
Am 9. Juni 2021 erklärte Außenminister Heiko Maas im Deutschen Bundestag, dass alle weiteren Verhandlungen mit Namibia, die über die gerade abgeschlossene Vereinbarung zwischen den beiden Regierungen hinausgingen, kategorisch auszuschließen sind. Zuvor hatten einige Opferorganisationen und Traditional Leaders – die im Deutschen zumeist als „Häuptlinge“ bezeichnet werden – ihre Enttäuschung über die Vereinbarung und den gesamten Verhandlungsprozess ausgedrückt. Teilweise geschah dies in scharfen Worten, die eine tiefe Verletzung ahnen lassen. Im Kern nämlich geht es um eine Frage der Anerkennung, die mit der Vereinbarung nicht erledigt ist. Es geht um das Nachwirken einer kolonialen Erbschaft, die Deutschland nur zu leicht abschütteln konnte und kann. Auch wenn es seit einiger Zeit Formen der öffentlichen Aufarbeitung kolonialen Unrechts gibt, in Ausstellungen und Museen, in Universitäten und eben auch in der Politik, so ist doch die Anerkennung des Völkermordes an Nama, Herero und Damara nicht nur viel zu spät erfolgt, sondern geht auch mit einer Nichtanerkennung der gesamten kolonialen Erbschaft einher. Dazu gehört auch, dass von deutscher Seite aus mit der Namibischen Regierung verhandelt worden ist, was aus Sicht etwa der Ovaherero Genocide Foundation und anderer Organisationen Teil des Problems ist. Heute Minderheiten im eigenen Land, haben Nama, Damara und Herero in der Kolonialzeit einen Genozid erlitten und sind vollkommen enteignet worden. Ein Schicksal, das die Ovambo-sprachige Mehrheit der Bevölkerung jedoch nicht teilt. Von ihrer Regierung fühlen sich viele Nachkommen der Überlebenden nicht vertreten.
Die Abwesenheit der Black Studies
Zoé Samudzi veröffentlichte kürzlich auf dem New Fascism Syllabus einen eindringlichen und aufschlussreichen Artikel, der unter dem Titel Schwarzsein. Über die Abwesenheit der Black Studies in der Erinnerungsdebatte in deutscher Übersetzung auf Geschichte der Gegenwart erschienen ist. Darin kommentiert die simbabwisch-amerikanische Schriftstellerin, Soziologin und Aktivistin die offizielle, wenn auch nicht juristische Anerkennung des Völkermordes durch die deutsche Regierung. Kennzeichnend für die Diskussionen ist für sie die „eklatante Abwesenheit“ der Black Studies und von schwarzen Menschen selbst. Sie schreibt:
die schockierende Herabstufung von und das Desinteresse an lebenden und toten Schwarzen Menschen, die abstrakte Behandlung afrikanischer/Schwarzer Menschen als Subjekte distanzierter historischer Betrachtungen – während es Gemeinschaften gibt, die weiterhin die Kontinuitäten kolonialer Enteignung ertragen und immer noch Wiedergutmachung für ihr Leiden fordern.
Was kann, um Zoé Samudzis Gedanken aufzunehmen, darüber hinaus der Platz der Geschichtswissenschaft sein? Einer afrikanischen Geschichte, die von konkreten Menschen spricht, der Kontinuität kolonialer Enteignung nachgeht und ihr Interesse nicht nur dann den „lebenden und toten Schwarzen Menschen“ widmet, wenn es um die deutsche Kolonialgeschichte, um die eigenen Belange geht? Ich möchte für ein Verständnis der afrikanischen Geschichte plädieren, das zudem über die Erforschung des Völkermordes hinausgeht. Denn dieser zu Recht verwendete juristische und historische Begriff verengt die Geschichte, wenn er nicht nach den Überlebenden fragt und das koloniale Erbe und die komplizierten Gründe für die scharfe Zurückweisung der Vereinbarung nicht hinreichend erklären kann.
In Namibia sind Widerstand und Krieg gegen koloniale Enteignung und Gewalt, sind der Genozid und die Auswirkungen der Nachkriegspolitik nie vergessen worden. Den Kolonialismus zu einer kurzen Epoche zu erklären, die weit zurückliegt und keine nachhaltigen Auswirkungen auf die eigene Gesellschaft hat, war ein Privileg der deutschen Seite.
