Im Inneren eines beengten Erdtunnels sitzen zwei vermummte Personen mit Sonnenbrillen, neben ihnen eine lila Plastikblume und ein alter Fensterrahmen mit staubigen Scheiben: „Mach mal das Fenster auf, die Luft wird langsam dünn hier“, sagt einer der beiden und hebt den Fensterrahmen hoch. Die beiden Köpfe verschwinden hinter dem erdverschmierten Glas.

Videobotschaft der Tunnelaktivisten von Lützerath.
Quelle: DAS LÜTZERATHER TUNNELSYSTEM – SO VERZÖGERN WIR DIE RÄUMUNG, Youtube-Video, hochgeladen am 12.01.2023 von LuetziBleibt, URL: https://www.youtube.com/watch?v=xonrW2smPyg (Timecode: 00:02:10)
Mit dieser Szene endet die Videobotschaft zweier Klima-Aktivisten, die unter den Pseudonymen Pinky und Brain drei Tage lange in einem selbstgegrabenen Tunnelsystem ausgeharrt haben, um die Räumung des Weilers Lützerath zu verzögern. Nachdem der Energiekonzern RWE im sogenannten Kohlekompromiss die Erlaubnis erhalten hatte, die Braunkohle unter Lützerath abzubaggern, entstand in den verlassenen Häusern ein Protestdorf von Klimaaktivst:innen, das im Januar 2023 unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit geräumt wurde.
Neben den Bildern von zerstörten Baumhäusern, im Schlamm versinkenden Polizist:innen und Aktivst:innen an der Abbruchkante, fanden auch die Videobilder aus dem Tunnel große Beachtung: „Mit gemischten Gefühlen beobachten wir, wie viel Aufmerksamkeit die Medien dem Tunnel geschenkt haben“, schreiben die Aktivist:innen nach dem freiwilligen Ende ihres Tunnelprotests: „Der Tunnel an sich hat keine Bedeutung, die entscheidendere Frage ist, warum er gebaut und besetzt wurde.“ Wie Baumhäuser, Barrikaden, Dreibeine oder Lock-Ons sei der Tunnel nur bloßes „Mittel zum Zweck“, um die Räumung aufzuhalten und gegen den Abbau von klimaschädlicher Braunkohle vorzugehen.
Doch so kurzsichtig es wäre, den Tunnel von den politischen Anliegen seiner Erbauer:innen zu trennen, so oberflächlich wäre es, ihn auf ein bloßes Mittel für aktivistische Zwecke zu reduzieren. Die Eingrabung im Erdreich ist im Kontext des Braunkohleabbaus keine beliebige Widerstandspraxis, vielmehr lenkt sie den Blick auf genau jenen terrestrischen Untergrund, der den Abbauarbeiten zum Opfer fallen soll. Wenn die Erde besetzt und bewohnt wird, um ein Stück Erde vor dem Abbau zu bewahren, fallen Mittel und Zweck, Medium und Botschaft tendenziell zusammen. Der Tunnel ist daher mehr als nur ein weiteres Hilfsmittel im Repertoire der Aktivist:innen, er ist ein eigenständiges Medium, das die Materialität der Erde, die in Lützerath und anderswo auf dem Spiel steht, in den Vordergrund rückt. Man könnte angesichts dieses Beispiels von einer terrestrischen Protestform sprechen, die gleichermaßen erdgebunden wie erdverbunden agiert, weil sie im Medium Erde situiert ist und sich für den Erhalt ebendieser Erde engagiert.
Der Tunnel von Lützerath ist das vermutlich jüngste, aber keineswegs das erste Beispiel einer solchen terrestrischen Intervention. Wenn man ein wenig in der Geschichte des Umweltaktivismus zu graben beginnt, stößt man schnell auf ein ganzes System aus Gängen, Tunneln, Löchern und Schächten, die den Untergrund von Lützerath mit anderen Schauplätzen ökologischen Widerstands verbinden. Im Folgenden soll die Geschichte dieser terrestrischen Protestform mit einigen groben Spatenstichen geschildert und ihr strategischer Einsatz freigelegt werden. Damit lässt sich, so der Leitgedanke, zugleich ein neuer Blick auf die gegenwärtigen politischen Kämpfe um das Existenzrecht der Erde und ihrer menschlichen wie nicht-menschlichen Bewohner:innen werfen.
