Ist der Universalismus der Aufklärung angesichts postkolonialer Kritik noch zu retten? Der Philosoph Omri Boehm glaubt an die Möglichkeit eines „radikalen Universalismus“ jenseits aller Geschichte. Andere sehen gerade in seiner menschlichen Relativität die Chance seiner Erneuerung.

Die Philo­so­phin Susan Neiman hat sich in ihrem jüngst auch auf Deutsch veröf­fent­lichten Buch Linkswoke (Berlin 2023) wort­reich für den Univer­sa­lismus der Aufklä­rung stark gemacht – und die „woke“ Linke dafür gescholten, dass sie ihn zusammen mit dem Anspruch auf die Gleich­heit aller Menschen angeb­lich verachte. Das ist zwar nach­weis­lich falsch, aber es ist Neiman immerhin zugute zu halten, dass ihr vordring­li­ches Motiv für ihre eher hemds­ärm­lige Vertei­di­gung des Univer­sa­lismus die Sorge um gleiche Rechte in Israel/Palästina ist. Dasselbe gilt auch für den weitaus subtiler argu­men­tie­renden israelisch-deutschen Philo­so­phen Omri Boehm, der für eine israelisch-palästinensische Einstaa­ten­lö­sung eintritt, weil er dezi­diert am Begriff des Univer­sa­lismus und am Anspruch fest­hält, gleiche Rechte für alle Menschen zu begründen – eine Haltung, die bis heute nichts von ihrer Aktua­lität und Brisanz einge­büßt hat. Boehm vertritt sogar einen „radi­kalen Univer­sa­lismus“, wie es im Titel seines gleich­na­migen Buches heißt (Berlin 2022). Doch funk­tio­niert auch dessen Begrün­dung? Und falls nicht – gäbe es Alternativen?

„Meta­phy­si­sche Abstraktion“

Boehms Argu­ment lautet, das alle auf bloßem Konsens basie­renden Werte, Wahr­heiten und Gerech­tig­keits­vor­stel­lungen immer nur relativ sein können und daher nicht die Kraft haben, wirk­liche oder gar „abso­lute“ Auto­rität auszu­üben. Gestützt auf Kant behauptet er, dass die aufklä­re­ri­schen Ideen umso besser begründbar und umso valider seien, je abstrakter sie sind – bezie­hungs­weise je weniger anthro­po­lo­gi­sche, histo­ri­sche, psycho­lo­gi­sche oder biolo­gi­sche Bezüge in ihnen steckten. Daher könne auch der an sich bedau­er­liche persön­liche Rassismus Kants diesen abstrakten Ideen nichts anhaben. Viel­mehr trete „para­do­xer­weise die Kraft von Kants abstraktem Begriff der Mensch­heit im Lichte seiner häss­li­chen Kommen­tare über Asiaten, schwarze Menschen und ameri­ka­ni­sche Urein­wohner nur umso deut­li­cher zutage“. Boehm nennt dieses erstaun­liche Verfahren „meta­phy­si­sche Abstrak­tion“ und behauptet: „Ohne die abstrakte Idee vom Menschen ist völlig unklar, was am Rassismus über­haupt falsch sein soll“.

Dieses Verfahren der Abstrak­tion, das die Geltung univer­seller Werte von jeder „welt­li­chen“ Begrün­dung ablöst, findet Boehm sogar – und etwas para­do­xer­weise – im Alten Testa­ment begründet. Es geht dabei um die Figur des Abraham, der seinen zürnenden Gott ange­sichts der drohenden Vernich­tung von Sodom und Gomorra anfleht: „Willst du denn den Gerechten mit dem Gott­losen umbringen? […] Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gott­losen, sodass der Gerechte gleich wäre wie der Gott­lose. Das sei ferne von dir!“ (1. Buch Moses, Kapitel 18) Boehm behauptet nun, dass Abraham sich mit dieser Rede auf eine Gerech­tig­keit bezogen habe, die „noch grösser“ oder „noch univer­seller“ sei als Gott selbst – eine „abso­lute Gerech­tig­keit“, der auch Gott sich beugen müsse und eben auch gebeugt habe.

