Der demokratische und antirassistische Konsens der europäischen Demokratien ist in Gefahr. Wie lässt er sich bewahren? Ein 50 Jahre alter Text des Dramatikers Heiner Müller macht dazu einen bedenkenswerten Vorschlag.

Die Sprach­po­litik unserer Zeit hängt am Begriff. Täglich lässt sich beob­achten, dass vor allem rechte Poli­tiker derzeit gezielt versu­chen, die gesell­schaft­liche Debatte durch den bewussten Gebrauch von Begriffen zu bestimmen. Anti-Abschiebeindustrie, Umvol­kung, Gender­ideo­logie, Kopf­tuch­mäd­chen, Rape­fu­gees, Gutmen­schen – bei ihnen allen handelt es sich um Ideo­logie im klas­si­schen Sinne: Denje­nigen, die solche Begriffe einsetzen, geht es nicht darum, die Realität in Begriffen abzu­bilden, sondern darum, Realität durch Begriffe zu stiften. Sie sind das Ergebnis gezielter Begriffs­stif­tungen und Verbrei­tungs­stra­te­gien. Die heute show hat dies kürz­lich anschau­lich gezeigt, als sie vorge­führt hat, wie häufig Alex­ander Dobrindt in nur einem Fern­seh­in­ter­view die Wendung „gewalt­be­reite oder krimi­nelle Asyl­be­werber“ verwen­dete: konse­quentes Framing, um den Wörtern Wertungen einzu­schreiben und die eigene Politik zu beför­dern. All diese Begriffe sind damit nicht nur ideo­lo­gisch, sondern auch gewollt perfor­mativ, sie versu­chen, Menschen und Sach­ver­halte auf eine Eigen­schaft fest­zu­legen, mediale Aufmerk­sam­keit und Empö­rung beim poli­ti­schen Gegner zu provo­zieren und damit zur Simu­la­tion jener Bürger­kriegs­lage beizu­tragen, von der die Neue Rechte beständig schwadroniert.

Das kalte Kalkül, mit der zahl­reiche rechte und ganz rechte Poli­tiker derzeit an den Begriffen arbeiten, hat dazu geführt, dass sich auch liberal oder links verste­hende Menschen um klare Worte bemühen. Der Akti­ons­künstler Philipp Ruch hat diese Posi­tion vor ein paar Tagen in der Welt am Sonntag mit dem Aufruf „Ächtet Sie!“ program­ma­tisch formu­liert: Rechte und extrem rechte Posi­tionen seien derzeit deshalb auf dem Vormarsch, weil diese anders als noch vor wenigen Jahren „nicht mehr geächtet werden“. Noch 2002, so erin­nert Ruch, hatte sich der dama­lige FDP-Politiker Jürgen Mölle­mann mit einem anti­se­mi­ti­schen Wahl­kampf­flug­blatt unmög­lich gemacht. Er „wurde gesell­schaft­lich verur­teilt und ausge­schlossen. Keine Zeitung, kein Fern­seh­sender fasste ihn mehr an.“ Björn Höcke hingegen werde von den Medien derzeit hofiert. Dabei verdienten „Anti­se­mi­tismus, Geschichts­re­vi­sio­nismus und Menschen­feind­lich­keit“ auch weiterhin die gesell­schaft­liche Ächtung. Und eben darum bemühen sich dieje­nigen, die derzeit etwa in den sozialen Netz­werken darauf bestehen, Nazis noch Nazis, Rassisten noch Rassisten nennen zu dürfen: Es brauche die klaren Worte, um rassis­ti­sche und extreme Ansichten als solche zu brand­marken und den gesell­schaft­li­chen Konsens über die Grenzen des demo­kra­ti­schen Diskurses zu bewahren.