Neue Kolonialgeschichtsschreibung

Cover des Buches von Bley, 1968.
Das sollte sich – zunächst allerdings nur im engeren akademischen Kontext – ändern. Als in den 1960er Jahren die meisten afrikanischen Länder ihre Unabhängigkeit erkämpften und in der Studentenbewegung über Imperialismus diskutiert wurde, legten zwei wichtige Bücher den Grundstein für eine neue Perspektive auf den Kolonialismus. Helmut Bley aus Westdeutschland und Horst Drechsler aus Ostdeutschland hatten parallel zu Siedlerkolonialismus und Völkermord im ehemaligen Deutsch-Südwest-Afrika geforscht. Bley stützte seine Argumente auf Hannah Arendt, Frantz Fanon und Octave Mannoni und analysierte das „System Leutwein“, innerhalb dessen Verhandlungen, Diplomatie und eine umfassende Korrespondenz mit den afrikanischen Chiefs eine zentrale Rolle spielten. Leutwein, der von 1898 bis 1904 als erster Gouverneur amtierte, brauchte ein Gegenüber. Und so betrachtete er Samuel Maharero als Oberhaupt, als Paramount Chief der Herero – eine Position, die es innerhalb der Herero-Gesellschaft in der vorkolonialen Zeit nicht gegeben hatte. Allerdings einigten sich auch die anderen Herero-Chiefs darauf, Maharero als Oberhaupt anzuerkennen, als sie 1904 den Siedlern den Krieg erklärten, und so wurde er zum Gründungsvater eines der heutigen Herero-royal houses.

Cover des Buches von Drechsler, 1966.
Drechsler, der akribisch die Akten im Kolonialarchiv in Potsdam durchforstete, konnte ebenso wenig wie Bley, dem die südafrikanische Regierung das Visum verweigerte, in Südwest Afrika selbst forschen. Beide Historiker kamen allerdings übereinstimmend zu dem Schluss, dass der Kolonialkrieg und die Nachkriegspolitik, Leutwein war von dem berüchtigten General Lothar von Trotha abgelöst worden, als Genozid oder Völkermord bezeichnet werden müssten. Diese Interpretation beruht nicht auf einer nachträglichen Anwendung von Raphael Lemkins Definition, sondern war klar aus den Akten ersichtlich. Zu den offen ausgesprochenen Ängsten der Farmer und Kolonialbeamten vor dem „Verlust aller einheimischen Arbeitskräfte“ kamen die Warnungen von Missionaren, dass ein ganzes Volk vor seiner Ausrottung stehe, und sogar einige Militärs kritisierten von Trothas Politik, unterstützt von zahlreichen Politikern im Reichstag, von Sozialdemokraten bis zum Zentrum. Wie Bley schrieb, wussten die Zeitgenossen ganz genau, was sie taten.
Den beiden Büchern, die bald ins Englische übersetzt wurden, folgten zahlreiche weitere Untersuchungen, die allerdings bis auf wenige Ausnahmen mit dem Genozid endeten. Früh war der Fokus der deutschen Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialvergangenheit auf Namibia und auf den Völkermord gelegt, ohne dass daraus jedoch politische Konsequenzen gezogen worden sind. Und auch für die deutsche Geschichtsschreibung insgesamt, blieb die Kolonialzeit eine eher unwichtige Episode.
