Die Sprachpolitik unserer Zeit hängt am Begriff. Täglich lässt sich beobachten, dass vor allem rechte Politiker derzeit gezielt versuchen, die gesellschaftliche Debatte durch den bewussten Gebrauch von Begriffen zu bestimmen. Anti-Abschiebeindustrie, Umvolkung, Genderideologie, Kopftuchmädchen, Rapefugees, Gutmenschen – bei ihnen allen handelt es sich um Ideologie im klassischen Sinne: Denjenigen, die solche Begriffe einsetzen, geht es nicht darum, die Realität in Begriffen abzubilden, sondern darum, Realität durch Begriffe zu stiften. Sie sind das Ergebnis gezielter Begriffsstiftungen und Verbreitungsstrategien. Die heute show hat dies kürzlich anschaulich gezeigt, als sie vorgeführt hat, wie häufig Alexander Dobrindt in nur einem Fernsehinterview die Wendung „gewaltbereite oder kriminelle Asylbewerber“ verwendete: konsequentes Framing, um den Wörtern Wertungen einzuschreiben und die eigene Politik zu befördern. All diese Begriffe sind damit nicht nur ideologisch, sondern auch gewollt performativ, sie versuchen, Menschen und Sachverhalte auf eine Eigenschaft festzulegen, mediale Aufmerksamkeit und Empörung beim politischen Gegner zu provozieren und damit zur Simulation jener Bürgerkriegslage beizutragen, von der die Neue Rechte beständig schwadroniert.
Das kalte Kalkül, mit der zahlreiche rechte und ganz rechte Politiker derzeit an den Begriffen arbeiten, hat dazu geführt, dass sich auch liberal oder links verstehende Menschen um klare Worte bemühen. Der Aktionskünstler Philipp Ruch hat diese Position vor ein paar Tagen in der Welt am Sonntag mit dem Aufruf „Ächtet Sie!“ programmatisch formuliert: Rechte und extrem rechte Positionen seien derzeit deshalb auf dem Vormarsch, weil diese anders als noch vor wenigen Jahren „nicht mehr geächtet werden“. Noch 2002, so erinnert Ruch, hatte sich der damalige FDP-Politiker Jürgen Möllemann mit einem antisemitischen Wahlkampfflugblatt unmöglich gemacht. Er „wurde gesellschaftlich verurteilt und ausgeschlossen. Keine Zeitung, kein Fernsehsender fasste ihn mehr an.“ Björn Höcke hingegen werde von den Medien derzeit hofiert. Dabei verdienten „Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus und Menschenfeindlichkeit“ auch weiterhin die gesellschaftliche Ächtung. Und eben darum bemühen sich diejenigen, die derzeit etwa in den sozialen Netzwerken darauf bestehen, Nazis noch Nazis, Rassisten noch Rassisten nennen zu dürfen: Es brauche die klaren Worte, um rassistische und extreme Ansichten als solche zu brandmarken und den gesellschaftlichen Konsens über die Grenzen des demokratischen Diskurses zu bewahren.
Das Scheitern gesellschaftlicher Ächtungsversuche
Mit Blick auf Björn Höcke und andere (extrem) rechte Begriffsverdreher gibt es gute Gründe für diese Position. Doch die gegenwärtige Lage ist längst sehr viel komplizierter, als dass sie mit der klaren, ächtenden Bezeichnung von Personen und Gruppierungen am äußeren rechten Rand gelöst werden könnte. Denn menschenfeindliche Positionen lassen sich zur Zeit auch aus der Mitte der Gesellschaft vernehmen. Ob Ächtungen in diesen Fällen dazu beitragen können, den Konsens aller Nicht-Rechten zu bewahren, lässt sich durchaus bezweifeln. Derzeit lässt sich jedenfalls immer wieder anderes beobachten, jüngst etwa in der Diskussion, die ein anderer FDP-Politiker ausgelöst hat: Christian Lindner mit seiner Anekdote von der Fremdenangst in der Bäckerschlange. Anders als Dobrindt, Höcke und andere rechte Politiker arbeitete Lindner mit ihr nicht am Begriff. Aber seine Geschichte von der Angst, die Deutsche hätten, weil sie sich über den Rechtsstatus der mit ihnen anstehenden Ausländern nicht sicher sein könnten, enthält dennoch eine Vielzahl problematischer Unterstellungen, Vorannahmen und Fehlschlüsse, zu denen in den neuen und alten Medien schnell viel Richtiges und Wichtiges gesagt wurde – zu den enthaltenen fremdenfeindlichen Stereotypen, zur knallharten Bewertung von (geflüchteten) Menschen nach ihrer ökonomischen Nützlichkeit, zur stigmatisierenden Vermischung der Kategorien „Rechtsstatus“ und „Rechtschaffenheit“, zum anbiedernden Drang dieser Politikeranekdote nach Alltagsnähe, der doch nicht mehr als eine weltfremde Geschichte hervorgebracht hat: Wer macht sich beim morgendlichen Anstehen in der Bäckerei denn vor allem Gedanken über den Aufenthaltsstatus der vor ihm Wartenden?