Von Tree-Sittern und Cherry-Pickern
Wo die Wurzeln des Tunnelprotests liegen, deuten bereits die Aktivist:innen von Lützerath in ihrem Video an: „Damit angefangen im Aktivismus haben eigentlich Menschen aus England in den 90ern.“ Tatsächlich formiert sich Anfang der 1990er Jahre in England ein vehementer Widerstand gegen das von Margaret Thatcher proklamierte und von John Major umgesetzte, milliardenschwere Straßenbauprogramm Roads for Prosperity. Straßenbauprojekte wie der Ausbau der Autobahn M3 in Twyford Down, die M11 Link Road im Osten Londons, der Newbury Bypass und die A30 in Fairmile werden zu zentralen Schauplätzen des britischen Umweltaktivismus. In den Protestcamps, die sich entlang der geplanten Straßenverläufe bilden, um für den Erhalt von Naturschutzgebieten und alten Baumbeständen zu protestieren, wurden neuartige Widerstandsformen erprobt, die inzwischen zum festen Repertoire ökologischen Protests gehören. Besonders das bislang nur in den USA und in Australien bekannte tree-sitting, also die Besetzung von Bäumen mit Baumhäusern, kam hier erstmals in Europa zum Einsatz. Die von der Presse bald als tree people bezeichneten Aktivist:innen errichten zahlreiche Holzstrukturen in Baumkronen, die untereinander mit Kletterseilen zu einem dichten Gewebe verbunden werden, um den bevorstehenden Räumungen zu trotzen.

Hebebühne bei der Räumung des Newbury-Protestcamps (1996)
Bildquelle: TALES OF RESISTANCE. THE BATTLE OF THE NEWBURY BYPASS (UK 2018, Jamie Lowe, 98 min.), Timecode: 01:25:39
Zum erbitterten Gegenspieler der tree people wurde der sogenannte cherry-picker, ein Kran mit Hebebühne, den die Polizei- und Sicherheitskräfte zur Räumung der Baumhäuser aufbieten. Daraufhin verlagerten einige tree people ihre Aktivitäten von den Baumwipfeln hinab in die Niederungen des Erdreichs. Der Protesttunnel, der erstmals 1996 in Newbury erprobt und später in Fairmile und Manchester weiterentwickelt wurde, kann als unmittelbare Antwort auf den Einsatz der cherry-picker betrachtet werden. Er folgt einem simplen, aber effektiven Kalkül: solange sich noch Menschen im potenziell einsturzgefährdeten Tunnel aufhalten, können keine schweren Geräte an der Oberfläche anrücken, um die Baumhäuser zu räumen – andernfalls stünde das Leben der Eingegrabenen auf dem Spiel. Umgekehrt können die Tunnel nicht geräumt werden, solange noch Aktivist:innen auf Baumhäusern ausharren, weil die Tunnelspezialist:innen erst ans Werk gehen dürfen, wenn die Lage oberirdisch abgesichert ist. Der Protesttunnel stellt die Behörden somit vor ein Dilemma, bei dem die Räumung von Baumhäusern durch Tunnel und die Räumung von Tunneln durch Baumhäuser verhindert wird, weil beide Strukturen als Risiken füreinander betrachtet werden. Jeder Schritt zur Fortsetzung der Räumung kann von den Aktivist:innen als unverantwortliche Gefährdung der einen oder anderen Seite adressiert und skandalisiert werden, wie die öffentliche Empörung angesichts der rabiaten Räumung des Newbury-Protestcamps samt Baumhäusern und Tunneln wirkungsvoll gezeigt hat.
Verzögerung und Verteuerung
Bei späteren Räumungen wie 1997 des Fairmile-Protestcamps gegen den Bau der M30 gingen die Behörden daher geradezu ostentativ sicherheitsorientiert, rücksichtsvoll und vorschriftsmäßig vor. Allerdings wurden die Zugewinne an Sicherheit mit einer immensen Langsamkeit erkauft. Die möglichst langwierige Verzögerung der Räumung gehört zum zentralen strategischen Kalkül der Tunnel-Aktivist:innen. Als paradigmatische „Verzögerungsarchitektur“ (Oliver Elser) sind Protesttunnel zunächst nichts anderes als verräumlichte Zeit. Jede ihrer Windungen, Biegungen und Gabelungen, jede Engstelle und jede Barriere stellt eine genau kalkulierte zeitliche Komplikation dar, die den Räumungsteams einen Umweg aufnötigt. Als besonders zeitaufwändig erweist sich die fachgerechte Absicherung des Tunnels durch die Räumungsteams. Die von den Aktivist:innen verwendeten provisorischen Stützbalken bewahren den Tunnel zwar vor dem Einsturz, unterschreiten jedoch – oftmals ganz bewusst – die Sicherheitsstandards des professionellen Tunnelbaus: „Don‘t make it too good!“ lautet die Anweisung aus einem frühen Handbuch für Tunnelaktivist:innen. Protesttunnel sollen gerade sicher genug sein, um sich darin gefahrlos aufhalten zu können, aber nicht zu sicher, um den Räumungsteams nicht die mühsame Arbeit der Absicherung zu ersparen.