Das Schei­tern gesell­schaft­li­cher Ächtungsversuche

Mit Blick auf Björn Höcke und andere (extrem) rechte Begriffs­ver­dreher gibt es gute Gründe für diese Posi­tion. Doch die gegen­wär­tige Lage ist längst sehr viel kompli­zierter, als dass sie mit der klaren, ächtenden Bezeich­nung von Personen und Grup­pie­rungen am äußeren rechten Rand gelöst werden könnte. Denn menschen­feind­liche Posi­tionen lassen sich zur Zeit auch aus der Mitte der Gesell­schaft vernehmen. Ob Ächtungen in diesen Fällen dazu beitragen können, den Konsens aller Nicht-Rechten zu bewahren, lässt sich durchaus bezwei­feln. Derzeit lässt sich jeden­falls immer wieder anderes beob­achten, jüngst etwa in der Diskus­sion, die ein anderer FDP-Politiker ausge­löst hat: Chris­tian Lindner mit seiner Anek­dote von der Frem­den­angst in der Bäcker­schlange. Anders als Dobrindt, Höcke und andere rechte Poli­tiker arbei­tete Lindner mit ihr nicht am Begriff. Aber seine Geschichte von der Angst, die Deut­sche hätten, weil sie sich über den Rechts­status der mit ihnen anste­henden Auslän­dern nicht sicher sein könnten, enthält dennoch eine Viel­zahl proble­ma­ti­scher Unter­stel­lungen, Voran­nahmen und Fehl­schlüsse, zu denen in den neuen und alten Medien schnell viel Rich­tiges und Wich­tiges gesagt wurde – zu den enthal­tenen frem­den­feind­li­chen Stereo­typen, zur knall­harten Bewer­tung von (geflüch­teten) Menschen nach ihrer ökono­mi­schen Nütz­lich­keit, zur stig­ma­ti­sie­renden Vermi­schung der Kate­go­rien „Rechts­status“ und „Recht­schaf­fen­heit“, zum anbie­dernden Drang dieser Poli­ti­ker­an­ek­dote nach Alltags­nähe, der doch nicht mehr als eine welt­fremde Geschichte hervor­ge­bracht hat: Wer macht sich beim morgend­li­chen Anstehen in der Bäckerei denn vor allem Gedanken über den Aufent­halts­status der vor ihm Wartenden?

Ebenso schnell jedoch ging es in der öffent­li­chen Diskus­sion kaum noch um die Äuße­rungen des FDP-Vorsitzenden, sondern um die Aufre­gung über diese. Chris­tian Lindner sei kein „Rassist“ betonten verschie­dene Zeitungs­kom­men­ta­toren und auch Poli­tiker anderer Parteien von der CDU bis zu den Grünen. Man solle „die Kirche im Dorf lassen und jetzt nicht Herrn Lindner die Rassis­mus­keule über­ziehen“, ließ etwa Land­wirt­schafts­mi­nis­terin Julia Klöckner (CDU) verlauten. Und auch andere spra­chen von einer „unglück­lich formu­lierten“, „schiefen“, „dusse­ligen“ Geschichte, die der aktu­ellen Aufre­gung nicht wert sei. Statt in Lind­ners Worten die Grenz­ver­let­zung zu erkennen, war etwa der NZZ die ganze Diskus­sion nur ein weiteres Beispiel für den vor allem durch die „Netz­ge­meinde“ betrie­benen Verfall der Debat­ten­kultur, die die „beson­ders laut Meinenden im Netz“ mit „ihrer Stim­mungs­mache und ihren schrillen Begriffen“ bestimmen würden. Und auch Chris­tian Lindner selbst griff vor allem dieses Argu­ment auf: Wer in seinen Äuße­rungen „Rassismus oder Rechts­po­pu­lismus“ erkennen wolle, sei „etwas hyste­risch“ unterwegs.

Eine alte römi­sche Sage: Der Horatier

Man kann diese Empö­rung über die Empö­rung falsch, verharm­lo­send oder selbst skan­dalös finden. Man kann beklagen, dass Lind­ners Äuße­rungen anders als bei Jürgen Mölle­mann keinen großen Skandal auslösten, sich Lindner für sie nicht einmal entschul­digen musste. Doch dies ändert nichts daran, dass der Versuch der Ächtung, durch klare Worte von links einen breiten anti­ras­sis­ti­schen Konsens zu bewahren, derzeit ihr Ziel verfehlen. Er ist frag­würdig geworden. Zwar ist die Ächtung, die „gemein­schaft­liche Verdam­mung“, immer Ausdruck eines breiten Konsenses. Aller­dings lässt sich Gemein­sames durch Ächtungs­ver­suche nicht immer bewahren oder herstellen. Was also tun? Vor 50 Jahren hat sich der Drama­tiker Heiner Müller in einem kurzen Text Gedanken über den bewussten Umgang mit Sprache und seiner Bedeu­tung für den Erhalt des sozialen Zusam­men­haltes gemacht. Er entwarf dabei ein utopi­sches Ideal des poli­tisch bewussten Spre­chens, mit dem sich anders auf solche Aussagen wie jene von Chris­tian Lindner reagieren liesse.

