
Die Casa de Adobe; Quelle: carloselviajero.com
Wenige Schritte von der US-Grenze entfernt befindet sich am westlichen Rand von Ciudad Juarez eine Rekonstruktion der geschichtsträchtigen Casa de Adobe. Die unscheinbare Lehmhütte ist heute bloss über eine Schotterpiste erreichbar und ähnelt den informellen Häusern, die von Migrierten entlang dieser Strecke gebaut wurden. Zu Beginn der Mexikanischen Revolution diente die Casa de Adobe dem Revolutionsführer Francisco Madero (1873-1913) als Rückzugsort. Falls die Bundestruppen von Langzeitdiktator Porfirio Díaz bis hierherkommen sollten, hätte Madero mit wenigen Schritten in die USA fliehen können. Denn damals war die Grenze noch nicht viel mehr als eine nach dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg gezogene „line in the sand“. Heute erhebt sich wenige Meter von der Casa de Adobe entfernt Donald Trumps Grenzwall – oder besser gesagt Grenzzaun –, der eine schnelle Flucht Maderos verhindern würde. Der Zaun vermag die Sicht auf die University of Texas at El Paso aber nicht zu verdecken. Sie ist die einzige Universität der USA mit einer mehrheitlichen Latinx-Studierendenschaft. Viele dieser Studierenden leben in Juarez und pendeln täglich zum Studieren in die Schwesterstadt El Paso. Mauer und Austausch sind beides Teil einer von Ambivalenzen geprägten Wirklichkeit an der Grenze.

Quelle: inc.com

Quelle: reuters.com
Die Grenze trennt und verbindet Mexiko und die USA, die sechzehntgrösste und die grösste Volkswirtschaft der Welt, und sie ist derzeit wieder ein wichtiges Thema im US-Wahlkampf. Am 8. November finden die sogenannten Midterms statt, bei denen das gesamte Repräsentantenhaus und rund ein Drittel des Senats neu gewählt werden. Gleichzeitig werden in zahlreichen Gliedstaaten Gouverneurs- und Parlamentswahlen abgehalten. Spätestens seit dem Frühjahr und den ersten parteiinternen Vorwahlen befinden sich deshalb die beiden grossen US-amerikanischen Parteien im Wahlkampfmodus. Lange sah es für die Demokratische Partei sehr schlecht aus, doch in letzter Zeit haben sich die Prognosen verbessert. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass sich verschiedene Themen in diesem Wahlkampf zu ihren Gunsten verschoben haben, wobei etwa die Debatte um das Recht auf Abtreibung zu nennen wäre. Ein Thema, das die republikanische Basis mobilisieren soll, ist allerdings geblieben: die Grenze zu Mexiko.
Republikanische Kampagne
Insbesondere die republikanischen Gouverneure von Florida und Texas, die sich am 8. November 2022 der Wiederwahl stellen, machen die Migration und die Grenze zu einem zentralen Thema und erhalten dafür viel Sendezeit bei Fox News. Sie unterstellen Präsident Biden eine „open border policy“ und werfen ihm und den demokratisch regierten Staaten und Städten vor, Migrierende „einzuladen“. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass Greg Abbott, der amtierende Gouverneur von Texas, bereits über 10 000 in Texas aufgegriffene Asylsuchende in Bussen nach Washington DC, New York und Chicago schaffen ließ. Hundert Asylsuchende wurden gar vor dem Privathaus der US-amerikanischen Vizepräsidentin Kamala Harris abgeladen. Als besonders medienwirksam erwies sich eine Aktion von Ron de Santis, dem Gouverneur von Florida und aussichtsreichem republikanischem Präsidentschaftskandidaten für 2024. Er ließ fünfzig venezolanische Asylsuchende mit falschen Versprechen auf die reiche und vor allem bei Demokrat:innen beliebte Ferieninsel Marthas’s Vineyard fliegen. Wegen diesen zynischen politischen Stunts laufen nun strafrechtliche Entführungs- und Menschenhandelsuntersuchungen gegen die Gouverneure.