Allein, ist das so? Bei Lichte besehen, scheint doch Abraham in dieser Geschichte Gott gegen­über auf nichts anderem als auf Logik und Konsis­tenz bestanden zu haben. Denn wahl­loses Bestrafen verhält sich inkon­sis­tent zu der im Begriff der Strafe selbst enthal­tenen Norm, dass der Unge­rechte und Frevler bestraft werden müsse, nicht aber der Gerechte – und wäre daher selbst unge­recht, was Gott nicht wollen könne. Der logi­sche Schluss, mit dem Abraham Gott gleichsam in den Arm fällt, ist mit anderen Worten in den Kontext der von Gott und Abraham gemeinsam geteilten Annahme einge­lassen, dass Unge­rechte und Frevler eben die Todes­strafe verdienen. Hätte Abraham behauptet, ab und zu ein wenig Frevel sei doch nur mensch­lich, hätte er seinen Gott kaum über­zeugt. Dass dieser sich aber über­zeugen ließ, hat dieser Geschichte zufolge mit Konsis­tenz­an­for­de­rungen und der zwin­genden Macht eigener Normen zu tun – nicht aber mit einer imagi­nären „abso­luten Gerech­tig­keit“, die „noch univer­seller“ wäre als Gott selbst.

Die Idee der „Mensch­heit“

Univer­selle Werte impli­zieren zunächst einmal Konsistenz-Erwartungen – etwa in moderner Weise: Wenn doch alle Menschen gleich sind, wie du behaup­test, warum behan­delst du dann diese oder jene Gruppe ungleich? Dazu braucht es keine meta­phy­si­sche Begrün­dung. Vor allem aber scheinen Univer­sa­lien nur unter der Voraus­set­zung zu funk­tio­nieren – und das wäre natür­lich genau das libe­rale, konsen­suale Argu­ment, das Boehm erstaun­li­cher­weise mit aller Schärfe ablehnt –, dass die Konsis­tenz­an­for­de­rung auf einem gemeinsam geteilten Refe­renz­system beruht, nach dem Muster „wie du behaup­test und wie ich auch glaube“. Dieses Refe­renz­system aber kann nicht voll­ständig abstrakt sein – es muss viel­mehr zwin­gend irgend­eine von allen Betei­ligten als wahr oder ethisch richtig ange­nom­mene Aussage enthalten (und wenn es die ist, dass Frevler bestraft werden müssen). Boehm scheint dem nur gerade inso­weit zuzu­stimmen, als er auf die Kanti­sche Forde­rung abhebt, ein Mensch dürfe nie nur als Mittel behan­delt werden, sondern immer auch als Zweck an sich. Die so postu­lierte Würde des Menschen könne daher nicht, so Boehm mit Kant, wie etwa in der Skla­verei auf einen Wert oder Preis redu­ziert werden, weil sich sonst „die Grund­vor­aus­set­zung aller Werte und damit das Funda­ment jegli­cher Auto­rität“ auflöst.

Diese angeb­liche Voraus­set­zung von Sitt­lich­keit und Auto­rität über­haupt lässt aller­dings nicht nur Kants eigenen Rassismus seltsam unbe­rührt; die Behaup­tung einer solchen angeb­li­chen Voraus­set­zung schei­tert vor allem ekla­tant an der Realität des vier­hun­dert Jahre währenden trans­at­lan­ti­schen Skla­ven­han­dels, der von euro­päi­schen Mächten genau in der Zeit betrieben wurde, als sie ihre Vorstel­lungen von Sitt­lich­keit zuneh­mend von reli­giös auf philo­so­phisch umstellten, ihre staat­liche Auto­rität und ihre Rechts­sys­teme in natio­nalen Rahmen aufbauten und von der Würde zumin­dest weißer Menschen mehr oder minder feste Über­zeu­gungen hegten. Sitt­lich­keit, Werte und Auto­rität für die einen sind durchaus mit Skla­verei und Ausbeu­tung für die andern kompa­tibel. Kants Idee von der Würde des Menschen und die davon abge­lei­tete Idee der „Mensch­heit“ als solcher sind zwar ohne Frage auch heute noch zu vertei­di­gende norma­tive Leit­planken – aber sie sind schwache mensch­liche Erfin­dungen, keine meta­phy­si­schen Anker­punkte im Himmel der Abstrak­tion. Da sie mensch­liche Erfin­dungen sind, haben sie nicht die Kraft, als Bedin­gung der Möglich­keit von univer­sellen Werten über­haupt und überall auf der Welt zu fungieren. Boehms Himmel der Abstrak­tion ist kalt und die abstrakte Idee der „Mensch­heit“ leer.