Ebenso schnell jedoch ging es in der öffentlichen Diskussion kaum noch um die Äußerungen des FDP-Vorsitzenden, sondern um die Aufregung über diese. Christian Lindner sei kein „Rassist“ betonten verschiedene Zeitungskommentatoren und auch Politiker anderer Parteien von der CDU bis zu den Grünen. Man solle „die Kirche im Dorf lassen und jetzt nicht Herrn Lindner die Rassismuskeule überziehen“, ließ etwa Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) verlauten. Und auch andere sprachen von einer „unglücklich formulierten“, „schiefen“, „dusseligen“ Geschichte, die der aktuellen Aufregung nicht wert sei. Statt in Lindners Worten die Grenzverletzung zu erkennen, war etwa der NZZ die ganze Diskussion nur ein weiteres Beispiel für den vor allem durch die „Netzgemeinde“ betriebenen Verfall der Debattenkultur, die die „besonders laut Meinenden im Netz“ mit „ihrer Stimmungsmache und ihren schrillen Begriffen“ bestimmen würden. Und auch Christian Lindner selbst griff vor allem dieses Argument auf: Wer in seinen Äußerungen „Rassismus oder Rechtspopulismus“ erkennen wolle, sei „etwas hysterisch“ unterwegs.
Eine alte römische Sage: Der Horatier
Man kann diese Empörung über die Empörung falsch, verharmlosend oder selbst skandalös finden. Man kann beklagen, dass Lindners Äußerungen anders als bei Jürgen Möllemann keinen großen Skandal auslösten, sich Lindner für sie nicht einmal entschuldigen musste. Doch dies ändert nichts daran, dass der Versuch der Ächtung, durch klare Worte von links einen breiten antirassistischen Konsens zu bewahren, derzeit ihr Ziel verfehlen. Er ist fragwürdig geworden. Zwar ist die Ächtung, die „gemeinschaftliche Verdammung“, immer Ausdruck eines breiten Konsenses. Allerdings lässt sich Gemeinsames durch Ächtungsversuche nicht immer bewahren oder herstellen. Was also tun? Vor 50 Jahren hat sich der Dramatiker Heiner Müller in einem kurzen Text Gedanken über den bewussten Umgang mit Sprache und seiner Bedeutung für den Erhalt des sozialen Zusammenhaltes gemacht. Er entwarf dabei ein utopisches Ideal des politisch bewussten Sprechens, mit dem sich anders auf solche Aussagen wie jene von Christian Lindner reagieren liesse.

Jacques-Louis David: Der Schwur der Horatier, 1784: Quelle: deacademia.com
Müller setzte sich in seinem Text mit einer antiken Sage auseinander, einer legendären Geschichte aus der Frühgeschichte Roms, in der die Vorherrschaft der Stadt in Mittelitalien noch durch die Konkurrenz des benachbarten Alba Longa bedroht war. Sie handelt von einem Zweikampf zwischen den Söhnen aus zwei patrizischen Geschlechtern, die für die beiden Städte antraten und in denen der römische Vertreter aus der Familie der Horatier schließlich den Sieg erlangte. Zum tragischen Stoff wurde die Sage durch die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Familien, mit der die Geschichte ihre ursprüngliche Lehre erhielt: den Vorrang der patriotischen Pflichterfüllung vor den Bindungen der Familie, die der Ausgang der Sage noch einmal mit blutiger Drastik unterstreicht. Denn der siegreiche Horatier tötet bei seiner Heimkehr die eigene Schwester, die den Tod ihres Verlobten aus Alba Longa betrauert, statt den Sieg der eigenen Stadt zu feiern.
