
Wer über ein gutes Erinnerungsvermögen verfügt, dem könnte Putins Vorbereitungsrhetorik vor dem Krieg wie ein Echo desselben Texts erscheinen, den serbische Nationalisten als Einstimmung zum Krieg der 1990er Jahre in den Ruinen des jugoslawischen Staates darboten. Die Parallelen in der politische Feindschaft und nationalen Hass schürenden Rede- und Sprechweise sind so auffallend, dass sie für sich sprechen, auch ohne sich in den – weitgehend dunklen – geschichtlichen Hintergrund zu vertiefen. Eine herausragende Position nimmt in dieser Hassrhetorik der Begriff des „Genozids“ ein. Er begann seine „Karriere“ als verbaler Totschläger in Serbien Mitte der 1980er Jahre, und zwar – im Unterschied zum von Anfang an politischen Lügennarrativ Putins – zunächst in literarischen und feuilletonistischen Nationalistenkreisen.
Schriftsteller, Mitglieder der serbischen Akademie, deren Nimbus schon immer auf Einbildung beruhte, selbsternannte Wissenschaftler, nabelschauende Nationalhistoriker schäumten vor Wut, weil sie meinten, große Verbrechen am serbischen Volk seien ignoriert, verschwiegen oder verfälscht worden. Besonders die bestialischen Verbrechen im berüchtigten Ustascha-Lager Jasenovac während des Zweiten Weltkrieges in Kroatien hielten die serbischen Nationalisten für allgemein verniedlicht dargestellt. Das Entstehen eines solchen Diskurses wurde begünstigt durch das tatsächliche Ausbleiben einer kritischen historischen Forschung in der ideologisierten marxistischen Historiographie jener Zeit, doch geleugnet wurde der durch das Ustascha-Regime begangene Genozid keineswegs. Die nationalistischen Serben bestanden aber auf immer größeren serbischen Opferzahlen (eo ipso eine perverse Idee); einer „errechnete“ sogar, dass in Jasenovac 3 Mio. Serbinnen und Serben umgebracht worden seien, also etwa fast doppelt so viele wie auf dem damaligen Herrschaftsgebiet der Ustascha überhaupt gelebt hatten. Andere Opfer wurden sowieso nie erwähnt.
Mit solchen Sprachmitteln wurde die verbale Mobilisierung in Belgrad betrieben. Die dramatisch und pathetisch inszenierte Opferrolle diente dem Entfachen von Hass, und zwar nicht irgendwelchen konkreten Tätern, sondern gleich einem ganzen Volk gegenüber. Wenn auch zunächst auf die Vergangenheit projiziert, blieben der Hass auf die Kroaten als Feindbild und dann als Kriegsantrieb bis in die Gegenwart hinein haften.
Als nächstes erschien den Nationalisten in den 1980er Jahren die Abrechnung an einer anderen Front als dringender. Es waren die Albaner in der autonomen Provinz Kosovo, die als höchste Bedrohung präsentiert wurden. Warum? Eigentlich waren es nachvollziehbare demographische Änderungen in der Provinz, die dazu führten, dass immer mehr serbische Bewohner die Region verließen und nach Serbien, wo sie eher ein Auskommen finden konnten, übersiedelten. Die Nationalisten erinnerten sich aber daran, dass der Kosovo als mythische Wiege der Serben gegolten hatte und konstruierten eine Geschichte, wonach die Albaner die Serben durch einen Genozid aus der Provinz verdrängen wollten – einer Provinz, in der viele Serben ohnehin nicht leben wollten. Diese Gefahr war so real wie der „Genozid“ der Ukrainer an den Russen in der Putin’schen Saga.
Erdichtung von Genoziden
Diese ersten Schritte des Kriegsvorspiels haben die Wirkung einer sprachlichen Aggression, die Angst erzeugt, aber nicht selten von der Umgebung auch heruntergespielt wird: Es seien zwar üble Verunglimpfungen und Lügen, aber eben doch nur Worte. Bei näherem Hinsehen tritt ein Plan hervor: Das Schwadronieren über Einverleibung von Teilen der Territorien der beschimpften Republiken oder Völker zielt immer auf eine Umsetzung dieser Vorhaben. Parallel wird anderen Völkern aberkannt, dass sie überhaupt ein Existenzrecht als Völker beanspruchen können: So seien Albaner kein Volk, Kroaten bloß katholische Serben, Bosniaken eben muslimische. Die gleiche sprachliche Strategie verfolgt auch die Putin’sche Leugnung des Existenzrechts von Ukrainern. Gefangene Kroaten und später Bosniaken mussten in Lagern serbische Lieder singen und sich als Serben bekennen. Die russischen Besatzer gehen in den von ihnen kontrollierten Gebieten sogar noch effektiver vor: Sie vernichten einfach alles Ukrainische durch Umstellung von Schulen aufs Russische, das Austauschen ukrainischer Fernsehkanäle durch russische und so weiter. Das Absurde dieses Narrativs, dass dann die Serben nicht „angebliche“ Kroaten, sondern eben Serben, die Russen nicht „angebliche“ Ukrainer, sondern aus ihrer Sicht Russen töten, scheint ihren Produzenten noch nie in den Sinn gekommen zu sein. Auch die „These“ über einen drohenden Genozid wird so unhaltbar.