Die Nachkriegszeit – jenseits einer deutsch-zentrierten Geschichtsschreibung
Während immer wieder historische, literaturwissenschaftliche und soziologische Arbeiten zum Kolonialkrieg und zum Völkermord erschienen, und zweifellos viel zu unserem Wissen auch hinsichtlich der postkolonialen Erinnerungspolitik unter Herero beitrugen, interessierte die Nachkriegszeit wenig, obwohl sie, wie ich in meinem Buch zeigen konnte, durch einen beeindruckenden und kreativen Wiederaufbau der Herero-Gesellschaft gekennzeichnet war. Es herrschte keineswegs eine „Ruhe des Friedhofs“, wie Drechsler mit einem düster-poetischen Bild konstatierte. Doch die Strategien der Überlebenden sind wenig präsent. Männer und Frauen verdingten sich z.B. auf nun deutschen Farmen im ehemaligen Hereroland als Arbeitskräfte und legten ihren kargen Lohn zusammen, um neue Rinderherden aufzubauen. Sie gründeten Selbsthilfenetzwerke, deren Mitglieder in kolonialer Mimikry Uniformen anlegten und exerzierten, der Ursprung der heutigen mit den royal houses verbundenen „Flaggen“, manchmal Truppenspieler genannt. Es handelt sich heute um politisch einflussreiche Traditionsverbände, in denen Herero-Männer und Frauen organisiert sind. Zum Ärger der Mission entfachten Frauen wieder die heiligen Feuer und protestierten gegen die verheerenden Zustände in den Reservaten. Aber über ihre Biografien wissen wir wenig und die Namen von hochrangigen Politikern und Würdenträgern, wie Hosea Kutako (1870-1970), finden weniger Eingang in die Geschichtsbücher, als die von Kolonialbeamten.
Ich möchte mich Zoé Samudzi anschließen, die schreibt:
Was wäre, wenn afrikanische Realitäten einen wesentlichen Kern der Debatte ausmachen würden, und nicht unsere Interpretation der Gewalt kolonialer Unterdrücker?
Eine deutsch-zentrierte (und täterzentrierte!) Perspektive zu überwinden − wie Zoé Samudzi in ihrem Artikel fordert − würde bedeuten, den historischen Ansatz in zwei Richtungen zu erweitern. Erstens sollte sich die Forschung nicht nur auf die Täterperspektive konzentrieren, so wichtig das Wissen über die Anatomie der kolonialen Herrschaft und den Verwaltungsalltag auch ist. Wir sollten immer auch das afrikanische „Archiv“ befragen, die vielen in den deutschen Akten verborgenen Geschichten und Perspektiven der Kolonisierten ans Licht bringen, ihnen unser Interesse widmen, wie dies in vielen Arbeiten zur deutschen Kolonialzeit inzwischen auch geschieht, obwohl immer noch erstaunlich viel Forschung sich alleine mit der Täterperspektive auseinandersetzt. Zweitens sollte sich die Forschung über den Krieg hinaus vorwärts und rückwärts bewegen, um einerseits die extrem dynamische Zeit des 19. Jahrhunderts zu verstehen, in der die Hererogesellschaft sich neu formiert. Und wir sollten andererseits die Zeit der südafrikanischen Herrschaft einbeziehen, in der weiterhin alle Menschen gezwungen waren, ihre Interessen im Rahmen von ethnischen Kollektiven („Stämmen“) zu artikulieren.
Anerkennung
Während mit dem 100jährigen Gedenken an den Kolonialkrieg in Deutschland zahlreiche Medienberichte und Publikationen erschienen sind, Konferenzen stattfanden und Fernsehdokumentationen sowie Rundfunksendungen ausgestrahlt worden sind, wurde in den USA eine Klage abgewiesen. Bereits 2001 verklagten Herero-Führer und Interessensgemeinschaften aus Namibia und der Diaspora gemeinsam die Deutsche Bank, die Woermann-Linie und die deutsche Regierung vor einem US-Gericht auf Reparationen für den Völkermord. Die Sammelklage, die aufgrund des Alien Tort Claims Act von 1789 möglich war, wurde mehrfach vergeblich neu eingereicht.

Proteste gegen die Bundesregierung 2016, Quelle: www.dw.com
In der Anklageschrift heißt es, dass „die Rhetorik, die Trotha benutzte, um die Ausrottung der Ovaherero- und Nama-Völker zu rechtfertigen […] auf unheimliche Weise die Sprache vorweg[nahm], die später von Hitler benutzt wurde, um die Massenvernichtung des jüdischen Volkes […] zu rechtfertigen.“ Bei dieser Bezugnahme auf die Shoah und das Schicksal des jüdischen Volkes, von dem zunehmend im Kontext von Wiedergutmachungsforderungen von Seiten der Herero-Repräsentant:innen und ihren Anwälten die Rede war, geht es weniger um historische oder gar geschichtswissenschaftliche Fragen des Zusammenhangs zwischen Kolonialverbrechen und nationalsozialistischer Vernichtungspolitik, sondern vielmehr um ein moralisches und politisches Argument. Es geht um den Verdacht, um nicht zu sagen, die Erfahrung, dass die kolonialen Opfer weniger zählen. Und je länger eine Entschuldigung und Anerkennung von Seiten der Deutschen verweigert wurde, desto stärker wurde die Bezugnahme auf die Shoah. Wenn Herero- und Nama-Gemeinschaften also davon sprechen, dass die eigenen Vorfahren „wie die Juden gelitten haben“, steht dahinter gerade keine Relativierung, sondern der Vergleich bestätigt die inzwischen globale Relevanz des Holocaust.