Reine Worte statt klarer Begriffe
Mit dem engen Zusammenhang von heroischem Triumph im Zweikampf und grausamem Schwestermord lud diese Geschichte bereits in der Antike zur juristischen wie moralischen Auslegung ein. Cicero und Augustinus haben sich mit ihr ebenso befasst wie in späteren Zeiten Niccolò Machiavelli oder Pierre Corneille. Sie fanden in der Abwägung von heldenhaftem Kampf und gemeinem Mord durchaus unterschiedliche Bewertungen. Doch was ihre Interpretationen einte, war der Versuch, den Schluss aus der Geschichte zu ziehen, sie auf einen Begriff zu bringen: Der Horatier – ein Sieger oder ein Mörder?

Plakat der Uraufführung, Schiller-Theater, Berlin, 1973; Quelle: picssr.com
Heiner Müller hingegen schuf mit seiner Bearbeitung des Stoffes eine Parabel, die die Probleme genau dieses Denkens seziert und auf seine sozialen Konsequenzen befragt. Er machte die antike Sage dafür nur noch zum Ausgangspunkt für das eigentliche Problem seines Textes: die Bewahrung des sozialen Zusammenhaltes angesichts der schwierigen Entscheidung.
Im Mittelpunkt stehen nun die Bürger Roms, die angesichts der Frage: Sieger oder Mörder gespalten sind. Die Römer riefen gegeneinander: | Ehrt den Sieger. | Richtet den Mörder. Auch hier sind es beide Seiten, die um klare Worte bemüht sind. Müller interessieren jedoch nicht die Argumente, die sich für diese oder jene Sichtweise finden lassen. Er führt vielmehr deren Unvereinbarkeit vor, die sich auch nicht mit dem realpolitischen Argument beiseite legen lässt, dass man auf den tapfersten Krieger der Stadt nicht verzichten könne. So setzt sich der Streit um den unteilbaren einen Täter der verschiedenen Taten fort, dessen Dilemma die unterschiedlichen Fraktionen der Stadt schließlich klar benennen: Wenn der Mörder gerichtet wird | Wird der Sieger gerichtet. Wenn der Sieger geehrt wird | Wird der Mörder geehrt. Mit einer Stimme sprechen die Bürger Roms erst, als sie sich nicht mehr zu entscheiden suchen. Auf die in der Gerichtsverhandlung gestellte Frage, was denn nun getan werden soll, antwortet das Volk schließlich:
Da ist der Sieger. Sein Name: Horatius.
Da ist der Mörder. Sein Name: Horatius.
Viele Männer sind in einem Mann.
Einer hat gesiegt für Rom im Schwertkampf.
Ein andrer hat seine Schwester getötet
Ohne Notwendigkeit. Jedem das Seine.
Dem Sieger den Lorbeer. Dem Mörder das Beil.
Und so wird der Horatier vom römischen Volk mit der gleichen Ernsthaftigkeit zunächst als heroischer Sieger geehrt und anschliessend als gewöhnlicher Mörder gerichtet. Anschliessend lässt Müller den Vater des Geehrten und Gerichteten zu Wort kommen, der mit Tränenspur im Gesicht die Bürger Roms darum bittet, sich wenigstens jetzt zu entscheiden: Der Sieger ist tot, der nicht zu vergessende | Solange Rom über Alba herrschen wird. | Vergeßt den Mörder, wie ich ihn vergessen habe.