Man kann Boehms Versuch, die aufklä­re­ri­schen Werte gegen alle Evidenz als „absolut“ zu begründen, an sich löblich finden –, doch dieser Versuch ist in gera­dezu exem­pla­ri­scher Weise geschei­tert. So rettet man die Aufklä­rung nicht, vor allem dann nicht, wenn dieser Rettungs­ver­such wie bei Boehm ganz offen­sicht­lich illi­be­rale Züge annimmt, etwa wenn er „auf dem Vorrang der Wahr­heit vor dem Konsens, der Meta­physik vor der Verfas­sung“ besteht, oder wenn er hinsicht­lich der Geltung dieser Wahr­heiten sagt: „Univer­seller Geltungs­be­reich und univer­selle Auto­rität gehen Hand in Hand“. Man möchte sich kaum von irgendwas wünschen, es habe „univer­selle Auto­rität“. Und es scheint auch klar zu sein, dass es meist dieser Bezug auf „abso­lute“ Werte und „abso­lute“ Wahr­heiten ist, der poli­ti­sche oder reli­giöse Gewalt recht­fer­tigt – und nicht „Werte­re­la­ti­vismus“, „libe­raler Konsens“ oder „die Verfas­sung“. Menschen, die „abso­lute“ Werte prokla­mieren, sind in der Regel ziem­lich schlecht darin, die Werte anderer anzuerkennen.

„Es gibt nur eine Welt“

Lorenzo Quinn: „Buil­ding Briges“, Venice Bien­nale 2019; Quelle: worldarchitecture.com

Spätes­tens an diesem Punkt wünscht man sich eine menschen­freund­li­chere, ja mensch­li­chere Aufklä­rung, als sie Boehm vor Augen steht. Es führt kein Weg daran vorbei, aufklä­re­ri­sche Werte als menschen­ge­machte und histo­risch geprägte, in gehalt­volle Refe­renz­sys­teme einge­las­sene und nicht zuletzt auf die mensch­liche Körper­lich­keit bezo­gene Werte zu vertei­digen. Wie das viel­leicht gehen könnte, zeigen in unter­schied­li­cher, aber auch exem­pla­ri­scher Weise die Vorschläge von Achille Mbembe und Jule Govrin, die ich hier kurz disku­tieren möchte.

Mbembe skiz­ziert seine Idee eines neuen Univer­sa­lismus am Ende von Kritik der schwarzen Vernunft (frz. 2013) unter dem Titel „Es gibt nur eine Welt“. Er fordert, sich an eine, wie er sagt, „unmit­tel­bare und unab­wend­bare Gege­ben­heit zu erin­nern, deren Ursprung zwei­fellos am Beginn der Moderne liegt – nämlich an den unum­kehr­baren Prozess der Verqui­ckung und Verschach­te­lung der Kulturen, Völker und Nationen“. Es waren, mit anderen Worten, die modernen Kräfte des globalen Verkehrs, des Handels und der Kommu­ni­ka­ti­ons­technik, aber auch der Kriegs­züge und ganz beson­ders des Kolo­nia­lismus und des trans­at­lan­ti­schen Drei­eck­han­dels mit Sklaven und Zucker, die seit dem Beginn der Moderne gleichsam die mate­ri­ellen Voraus­set­zungen dafür geschaffen haben, dass es „nur eine Welt gibt“.

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Dieses mate­ria­lis­ti­sche Argu­ment, das auf den wirt­schaft­li­chen, tech­ni­schen und mili­tä­ri­schen Vernet­zungen und Verflech­tungen seit dem Beginn der Moderne abhebt, beschreibt die reale Bedin­gung der Möglich­keit einer Idee der „Mensch­heit“. Sie erst bildet, so Mbembe, die Voraus­set­zung dafür, Mensch­lich­keit in einem nicht ausschlie­ßenden, keinen Rassismus oder Kolo­nia­lismus mehr tole­rie­renden, mithin tatsäch­lich univer­sellen Sinne denken zu können. Das bedeutet aber natür­lich nicht, dass sich diese Idee und dieses Bewusst­sein einfach so durch­setzen. Mbembe spricht viel­mehr davon, die Welt der Menschen bedürfe in doppelter Weise der Sorge, der Repa­ratur und der Repa­ra­tion, ja der Entschä­di­gung und Wieder­gut­ma­chung. Zum einen ist das die ökolo­gi­sche Sorge um die ständig notwen­dige Repa­ratur der Natur, wie dies im afri­ka­ni­schen Bild des Samen­korns symbo­li­siert werde, das dank Hege und Pflege immer wieder neues Leben hervorbringt.

