­an­der­set­zung damit hat im Ideal­fall einen rele­vanten Einfluss auf die Gegen­wart, kollektiv aber ist das Geschehen als Geschichte verbucht. Wer einmal durch eine belie­bige Haupt­stadt gelaufen ist, kommt an der stein- oder auch glas­ge­wor­denen Erin­ne­rung kaum vorbei. Beson­ders eindrück­lich erfährt man das auf der National Mall in Washington D.C. Dort stehen die unter­schied­lichsten Formen eines öffent­li­chen Geden­kens in nächster Nähe zuein­ander, vom monu­men­talen Lincoln Memo­rial im Stil des Greek Revival bis hin zum anti-monumentalistischen Denkmal für die Vete­ranen des Viet­nam­krieges. Die zahl­rei­chen Erin­ne­rungs­orte auf der Mall sind auch Ausweis dafür, dass ein solches öffent­li­ches Gedenken stets ein Narrativ vermit­telt und eine kollek­tive Perspek­tive auf das jewei­lige Ereignis oder die erin­nerte Person einnimmt, die nicht neutral ist.

So komplex und schwierig die Findung und Entste­hung solcher Erin­ne­rungs­orte sein kann – die lang­wie­rige Suche nach dem Denkmal in Berlin ist ein eindrück­li­ches Beispiel –, so etabliert ist dieser Ablauf an sich. Im Ideal­fall schließen die Denk- und Mahn­mäler die Erin­ne­rung jedoch nicht ab, sondern halten sie in Form einer steten Ausein­an­der­set­zung wach. Diese Unab­schließ­bar­keit gehört zur Idee anti-monumentalistischer Erinnerungsorte.

Die Klima­krise stellt uns aber vor eine Heraus­for­de­rung unbe­kannter Art, der wir nicht mit den geläu­figen erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Ritualen begegnen können, allein schon, weil sie in vollem Gange ist und ihre volle Kraft noch nicht einmal erreicht hat. Es handelt sich nicht um ein Ereignis, sondern um einen Prozess, der poten­ziell Jahr­hun­derte dauert und der je nach Verlauf in mensch­heits­ge­schicht­lich sehr kurzer Zeit jede kollek­tive Erin­ne­rung unmög­lich machen könnte. Wir sehen uns mit einer Kata­strophe konfron­tiert, an die wir uns erin­nern müssen, während sie geschieht, um das Schlimmste zu verhin­dern. Gesell­schaft­lich und poli­tisch sind wir diese Form des Umgangs mit schreck­li­chen Ereig­nissen – ob von Menschen begangen oder durch die Natur ausge­löst – nicht gewohnt. Wir haben kein Dreh­buch für diese Art der Erin­ne­rung. Wir kennen das Erin­nern an Vergan­genes, das unser Handeln der Gegen­wart beein­flussen soll. Die Debatten um das Denkmal an die Ermor­dung der Juden und das in diesem Gedenken nach­hal­lende „Nie wieder!“ sind solche Formen der Erin­ne­rung. Auch das Vietnam Veterans Memo­rial in Washington hat durch seinen zurück­hal­tenden, fast leisen Ausdruck eine vergleich­bare Funk­tion, indem es eine Ausein­an­der­set­zung wach­halten soll.

Doch auch wenn der Diskurs über diese Geschichte von Krieg und Vernich­tung nicht abge­schlossen ist, liegt das zugrun­de­lie­gende Geschehen in der Vergan­gen­heit. Davon kann bei der Klima­ka­ta­strophe keine Rede sein. Jähr­lich kommt es inzwi­schen beinahe welt­weit zu Toten, Verletzten und Obdach­losen durch die Folgen der gefähr­li­chen Klima­ver­än­de­rungen. Diese Entwick­lung wird bis zu einem noch unbe­kannten Ausmaß zunehmen. Wir können der Opfer erin­nern und ihnen gedenken, wir können ihnen auch Denk­mäler errichten, aber das muss in einer Form geschehen, die aner­kennt und deut­lich macht, dass es sich dabei nicht um Opfer eines vergan­genen Ereig­nisses handelt, sondern eines Prozesses, der sich immer weiter entfaltet und auf den wir einen signi­fi­kanten Einfluss haben. Es muss sich um ein utopi­sches Erin­nern handeln, im Sinne einer posi­tiven Zukunfts­vi­sion. So könnte man eine Form der Erin­ne­rung bezeichnen, die das erin­nerte Ereignis begleitet und dadurch posi­tiven Einfluss auf seinen weiteren Verlauf nehmen will.

Störung des Status Quo

Man kann die Aktionen der Letzten Gene­ra­tion grund­sätz­lich als ein solches utopi­sches Erin­nern bezeichnen. Die Färbung des Bran­den­burger Tors im Zeichen der Klima­be­we­gung macht aus dem Bauwerk sein eigenes Gegen­denkmal. Als solches verweist es darauf, dass die fort­schrei­tende Klima­ka­ta­strophe durch die Folgen für die Umwelt auch poli­ti­sche und soziale Konse­quenzen haben würde: Menschen müssen fliehen, soziale Span­nungen steigen und die Kämpfe um knappe Ressourcen nehmen zu.

Ein utopi­sches Erin­nern ist in dieser Hinsicht auch ein prozes­suales Erin­nern, das sich viel stärker in Aktionen und einem Handeln ausdrückt als in Bauwerken, auch wenn durchaus anti-monumentalistische Denk­mäler Teil davon sein können. Ein utopi­sches Erin­nern muss zudem bestehende Denk­mäler, deren Symbolik in Zweifel gezogen oder disku­tiert werden kann, in Frage stellen und poten­ziell umdeuten. Das inhä­rente Problem dieses Geden­kens an einen gegen­wär­tigen und zukünf­tigen Prozess besteht offen­sicht­lich darin, dass utopi­sche Erin­ne­rung eine Verän­de­rung fordern muss. Damit ist utopi­sches Erin­nern immer auch eine Störung des Status quo. Deswegen voll­zieht es sich aktuell auch außer­halb poli­tisch und teil­weise gesell­schaft­lich gewollter Muster in Form von zivilem Wider­stand. Solange sich von poli­ti­scher Seite aus kein konse­quenter Wille zeigt, das umzu­setzen, was nötig ist, muss Erin­nern auf diese Weise geschehen. Wünschens­wert wäre aber ein Zustand, in dem ein gemein­sames und poli­tisch gewolltes utopi­sches Erin­nern möglich wäre, das die Klima­ka­ta­strophe begleitet und durch aktives Handeln dazu beiträgt, sie so weit abzu­schwä­chen wie möglich. Ohne eine Störung des derzei­tigen Alltags ist dieses Erin­nern aber nicht zu haben, ebenso wenig wie ein wirk­sames Vorgehen gegen die Klimakatastrophe.