In der Antwort der Stadt macht Müller deutlich, wie wenig es ihm um das juristische Problem der Bestrafung eines Täters geht, für den Ehrung und Hinrichtung äußerst ungleiche Konsequenzen haben. Denn genau in der Frage, wie der Horatier genannt, wie in Zukunft über ihn gesprochen werden soll, zeigt sich sein Text unerbittlich: die Worte müssen rein bleiben. Und so fordert der Text ein Sprechen, das reinlich scheidet Schuld und Verdienst | Des unteilbaren Täters verschiedener Taten, statt diese mit der Waage des Händlers gegen einander abwägt. Er findet dieses Sprechen schließlich in der Verweigerung des einen Begriffs.
Und von den Römern einer fragte die andern:
Wie soll der Horatier genannt werden der Nachwelt?
Und das Volk antwortete mit einer Stimme:
Er soll genannt werden der Sieger über Alba
Er soll genannt werden der Mörder seiner Schwester
Mit einem Atem sein Verdienst und seine Schuld.
Unreine Wahrheiten und die Bewahrung des gesellschaftlichen Konsenses
Dieses Ideal politischen Sprechens ist in der Realität uneinlösbar. Und überhaupt beschreibt Müllers Text ein ungleich grösseres moralisches Dilemma als es Lindners Anekdote vom Bäckereibesuch oder andere menschenfeindliche Äußerungen demokratischer Politikerinnen oder Publizisten darstellen. Aber der in dem Text sezierte Zusammenhang von politischem Sprechen und der Bewahrung gesellschaftlichen Konsenses ist dennoch hilfreich für die aktuelle Diskussion um den richtigen Umgang mit solchen Äußerungen. Verstanden als ein, wie Müller es in den letzten Versen seiner Auslegung der römischen Sage nennt – ein vorläufiges Beispiel | Reinlicher Scheidung, nicht verbergend den Rest | der nicht aufging – ließe sich ihm zumindest dort nacheifern, wo Ächtungsversuche derzeit scheitern. Dies würde einen Ausweg aus dem doppelten Dilemma weisen, das derzeit auf beiden Seiten besteht: Diejenigen, die versuchen mit scharfen Begriffen den antirassistischen Konsens zu sichern, stoßen mit ihrer Schärfe anderen Nicht-Rechten vor dem Kopf und unterminieren so, was sie bewahren wollen. Diejenigen, die Lindner oder andere Sprecher vor dem scharfen Rassisten-Vorwurf in Schutz nehmen, tragen immer auch zur Bagatellisierung des Gesagten bei.
Statt dem Versuch, gesellschaftliche Ächtung durchzusetzen, könnte in dieser Situation von beiden Seiten in Anlehnung an Müller ein Gespräch begonnen werden, das durch präzises Sprechen und die Anerkennung von Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Spaltung begegnet, an der rechte und extrem rechte Politiker derzeit so emsig arbeiten. Wenn daran festgehalten werden soll, dass bestimmte Positionen und Geisteshaltungen schlicht „nicht gehen“ (wie es der Chefredakteur des konservativen CICERO anlässlich von Lindners Rede nannte), können Äußerungen wie jene von Christian Lindner nicht einfach übergangen werden. Sie erfordern Kritik. Aber statt scharfer Worte, die auf die Ächtung des Sprechers zielen, liesse sich auch in reinlicher Scheidung die Grenzverletzung klar benennen ohne ihren Sprecher auf sie festzulegen. Von beiden Seiten würde dies erfordern anzuerkennen, dass viele Männer in einem Mann sind und etwa rassistische Äußerungen aus jemanden nicht per se einen Rassisten machen, aber ebenso wenig ein liberaler Politiker per se vor (Alltags-)Rassismus gefeit ist. Es ist die unreine Wahrheit, die es erlaubt, Kritik und gemeinsame Normen zu formulieren, um nicht Sprecherinnen und Sprecher, aber ihre Äußerungen klar zu ächten und in dieser Weise denjenigen Konsens zu bewahren, den demokratische Gesellschaften weiterhin bedürfen.
Heiner Müllers Text Der Horatier wurde im Jahr seiner Uraufführung 1973 vom Süddeutschen Rundfunk als Hörspiel arrangiert, das über die Internetseite des Schweizer Radio SRF verfügbar ist.