Nationalgardist und zwei Grenzpolizeibeamte in der Operation Lone Star, 2021; Quelle: armytimes.com
Die beiden republikanischen Gouverneure verschleppen aber nicht nur Asylsuchende in andere Staaten, sondern sie zeigen auch Präsenz an der texanisch-mexikanischen Grenze. Im Rahmen von Operation Lone Star stehen dort mehr als 10 000 Polizeikräfte und Angehörige der texanischen Nationalgarde im Einsatz. Einige dieser Sicherheitskräfte stammen ebenfalls aus Florida und wurden von Ron de Santis dorthin geschickt. Die gliedstaatlichen Beamten haben in Bezug auf Migrierende nur sehr beschränkte Befugnisse, da die Grenzsicherung der Bundesregierung vorbehalten ist. Gregg Abbott hat für Operation Lone Star allerdings einige Schlupflöcher gefunden. So ließ er die gliedstaatlichen Sicherheitskräfte, gestützt auf die Straßenverkehrsgesetzgebung, Straßensperren erstellen und gezielt mexikanische Fahrzeuge stoppen und zurückschicken.
Der wirtschaftliche Schaden dieser Aktion ist gemäß Kritiker:innen beträchtlich. Zudem hat Operation Lone Star die texanischen Steuerzahler:innen bereits über vier Milliarden Dollar gekostet. Abbott betont vermehrte Drogenfunde und Verhaftungen, aber das erklärte Ziel, ein Rückgang der Migration, wurde nicht erreicht. Diese hat inzwischen tatsächlich Rekordzahlen erreicht und auch Demokrat:innen sprechen aufgrund des überforderten Asylwesens mit Verfahrensdauern von fünf bis sieben Jahren von einem „badly broken immigration system“.
US-Grenzpolitik

Quelle: cnn.com
An der US-Südgrenze haben sich seit Bidens Amtsübernahme, wie schon unter seinem Vorgänger Trump, dramatische Szenen abgespielt. So gingen letzten Herbst etwa Bilder aus Del Rio, Texas um die Welt, wo tausende Migrierende gleichzeitig den Rio Bravo überquerten und die lokalen Behörden komplett überforderten. Schockiert haben Bilder, auf denen berittene Sicherheitskräfte zu sehen sind, wie sie haitianische Migrierende jagen. Es sind aber nicht nur solche Bilder und Berichte von mit der Migration überforderten Grenzstädten, die für Aufsehen sorgen, sondern auch die schieren Zahlen. Diese übertreffen sämtliche Rekorde. So wurden zwischen Oktober 2021 und September 2022 über zwei Millionen Migrierende von den US-Grenzbehörden aufgegriffen (Hundertausende weitere dürften unbemerkt eingereist sein). Bei einer Mehrheit dieser Menschen handelt es sich um Asylsuchende, die sich den Grenzbehörden bewusst stellen, um ihr Recht auf Asyl wahrnehmen zu können, das allerdings seit 2020 gesetzlich stark eingeschränkt ist.
Dieser Umstand ist auf Ex-Präsident Donald Trump zurückzuführen. Er gewann die Wahl 2016 unter anderem mit offenem Rassismus gegen Mexikaner:innen, sowie dem Versprechen, eine Mauer zu bauen und Migrierende abzuwehren. Letzterem Versprechen kam Trump nach, indem er das Recht auf Asyl mit verschiedenen Maßnahmen einschränkte. Hierzu gehörte etwa die Remain in Mexico Policy, welche vorsah, dass Asylsuchende ihren Asylentscheid in Mexiko abwarten müssen. Die folgenreichste Einschränkung des Asylrechts geschah allerdings während der Corona-Pandemie: die Administration Trump versuchte, das Recht auf Asyl gestützt auf Absatz 265 von Artikel 42 – Title 42 – des Bundesgesetzes (United States Code) auszuhebeln. Danach können Asylsuchende aus gesundheitspräventiven Gründen abgewiesen werden, bevor sie Asyl beantragen können.
Auch die Biden-Administration hat diese Bestimmung nicht angetastet, obwohl ihr Einfluss auf die Pandemiebekämpfung sehr zweifelhaft ist und Biden im Wahlkampf eine Abkehr von der höchst umstrittenen Migrationspolitik seines Vorgängers versprochen hatte. Im Hinblick auf die Midterms und die republikanische Bewirtschaftung des Migrationsthemas sprach das politische Kalkül gegen eine Aufhebung von Title 42. Zudem verwies Biden stets darauf, dass diese Entscheidung ohnehin beim Center for Disease Control and Prevention (CDC) liege. Als das CDC die Bestimmung dann per Ende Mai 2022 aufheben wollte, wurde dies von einem Gericht verboten. Title 42 ist also weiterhin in Kraft und das Recht auf Asyl an der US-Südgrenze wird entsprechend mit medizinischen Vorwänden ausgesetzt.