Jacques-Louis David: Der Schwur der Hora­tier, 1784: Quelle: deacademia.com

Müller setzte sich in seinem Text mit einer antiken Sage ausein­ander, einer legen­dären Geschichte aus der Früh­ge­schichte Roms, in der die Vorherr­schaft der Stadt in Mittel­ita­lien noch durch die Konkur­renz des benach­barten Alba Longa bedroht war. Sie handelt von einem Zwei­kampf zwischen den Söhnen aus zwei patri­zi­schen Geschlech­tern, die für die beiden Städte antraten und in denen der römi­sche Vertreter aus der Familie der Hora­tier schließ­lich den Sieg erlangte. Zum tragi­schen Stoff wurde die Sage durch die verwandt­schaft­li­chen Bezie­hungen zwischen den beiden Fami­lien, mit der die Geschichte ihre ursprüng­liche Lehre erhielt: den Vorrang der patrio­ti­schen Pflicht­er­fül­lung vor den Bindungen der Familie, die der Ausgang der Sage noch einmal mit blutiger Drastik unter­streicht. Denn der sieg­reiche Hora­tier tötet bei seiner Heim­kehr die eigene Schwester, die den Tod ihres Verlobten aus Alba Longa betrauert, statt den Sieg der eigenen Stadt zu feiern.

Reine Worte statt klarer Begriffe

Mit dem engen Zusam­men­hang von heroi­schem Triumph im Zwei­kampf und grau­samem Schwes­ter­mord lud diese Geschichte bereits in der Antike zur juris­ti­schen wie mora­li­schen Ausle­gung ein. Cicero und Augus­tinus haben sich mit ihr ebenso befasst wie in späteren Zeiten Niccolò Machia­velli oder Pierre Corn­eille. Sie fanden in der Abwä­gung von helden­haftem Kampf und gemeinem Mord durchaus unter­schied­liche Bewer­tungen. Doch was ihre Inter­pre­ta­tionen einte, war der Versuch, den Schluss aus der Geschichte zu ziehen, sie auf einen Begriff zu bringen: Der Hora­tier – ein Sieger oder ein Mörder?

Plakat der Urauf­füh­rung, Schiller-Theater, Berlin, 1973; Quelle: picssr.com

Heiner Müller hingegen schuf mit seiner Bear­bei­tung des Stoffes eine Parabel, die die Probleme genau dieses Denkens seziert und auf seine sozialen Konse­quenzen befragt. Er machte die antike Sage dafür nur noch zum Ausgangs­punkt für das eigent­liche Problem seines Textes: die Bewah­rung des sozialen Zusam­men­haltes ange­sichts der schwie­rigen Entscheidung.

Im Mittel­punkt stehen nun die Bürger Roms, die ange­sichts der Frage: Sieger oder Mörder gespalten sind. Die Römer riefen gegen­ein­ander: | Ehrt den Sieger. | Richtet den Mörder. Auch hier sind es beide Seiten, die um klare Worte bemüht sind. Müller inter­es­sieren jedoch nicht die Argu­mente, die sich für diese oder jene Sicht­weise finden lassen. Er führt viel­mehr deren Unver­ein­bar­keit vor, die sich auch nicht mit dem real­po­li­ti­schen Argu­ment beiseite legen lässt, dass man auf den tapfersten Krieger der Stadt nicht verzichten könne. So setzt sich der Streit um den unteil­baren einen Täter der verschie­denen Taten fort, dessen Dilemma die unter­schied­li­chen Frak­tionen der Stadt schließ­lich klar benennen: Wenn der Mörder gerichtet wird | Wird der Sieger gerichtet. Wenn der Sieger geehrt wird | Wird der Mörder geehrt. Mit einer Stimme spre­chen die Bürger Roms erst, als sie sich nicht mehr zu entscheiden suchen. Auf die in der Gerichts­ver­hand­lung gestellte Frage, was denn nun getan werden soll, antwortet das Volk schließlich:

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Da ist der Sieger. Sein Name: Horatius.
Da ist der Mörder. Sein Name: Horatius.
Viele Männer sind in einem Mann.
Einer hat gesiegt für Rom im Schwertkampf.
Ein andrer hat seine Schwester getötet
Ohne Notwen­dig­keit. Jedem das Seine.
Dem Sieger den Lorbeer. Dem Mörder das Beil.

Und so wird der Hora­tier vom römi­schen Volk mit der glei­chen Ernst­haf­tig­keit zunächst als heroi­scher Sieger geehrt und anschlies­send als gewöhn­li­cher Mörder gerichtet. Anschlies­send lässt Müller den Vater des Geehrten und Gerich­teten zu Wort kommen, der mit Tränen­spur im Gesicht die Bürger Roms darum bittet, sich wenigs­tens jetzt zu entscheiden: Der Sieger ist tot, der nicht zu verges­sende | Solange Rom über Alba herr­schen wird. | Vergeßt den Mörder, wie ich ihn vergessen habe.