Zum anderen aber gehe es heute darum, „jenen, die in der Geschichte einen Prozess der Abstrak­tion und Verding­li­chung erfahren haben, den ihnen geraubten Teil an Mensch­lich­keit zurück­zu­er­statten“. Dazu seien in einem konkreten, ökono­mi­schen Sinne „Repa­ra­tion, Wieder­gut­ma­chung und Entschä­di­gung“ notwendig, denn diese würden – und es klingt fast so, als spräche Mbembe direkt mit Omri Boehm– „den Kern der Möglich­keit […] zur Herstel­lung univer­seller Gerech­tig­keit bilden“. Die Aner­ken­nung des Anderen, die Aner­ken­nung seiner Mensch­lich­keit seien, so Mbembe durchaus im Sinne von Boehm, unver­zicht­bare Voraus­set­zungen für „die Idee des Selbst, der Gerech­tig­keit, des Rechts oder der Mensch­lich­keit“. Aber, und das ist für Mbembe entschei­dend, diese Voraus­set­zungen hätten ihrer­seits zur Bedin­gung, dass histo­ri­sches Unrecht, Verlet­zungen und Wunden, die die Geschichte hinter­lassen hat, wieder­gut­ge­macht, entschä­digt und repa­riert werden. Sonst blieben sie gleichsam im kalten Himmel der Abstrak­tion hängen.

„Univer­sa­lismus von unten“

Während es also bei Mbembe Wieder­gut­ma­chung, Repa­ra­tion und Entschä­di­gung sind, die den univer­sa­lis­ti­schen Werten der Aufklä­rung ihre Substanz zurück­geben sollen, ist dies bei der Philosoph:in Jule Govrin – und, full disclo­sure, unter anderem auch GdG-Redakteur:in – die Bezie­hung zwischen Körpern. In Govrins Buch Poli­ti­sche Körper. Von Sorge und Soli­da­rität (2022) geht es darum, das scheinbar körper- und geschlechts­lose aufklä­re­ri­sche – und „univer­selle“ – Subjekt wieder auf seine wesens­mä­ßige Verwund­bar­keit und Sorge­be­dürf­tig­keit zurück­zu­führen. Govrin argu­men­tiert aus der Perspek­tive eines „Univer­sa­lismus von unten“, dass es nicht auto­nome Vernunft­sub­jekte seien, denen allein dank eines Verfah­rens der Abstrak­tion, das heißt in Abse­hung von allen konkreten histo­ri­schen, sozialen und körper­li­chen Bedin­gungen, „gleiche Rechte“ zukommen sollen, sondern gerade umge­kehrt, dass man immer von konkreten Menschen in spezi­fi­schen, ja lokalen Situa­tionen und Abhän­gig­keiten ausgehen müsse. Das sind Menschen, so Govrin, mit verletz­li­chen und begeh­renden, aufein­ander ange­wie­senen Körpern, die den Anspruch auf Aner­ken­nung, Rechte und Gleich­heit sei’s erkämpfen, sei’s in Prak­tiken der Sorge und der Soli­da­rität wech­sel­seitig realisieren.

Diese immer nur parti­ku­laren und lokalen Kämpfe oder Bezug­nahmen aufein­ander – also zum Beispiel Stra­ßen­kü­chen für Arme oder Nothilfen für Geflüch­tete – werfen natür­lich die Frage auf, worin denn nun das Allge­meine und Verall­ge­mei­ner­bare, ja das Univer­selle solcher Prak­tiken bestehe. Govrin gibt darauf eine drei­fache Antwort: Erstens würden solche lokalen Prak­tiken von Sorge und Soli­da­rität von der Einsicht getragen, dass wir eben alle glei­cher­maßen vulnerable Menschen sind. Der Bezug auf den Körper ist zentral, weil „Gleich­heit […] von den Körpern kommt“, die „den glei­chen Schutz­an­spruch und das Sorge­be­dürfnis aller Körper“ haben. Gleich­heit also nicht, weil alle Körper „gleich“ wären, sondern Gleich­heit in diesem Aufeinander-Bezogensein.

Zwei­tens argu­men­tiert Govrin, dass in den lokalen Prak­tiken der Sorge und Soli­da­rität hete­ro­gene Netze von soli­da­ri­schen Bezie­hungen entstünden, die anstelle der abstrakten Allge­mein­heit univer­seller Werte so etwas wie Gleich­heit in konkreter, nach­voll­zieh­barer Weise reali­sieren: „An die Stelle von starren univer­sa­lis­ti­schen Normen treten Poli­tiken der Univer­sa­li­sie­rung“. Das bedeute nicht, die aufklä­re­ri­schen Werte und Ideen über Bord zu werfen, viel­mehr folgten auch diese lokalen Poli­tiken „der Idee einer univer­sellen Gleich­heit“. Mit anderen Worten: Die philo­so­phi­sche Frage, die Govrin stellt, lautet nicht, wie man diese Idee „letzt­lich“ begründen könne, sondern wie sie sich reali­sieren lässt, da es sie de facto ja gibt – woher sie auch kommen mag.