Nicht alle Migrierenden sind jedoch gleichermaßen von Title 42 betroffen, da faktisch nur Menschen nach Mexiko zurückgeschafft werden können, die von Mexiko auch aufgenommen werden. Dies betrifft Menschen aus Guatemala, Honduras, El Salvador sowie seit neuestem und entsprechenden Verhandlungen der Biden-Administration mit Mexiko auch Menschen aus Kuba, Nicaragua und Venezuela. Die USA unterhalten zu letzteren Ländern keine diplomatischen Beziehungen und konnte Bürger:innen aus diesen Staaten bisher nirgendwohin abschieben.
Historische Konstanten
Medizinische Vorwände zur Abwehr von bestimmten ethnischen Gruppen an US-Grenzen blicken auf eine lange Geschichte zurück. In ihrem vielzitierten Artikel Buildings, Boundaries and Blood beschreibt die Historikerin Alexandra Minna Stern, wie die USA ab den 1910er Jahren die zuvor kaum wahrnehmbare Grenze zu Mexiko zu einer überwachten und regulierten Grenze ausbauten. In der Hochzeit der Eugenik und Rassenhygiene spielten ethnische Zugehörigkeit und gesundheitliche Aspekte eine zentrale Rolle dabei, wer ins Land durfte und unter welchen Umständen. Schon damals gab es zwischen den beiden Schwesterstädten Ciudad Juarez und El Paso einen engen Austausch, zahlreiche Mexikaner:innen arbeiteten in El Paso. Konnten sich diese Menschen zuvor ungestört zwischen den beiden Städten bewegen, nahm die Grenze ab den 1910er Jahren eine physische Form an, denn sie mussten nun eine Quarantänestation passieren, wo sie in einer herabwürdigenden Prozedur desinfiziert wurden, bevor sie „gereinigt“ einreisen durften.
Stern beschreibt, dass schon in den 1920er Jahren nicht nur Mexikaner:innen, sondern auch Griech:innen oder Syrer:innen über die südliche Grenze in die USA einreisten. Seither haben sich die Migrationsströme weiter internationalisiert. In den letzten Jahren stammte die Mehrheit der Menschen, die über die südliche Grenze in die USA einreisten, aus Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Kuba und Venezuela. Es sind aber längst nicht nur lateinamerikanische Migrierende, die ihr Glück an der südlichen Grenze versuchen. Unter den Migrierenden befinden sich auch zahlreiche Afrikaner:innen, Südasiat:innen oder Osteuropäer:innen. Dieser Umstand hängt auch mit der Professionalisierung und Internationalisierung der Schleppernetzwerke in Mexiko zusammen.
Die mexikanische Seite

Soldaten der mexikanischen Guardia Nacional am Grenzfluss zwischen Guatemala und Mexiko; Quelle: lkz.de
Aufgrund des ökonomischen Druckes, den Expräsident Trump auf Mexiko ausübte, spielt das Land inzwischen Grenzpolizei für die USA. So werden Migrierende schon an der mexikanischen Südgrenze von der 2018 von Präsident López Obrador neugegründeten Guardia Nacional aufgehalten. Eigentlich sollte diese quasimilitärische Einheit der inneren Sicherheit Mexikos dienen, stattdessen wird sie nun stark vom Grenzschutz absorbiert; López Obradors Wahlversprechen der Solidarität und offenen Grenzen für Zentralamerikaner:innen wurde entsprechend schnell gebrochen. Trotz gegenteiliger Wahlversprechen wird auch die Militarisierung des Landes auf besorgniserregende Weise vorangetrieben. Obwohl manche Orte unter López Obradors Präsidentschaft wieder ein wenig sicherer geworden sind, gibt es auch vormals sichere Bundesstaaten wie Guanajuato, das zum Schlachtfeld von rivalisierenden Kartellen geworden ist.