Angriff auf Dubrovnik im November 1991, Quelle dw.com
Aber Widersprüche sind in diesem Denksystem völlig nebensächlich. Die Sprache ist bloß ein Instrument, das mal zu einem Zweck und mal zu einem anderen benutzt wird. Lügen ist in dieser Logik ebenso wenig verwerflich. Milošević verließ sich auf die in der nationalistischen Szene etablierten Narrative – vom „Genozid“ bis zur Rückholung „alter serbischen Länder“ – und übernahm das Organisatorische der Umsetzung. Milošević sagte: „Serbien ist nicht im Krieg“. Putin sagt: „Wir führen bloß eine militärische Spezialoperation“ oder „bombardiert werden nur militärische Ziele – mit Präzisionswaffen!“ oder „die russische Armee greift keine zivilen Ziele an!“. Belgrad bestritt, dass seine Kräfte Dubrovnik bombardierten. Die Erklärung für die entsprechenden Fernsehbilder: „Die Kroaten verbrennen Autoreifen.“ Alternativ: Dort kämpfen „kurdische Söldner“ gegen die JVA (Jugoslawische Volksarmee). „Ausländische Söldner“ ist auch eine auch von Russland geliebte Insinuation. Nach der Bombardierung des Regierungssitzes in Zagreb leugnete die serbische, fälschlich unter dem Namen „jugoslawische“ operierende, Luftwaffe, Bomben abgeworfen zu haben, vielmehr seien es die Kroaten selbst gewesen – auch wenn diese keine Kampfflugzeuge hatten. Bosnische Serben leugneten, die Mörsergranate auf den Marktplatz von Sarajevo, die über 60 Menschen tötete, abgefeuert zu haben, und behaupteten, es seien die „Moslems“ selbst gewesen, um sich als Opfer zu inszenieren. Die unwiderlegbaren Beweise konterten sie mit einer hanebüchenen Version von einem unter dem Pflaster verstecktem Sprengstoff, doch als dies nicht überzeugte, hatten sie gleich die nächste ‚Wahrheit‘ parat.
Russland bot auch mehrere Wahrheiten nacheinander, um die Verantwortung für den Abschuss des malaysischen Flugzeugs mit fast 300 Passagieren an Bord über der (besetzten) Ostukraine im Juli 2014 von sich zu weisen. Jetzt im Krieg machen sie sich nicht so viel Mühe und erklären alles, was belastend erscheint, zu Lüge, Inszenierung, Propaganda und bedienen sich in den Massenmedien ebendieser „Methoden“.
„Beschützen“ von Minderheiten durch Waffenübermacht
Die bevorzugte Methode dieses militärischen „Beschützens“ des „eigenen“ Volkes in einem anderen Staat ist das Beschießen von zivilen Zielen in diesem Staat. Die Aggression beginnt oft mit der Usurpation von Territorien und der Souveränität des Staates durch eben diese zu beschützende Minderheit. Die begleitende Ideologie beruht auf einer Ethnisierung der im Grunde politischen Gegner. In Kroatien 1991 waren dies „die Serben“ und in der Ukraine „die Russen“, deren Rebellionen sich hauptsächlich gegen eine neue demokratische politische Ordnung und Orientierung nach Europa richteten. Selbstverständlich wurden diese als Faschisten und Feinde beschimpft: Kroaten seien (allesamt) Ustaschas, Ukrainer Nazis. Wie absurd diese ethnisierende Ideologie ist, bezeugt das Faktum, dass in Zagreb damals, nach der damaligen Volkszählung, zumindest doppelt so viele Menschen lebten, die sich als „serbisch“ bezeichneten, als in den Gebieten der Aufständischen.

Gedenken in Sarajevo an Krieg und 1425 Tage Belagerung zwischen 1992 und 1996: 50 000 Menschen wurden verletzt, 11 541 verloren ihr Leben – darunter 643 Kinder. Quelle: dw.com
Nach den vorprogrammierten Auseinandersetzungen griff die zentrale Macht, der „Mutterstaat“, ein. In Kroatien wurde als erstes ein kleines, wohl als kroatisch eingestuftes Dorf (mit dem bemerkenswerten Namen Kijevo) plattgebombt. Der einzige vorstellbare Grund: Es befindet sich in der Nähe der Zone im dalmatinischen Hinterland, wo mehrheitlich Serben lebten. Somit war dies das erste Signal für das, was folgen sollte. Danach wurden viele weitere Städte zunächst zerbombt, danach eingenommen und die Bevölkerung vertrieben. Die bekannteste ist wohl Vukovar, die Stadt an der Donau; diese Taktik wurde auch in Bosnien-Herzegowina angewendet. Aus den Bergen von Sarajevo befahl der berüchtigte Ratko Mladić seinen Truppen: schießt auf Pofalići (Stadtteil), dort gibt es wenig Serben. Nach ähnlichem Schema geht anscheinend auch Russland in der Ukraine vor, doch alles in einer viel größeren, weltpolitischen Dimension: die russische Zerstörungswucht und -wut ist einmalig.