Tunnelsystem “Big Mama” im Fairmile-Protestcamp (1996)
Bildquelle: TUNNELS AND TREES. INSIDE THE FAIRMILE PROTEST (UK 1997, Liz Banks, 24 min.), Timecode: 00:09:14
Je länger und aufwändiger sich die Räumung gestaltet, desto höher steigen auch die Kosten für das geplante Straßenbauprojekt. In Fairmile etwa wuchsen die Projektkosten durch die Tunnelräumung täglich um Zehntausend Pfund auf insgesamt eine halbe Million Pfund an. Die Verzögerungsarchitektur des Tunnels ist somit immer auch eine Verteuerungsarchitektur. Sie folgt einer umgekehrten ökonomischen Rationalität, die den wirtschaftlichen Imperativ der Kostensenkung in sein Gegenteil verkehrt und mit allen Mitteln die Kosten in die Höhe zu treiben versucht, um künftige Bauvorhaben unrentabel, mindestens aber unpopulär zu machen. In gewissem Sinne handeln Tunnelaktivist:innen somit als kluge ökonomische Akteure, die die gewonnene Zeit in verlorenes Geld der Bauherren konvertieren.
Menschliche Maulwürfe
Doch neben einer Ökonomie der Zeit und des Geldes ist der Tunnelprotest immer Teil einer medialen Aufmerksamkeitsökonomie. Die zeitliche Dehnung der Räumung verlängert die screen time des Protests und damit die Möglichkeit einer breiteren Mobilisierung. So fesselte die Fairmile-Räumung eine ganze Woche lang die Aufmerksamkeit der britischen Medien, die oftmals Sympathie für die Tunnelaktivist:innen erkennen ließen. Von der Presse liebevoll als human moles, also menschliche Maulwürfe tituliert, wurden die Aktivist:innen ausdrücklich für ihre „down to earth“-Politik gewürdigt, mit der sie sich unter hohem persönlichem Risiko für die bedrohten Landschaften und Lebenswelten einsetzten. Die Tunnelaktivist:innen selbst betonen die Erdverbundenheit ihres Protests mit einprägsamen Pseudonymen wie Swampy oder Muddy Slidey, die sich mimetisch an das lehmige, sumpfige, schlammige Milieu des Erdreichs anlehnen.
Es wäre verkürzt, in all diesen Erdbezügen nur eine exzentrische Selbststilisierung zu sehen. Sie zeigen vielmehr, dass der Tunnelprotest jenseits seiner unmittelbar strategischen Funktionen auch so etwas wie einen terrestrischen Existenz- und Politikstil entwirft, der sich mit der Erde und ihren (nicht-)menschlichen Bewohner:innen gemein macht, um ihre Abtragung oder Ausbeutung zu verhindern. In den Tunneln von Fairmile wird praktisch erprobt, was es heißen könnte, sich in der Erde zu verorten, statt einen erhabenen Standpunkt außerhalb einzunehmen, der einen instrumentellen Zugriff auf sie erlauben würde: „As a tunneller you‘re digging and living within mother earth. The dirt should be as much a part of you as your right hand”, heißt es in einem Tunnelhandbuch. Wenn die Erde zum elementaren Teil der eigenen Existenz und der Tunnel zur Erweiterung des eigenen Körpers geworden ist, dann lässt sich der Tunnel nicht länger als bloßes ‚Mittel zum Zweck’ für politische Ziele instrumentalisieren: Er erweist sich vielmehr als Milieu einer bestimmten menschlichen Existenzweise, die sich als radikal terrestrisch versteht.