Diese Kartelle haben die Migration als lukratives Geschäftsfeld entdeckt und von den privaten Schlepper:innen, sogenannten „Coyotes“, übernommen. Je nach Herkunftsort betragen die Preise für Schlepperdienste zwischen 4000 und 20 000 Dollar. Die Kontrolle der Kartelle über die Migration ist beinahe absolut und erstreckt sich auf beide Seiten der Grenze. Zur Kontrolle, wer bezahlt hat, und um den Überblick über ihre „Menschware“ zu behalten, werden Migrierende von ihnen zuweilen mit farbigen Armbändern markiert. Wer nicht genug bezahlen kann, es auf eigene Faust versuchen will oder einfach Pech hat, wird von den Kartellen gefoltert und von Angehörigen ein Lösegeld erpresst. Zum Geschäft der Kartelle gehören auch Zwangsrekrutierungen als Fußsoldaten oder Zwangsprostitution. Migration in die USA ist ohne die Kartelle nicht mehr vorstellbar.
Aufgrund der inzwischen von Biden aufgehobenen Remain in Mexico Policy und der unter Title 42 abgewiesenen Migrierenden und Asylsuchenden ist die Migration an der mexikanischen Nordgrenze in den letzten Jahren zu einem noch viel sichtbareren Phänomen geworden. Unterkünfte, oftmals von Privaten oder Kirchen betrieben und über Spenden finanziert, sind überfüllt. Ein Teil der abgewiesenen oder wartenden Migrierenden kann allerdings von der lokalen Wirtschaft als billige Arbeitskräfte absorbiert werden. So etwa in Ciudad Juarez, dessen „Maquiladoras“ – Fabriken multinationaler Unternehmen entlang der Grenze – ungebremst in die Wüste wachsen. Der wirtschaftliche Boom in der ehemals „unsichersten Stadt der Welt“ hat viel mit ihrer Lage an der Grenze und dem Freihandelsabkommen mit den USA zu tun. Die Verflechtung beschränkt sich allerdings nicht nur auf die Wirtschaft, und auch in den Jahren der schlimmsten Gewalt ist die enge Verbindung von Juarez mit der Schwesterstadt El Paso, einer der sichersten Großstädte der USA, nie abgerissen.
Politik an der Grenze
Aber auch das als sicher geltende El Paso hatte vor Kurzem eine erschütternde Gewalttat zu beklagen. Am dritten August 2019 reiste ein weißer Rechtsextremist aus Nordosttexas nach El Paso, um gemäß eigenen Angaben so viele Mexikaner:innen wie möglich zu töten. Seinem Amoklauf in einem Walmart fielen 23 Menschen zum Opfer. Dieses rassistisch motivierte Massaker ließ die Bevölkerung in El Paso unter dem Motto #ElPasoStrong näher zusammenrücken. El Paso ist wie die meisten grenznahen texanischen Städte demokratisch dominiert. Aus der Stadt stammt auch der große Hoffnungsträger der texanischen Demokrat:innen, Beto O’Rourke, der 2018 die Wahl in den US-Senat gegen den republikanischen Amtsinhaber Ted Cruz nur haarscharf verpasste. Seither gilt er gar als möglicher zukünftiger Präsidentschaftskandidat der demokratischen Partei. Zunächst tritt O’Rourke aber bei den aktuellen Gouverneurswahlen gegen den Amtsinhaber Abbott an, dessen Grenz- und Migrationspolitik er scharf kritisiert. Zudem macht er Abbotts Rhetorik für Gewalttaten wie das Massaker in El Paso mit verantwortlich.
Konstruktive Lösungsansätze wären angesichts der schwierigen Lage an der US-Mexikanischen Grenze dringend notwendig. Darum geht es in der aktuellen politischen Debatte in den USA allerdings nicht. Die Republikanische Partei dürfte gar am Status Quo interessiert sein, um das Thema für den Wahlkampf ausschlachten zu können. Die rassistische Rhetorik der Grand Old Party mobilisiert die eigene Basis und verfängt zunehmend in traditionell demokratischen Städten an der texanischen Grenze. Die größten Leidtragenden hiervon sind die Menschen, die vor Gewalt und Armut Richtung USA fliehen. Angesichts all dessen mag es erstaunen, dass laut einer aktuellen Gallup-Umfrage sieben von zehn US-Amerikaner:innen Migration für eine gute Sache halten und aktuell nur 38% diese einschränken wollen. Vor zwei Jahren lag diese Zahl allerdings erst bei 28%. Dieser Anstieg dürfte nicht zuletzt auf die anhaltende rassistische Agitation von Vertreter:innen der Republikanischen Partei zurückzuführen sein.