In der Antwort der Stadt macht Müller deut­lich, wie wenig es ihm um das juris­ti­sche Problem der Bestra­fung eines Täters geht, für den Ehrung und Hinrich­tung äußerst ungleiche Konse­quenzen haben. Denn genau in der Frage, wie der Hora­tier genannt, wie in Zukunft über ihn gespro­chen werden soll, zeigt sich sein Text uner­bitt­lich: die Worte müssen rein bleiben. Und so fordert der Text ein Spre­chen, das rein­lich scheidet Schuld und Verdienst | Des unteil­baren Täters verschie­dener Taten, statt diese mit der Waage des Händ­lers gegen einander abwägt. Er findet dieses Spre­chen schließ­lich in der Verwei­ge­rung des einen Begriffs.

Und von den Römern einer fragte die andern:
Wie soll der Hora­tier genannt werden der Nachwelt?
Und das Volk antwor­tete mit einer Stimme:
Er soll genannt werden der Sieger über Alba
Er soll genannt werden der Mörder seiner Schwester
Mit einem Atem sein Verdienst und seine Schuld.

Unreine Wahr­heiten und die Bewah­rung des gesell­schaft­li­chen Konsenses

Dieses Ideal poli­ti­schen Spre­chens ist in der Realität unein­lösbar. Und über­haupt beschreibt Müllers Text ein ungleich grös­seres mora­li­sches Dilemma als es Lind­ners Anek­dote vom Bäcke­rei­be­such oder andere menschen­feind­liche Äuße­rungen demo­kra­ti­scher Poli­ti­ke­rinnen oder Publi­zisten darstellen. Aber der in dem Text sezierte Zusam­men­hang von poli­ti­schem Spre­chen und der Bewah­rung gesell­schaft­li­chen Konsenses ist dennoch hilf­reich für die aktu­elle Diskus­sion um den rich­tigen Umgang mit solchen Äuße­rungen. Verstanden als ein, wie Müller es in den letzten Versen seiner Ausle­gung der römi­schen Sage nennt – ein vorläu­figes Beispiel | Rein­li­cher Schei­dung, nicht verber­gend den Rest | der nicht aufging – ließe sich ihm zumin­dest dort nach­ei­fern, wo Ächtungs­ver­suche derzeit schei­tern. Dies würde einen Ausweg aus dem doppelten Dilemma weisen, das derzeit auf beiden Seiten besteht: Dieje­nigen, die versu­chen mit scharfen Begriffen den anti­ras­sis­ti­schen Konsens zu sichern, stoßen mit ihrer Schärfe anderen Nicht-Rechten vor dem Kopf und unter­mi­nieren so, was sie bewahren wollen. Dieje­nigen, die Lindner oder andere Spre­cher vor dem scharfen Rassisten-Vorwurf in Schutz nehmen, tragen immer auch zur Baga­tel­li­sie­rung des Gesagten bei.

Statt dem Versuch, gesell­schaft­liche Ächtung durch­zu­setzen, könnte in dieser Situa­tion von beiden Seiten in Anleh­nung an Müller ein Gespräch begonnen werden, das durch präzises Spre­chen und die Aner­ken­nung von Wider­sprüch­lich­keit der gesell­schaft­li­chen Spal­tung begegnet, an der rechte und extrem rechte Poli­tiker derzeit so emsig arbeiten. Wenn daran fest­ge­halten werden soll, dass bestimmte Posi­tionen und Geis­tes­hal­tungen schlicht „nicht gehen“ (wie es der Chef­re­dak­teur des konser­va­tiven CICERO anläss­lich von Lind­ners Rede nannte), können Äuße­rungen wie jene von Chris­tian Lindner nicht einfach über­gangen werden. Sie erfor­dern Kritik. Aber statt scharfer Worte, die auf die Ächtung des Spre­chers zielen, liesse sich auch in rein­li­cher Schei­dung die Grenz­ver­let­zung klar benennen ohne ihren Spre­cher auf sie fest­zu­legen. Von beiden Seiten würde dies erfor­dern anzu­er­kennen, dass viele Männer in einem Mann sind und etwa rassis­ti­sche Äuße­rungen aus jemanden nicht per se einen Rassisten machen, aber ebenso wenig ein libe­raler Poli­tiker per se vor (Alltags-)Rassismus gefeit ist. Es ist die unreine Wahr­heit, die es erlaubt, Kritik und gemein­same Normen zu formu­lieren, um nicht Spre­che­rinnen und Spre­cher, aber ihre Äuße­rungen klar zu ächten und in dieser Weise denje­nigen Konsens zu bewahren, den demo­kra­ti­sche Gesell­schaften weiterhin bedürfen.

 

Heiner Müllers Text Der Hora­tier wurde im Jahr seiner Urauf­füh­rung 1973 vom Süddeut­schen Rund­funk als Hörspiel arran­giert, das über die Inter­net­seite des Schweizer Radio SRF verfügbar ist.