Politik von Drinnen
Mit den Ereignissen von Fairmile hat sich der Tunnel als eigenständiges Medium des ökologischen Protests etabliert. Dies zeigt sich nicht nur an all den Folgetunneln, die von Manchester bis Essex gegen viele weitere Infrastrukturprojekte gegraben wurden, sondern auch an der zunehmenden Professionalisierung des Tunnelbauwissens, das Ende der 1990er Jahre in Handbüchern wie Disco Daves Tunneling Guide oder Road Raging aufbereitet und durch Diavorträge, Teach-Ins, Broschüren und Zines überregional verbreitet wird. So gelangte das aktivistische Tunnelwissen schließlich durch den Eurotunnel auf das europäische Festland, wo in den Niederlanden und in Deutschland erste Protesttunnel entstanden, die in Lützerath ihren bislang jüngsten Ausläufer gefunden haben.
In vielfacher Weise erweist sich der Protesttunnel von Lützerath als Nachfahre der britischen Tunnelproteste. Nicht nur verfolgen die Aktivist:innen ausdrücklich die in England erprobte Strategie, die Einsturz-Risiken des Tunnels an die Räumungskräfte zu delegieren, auch die Inszenierung der vermummten Personen mit Sonnenbrillen, die schon äußerlich eine Art Maulwurf-Werden verkörpern, schließt an die human moles von Fairmile an. Mehr jedoch als bei vorherigen Protesten wird der Tunnel in Lützerath als ein bewohnbares Milieu in Szene gesetzt. Das Innere des Tunnels, den die Aktivisten als ihren „Winterbau“ bezeichnen, ist mit allerlei Attributen häuslicher Wohnlichkeit ausgestattet wie der eingangs erwähnten Plastikblume und dem Fensterrahmen. So bizarr das Interieur auf den ersten Blick scheint, so sehr artikuliert sich darin der Versuch, die Erde als einen Innenraum zu bewohnen, der nicht auf eine bloß abbaubare Ressource reduziert werden kann. Anders als die Braunkohlebagger verorten sich die Aktivisten nicht außerhalb oder gegenüber jenem Stück Erde, für das sie streiten, sondern inmitten und im Inneren: Sie praktizieren das Im-Bau-Sein als eine Form des terrestrischen Protests.

Schlussbild der Videobotschaft der Tunnelaktivisten von Lützerath.
Quelle: DAS LÜTZERATHER TUNNELSYSTEM – SO VERZÖGERN WIR DIE RÄUMUNG, Youtube-Video, hochgeladen am 12.01.2023 von LuetziBleibt, URL: https://www.youtube.com/watch?v=xonrW2smPyg (Timecode: 00:07:36)
In seinem kleinen Buch Wo bin ich? hat Bruno Latour die Erde, die wir bewohnen, als einen gigantischen Bau beschrieben, den Menschen und Nicht-Menschen über Jahrtausende durch ihre unermüdliche Grabungs- und Abbautätigkeit geformt haben. Für eine ökologische Haltung sei es notwendig, nicht länger ein Außen zu imaginieren, das uns von den terrestrischen Lebensbedingungen trennt, sondern das Drinnen-Sein zu bejahen. Wenn die Lützerather Aktivisten am Ende ihres Videos durch die staubige Fensterscheibe blicken und sich die Erde buchstäblich in ihr Sichtfeld schiebt, bringen sie genau das zum Ausdruck: Es gibt kein unberührtes Außen mehr, auf das wir von Drinnen schauen könnten. Wir sitzen alle im selben Bau – und müssen gemeinsam dafür sorgen, dass er nicht einstürzt.
Ich danke Tom Ullrich für die gemeinsamen Grabungen zu diesem Text.
Dankeschön für diesen sehr schönen Text – er hat viele Assoziationen in mir hervorgerufen. So etwa zu einem Graphic Novel, den ich kürzlich gelesen habe: „Das Recht der Erde“ von Étienne Davodeau. Darin geht es u.a. um Höhlenmalerei unserer Vorfahren, zum Einen; und „Endlagerstätten“ für Atommüll, zum Anderen. Und auch um staatliche Gewalt in Frankreich, die gegen Aktivisten eingesetzt wird, die sich gegen Pläne wehren, den Atommüll in der Erde zu vergraben. Wie kann er in also „unsichtbar“ gemacht werden, und zugleich sollen ja Nachfahren in ferner, ferner Zukunft darüber informiert werden, dass da drin in der Erde Teufelszeugt lagert…