Es ist offen­sicht­lich, dass diese Konzep­tion eines „Univer­sa­lismus von unten“ eine erkenn­bare Schwäche hat: Die Frage, wie solche Prak­tiken der Sorge und Soli­da­rität ohne formale Gesetze und Insti­tu­tionen, die sie stützen und ihre Ansprüche auf Dauer stellen, über einen lokalen und zeit­lich begrenzten Radius hinaus Geltung bean­spru­chen, bleibt offen. Man könnte sagen, dass dort, wo Omri Boehm zu abstrakt und allge­mein ist, Govrin zu konkret und lokal bleibt. Zur Vertei­di­gung von Mensch­lich­keit, so ließe sich daher einwenden, braucht es auch menschen­ge­machte Gesetze und Verfas­sungen, die erkämpfte Formen von Gleich­heit, wie bruch­stück­haft sie auch sein mögen, auf Dauer stellen und einklagbar machen. Diese sind nicht „absolut“, sondern menschen­ge­macht, aber sie sind auch nicht nur lokal und allein unmit­tel­bare Effekte von lokalen Prak­tiken. Govrin impli­zites Gegen­ar­gu­ment lautet aller­dings, dass unter den Bedin­gungen popu­lis­ti­scher Angriffe auf den Grund­satz mensch­li­cher Gleich­heit, Natio­nal­staaten und ihre Rechts­sys­teme nicht mehr fraglos sichere Garanten solcher Rechte darstellen und daher zuneh­mend Bewe­gungen „von unten“ nötig werden, um diese Rechte immer wieder zu erkämpfen oder zu vertei­digen – wenn auch um den Preis eines lokalen Flickenteppichs.

Dazu kommt aber noch ein Drittes. Govrin argu­men­tiert, dass die Univer­sa­lität der zu vertei­di­genden aufklä­re­ri­schen Werte heute gewis­ser­maßen ihr funda­mentum in re in den jüngsten Erfah­rungen globaler Krisen finde, das heißt in der Corona-Krise und in der Klima­krise. Während Corona zeigte, dass „unsere Abhän­gig­keit auch weit entfernte Körper erfasst“, wurde in der Klima­krise die „Verwo­ben­heit von Körpern und Umwelt“ deut­lich, mithin die „Untrenn­bar­keit von ökolo­gi­scher und mensch­li­cher Verwund­bar­keit und Abhän­gig­keit“. Auch diese Erfah­rungen kann man also – und in ähnli­cher Weise wie bei Mbembe – als die sehr mate­ri­ellen, sehr konkreten Bedin­gungen der Möglich­keit verstehen, die Univer­sa­lität der Idee „Mensch­heit“ neu zu denken.

Die besten Ideen

Die Selbst­si­cher­heit des Univer­sa­lismus der Aufklärer aus dem 18. Jahr­hun­dert ist uns gründ­lich abhan­den­ge­kommen – und deren bloße Beschwö­rung gegen die Geister einer angeb­lich „woken“ Linken wie bei Neiman hilft nicht weiter. Man darf sich schon mit der Histo­ri­kerin Susan Buck-Morss (Hegel und Haiti, 2004) daran erin­nern, dass die Heroen des Siècle des Lumières zwar wort­reich die escla­vage „des“ Menschen kriti­siert haben, für die konkrete Verskla­vung von Millionen von dunkel­häu­tigen Menschen und deren brutale Ausbeu­tung gerade auf den hoch­pro­fi­ta­blen fran­zö­si­schen Zucker­plan­tagen in der Karibik nicht viel mehr als ein Schul­ter­zu­cken übrig­hatten. Dennoch gibt es keinen Grund, auf ihre besten Ideen zu verzichten. Daher könnte Aufklä­rung heute bedeuten, den Begriff der Mensch­heit durch die Entschä­di­gung histo­ri­schen Unrechts zu erneuern – und die Idee der Gleich­heit durch viel­fäl­tige Prak­tiken des Füreinander-Sorgens. Philo­so­phi­sche „Letzt­be­grün­dungen“ braucht es dafür nicht.