Es geht also um ein ethisches und epistemologisches Argument der Anerkennung, eine Anerkennung, die ähnlich auch bei der südafrikanischen Wahrheitskommission zum Tragen kam. Es geht um einen Platz in der Welt, und die Nachkommen der Überlebenden – in Namibia und der Diaspora – wenden sich dagegen, dass ihre Toten weniger zählen. Die heutige Vehemenz, mit der sie Wiedergutmachung fordern und das Abkommen ablehnen, ist das Ergebnis von fast hundert Jahren vergeblichen Wartens auf eine ehrliche und nicht taktische Entschuldigung. Einer langen Geschichte, in der die Nachfahren zunächst Anerkennung und eine Entschuldigung, und dann erst Reparationen forderten.
Zoé Samudzi schreibt von der „Inkonsistenz, mit der Genoziderfahrungen betrachtet und beurteilt werden.“ Und tatsächlich sahen weder die Mehrheit der deutschsprachigen Namibier – „unsere Landsleute“, wie Bundeskanzler Kohl sie bei einem Besuch genannt hat − noch die deutschen Regierungen die Notwendigkeit einer Entschuldigung. Gleichzeitig aber war die deutsche Entwicklungshilfe ein verstecktes Eingeständnis postkolonialer Verantwortung, aber gerichtet an die Regierung und nicht an die Nama- und Herero-Gemeinschaften, und sozusagen Teil eines Deals zur Rettung der deutschsprachigen Farmer, die auf großen Farmen im ehemaligen Hereroland saßen und nach der Unabhängigkeit 1990 ein „simbabwisches“ Schicksal, also Enteignungen, befürchteten. Das Land wurde allerdings niemals zurückerstattet und die Landfrage bleibt von größter symbolischer Bedeutung.
Koloniales Erbe
Fast alle ehemaligen Kolonialstaaten standen vor dem Problem, dass die ländlichen und lokalen Führer einen legitimen Platz im künftigen unabhängigen Staat beanspruchten. Zwar waren sie häufig vom kolonialen Staat eingesetzt worden, aber zugleich dienten sie auch als einzig legitime Interessenvertretungen der Bevölkerung und konnten nicht einfach nach dem Ende der Kolonialherrschaft – in Namibia dem Ende der Apartheid – entmachtet werden. So räumte auch Namibia den Traditional Leader einen Platz in der Verfassung ein, verstand diese allerdings eher als kulturelle Repräsentanten und nicht als politische Entscheidungsträger. Das sehen Chiefs wie Vekuii Rukoro, Anwalt, Geschäftsmann und ehemaliges Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung, anders.
Die Verhandlungen über die Anerkennung des Völkermords fanden also in einer Situation statt, in der das von deutscher Entwicklungshilfe abhängige Namibia mit einer Opposition – organisiert in Parteien und in royal houses – konfrontiert war, die ein starkes moralisches und historisches Argument gegen Deutschland auf ihrer Seite hatten. Derzeit entsteht der Eindruck, dass deutsche Politiker ein wenig beleidigt sind, dass die Führer, Vertreter und Organisationen der Nama und Herero sich weder untereinander noch mit ihrer Regierung einigen können. Man wirft ihnen hohe Erwartungen vor, unrealistische Ansprüche, aber dahinter verbirgt sich ein sehr kompliziertes koloniales Erbe, das nicht 1917 endete, als die Deutschen das Land verließen, und das eine faire Vertretung der betroffenen Gemeinschaften fast unmöglich macht.