Und so kommt man zum entscheidenden Unterschied. Europäische Politiker haben sich von Beginn an in den Konflikt zwischen den ex-jugoslawischen Teilstaaten eingemischt, ohne sich allerdings ausreichend darüber zu informieren, was ihm vorausging. Sie versuchten, „neutral“ zu vermitteln – zwischen allen Seiten. Die Ursache der Konflikte wollten sie nicht erkennen, auch dann nicht, als diese mit Waffen ausgetragen wurden. D.h. sie wollten nicht zwischen den Angreifern und den Angegriffenen unterscheiden. Diese Taktik wurde auch gegenüber und zulasten der Ukraine nach der russischen Aggression von 2014 angewendet und wurde bei der sogenannten „Minsker Vereinbarung“ besonders stur von der deutschen Kanzlerin verfolgt. Gleichzeitig verdrehten die serbischen Medien jedes Kriegsereignis in sein Gegenteil, verschwiegen alles – Massenmorde, Zerstörungen, Internierungslager, Massenvertreibungen –, was sich nicht so einfach verfälschen ließ, und schwadronierten stattdessen über einen Genozid an den Serben. Wie jetzt die Russen, sicherten die Serben damals gelegentlich humanitäre Korridore aus belagerten Städten zu, um sie zu beschießen und die Verletzung der Feuerpause der Gegenseite in die Schuhe zu schieben. Und diverse internationale Vermittler und humanitäre Organisation vor Ort sprachen auch in diesem Fall von einer Schuld auf beiden Seiten und wollten den Verantwortlichen nicht benennen.
Das ist der Unterschied zur Ukraine, einerseits, und zwar damals mit fatalen Folgen: Friedensverhandlungen zu führen, ohne sich über den Aggressor im Klaren zu sein, kann nicht fruchten, wie man sie jetzt in den Nachfolgestaaten – insbesondere in Bosnien-Herzegowina – sehen kann. Andererseits konnte Milošević im Unterschied zu Putin nicht alles machen, was er wollte, und musste sich dem Druck beugen bzw. zuletzt doch in Friedenslösungen gemäß westlicher, vor allem amerikanischer politischer Vorstellungen einwilligen. Sie erlaubten ihm übrigens auch eine „Gesichtswahrung“. Nie ist von „Gesichtswahrung“ die Rede, wenn man von kroatischen oder bosnischen Politikern spricht. Die Ukrainer haben sich die Hochachtung erst durch den unermesslichen Blutzoll verdient, als man dem Land den EU-Kandidatenstatus versprach. In solche Art Verhandlungen à la „Dayton“ würde Putin niemals einwilligen, weshalb auch eine ähnliche Friedenslösung wie jene mit Milošević in Dayton 1995 undenkbar ist. Milošević war eigentlich militärisch am Ende; die realistisch mögliche Niederschlagung der serbischen Streitkräfte in Bosnien durch alliierte kroatische und bosniakische Armeen hatten die Amerikaner geblockt, wie der damalige Hauptverhandlungsführer Richard Holbrooke selbst zugab.
Russland hingegen muss nicht befürchten, dass seine Waffenarsenale sich bald leeren könnten. Knapp wird es für Putin beim „Menschenmaterial“, und seine „Teilmobilisierung“ vom September scheint ihm keine große Abhilfe zu schaffen. Für alle Fälle erinnert Putin immer wieder daran, dass er auch über Atomwaffen verfügt. Eine Situation, in der der Westen einen Frieden à la Dayton vermittelt, ist jedenfalls unvorstellbar. Milošević hat damals sein Momentum nicht ausnützen können, das er sich durch die Vereinnahmung der von allen Staatsangehörigen über die Jahre aufgebauten Armee verschaffte, die trotz immensen materiellen Vorteils an Logistik, Ressourcen und Waffen auf heftigen Widerstand in Slowenien und Kroatien stieß. Doch immer weniger Serben wollten noch freiwillig in den Krieg ziehen, und eine Mobilisierung kam für ihn nicht in Frage. Jedenfalls gab Milošević bei den Verhandlungen weiterhin den starken Mann und kam damit durch. In darauffolgenden vier Jahren baute er aus den brutalsten Kriegern, Milizen und Killertruppen neue Spezialeinheiten bei Armee und bei der Polizei auf; diese sollten 1999 den Kosovo von „zu vielen“ Albanern (90%) säubern. Erst dann entschloss man sich im Westen, diesen Mann zu stoppen, bevor er noch einen Genozid verübt. Erst nach vier verlorenen Kriegen und einem erneuten Versuch Miloševićs, Wahlergebnisse zu manipulieren, wurde sein Regime am 5. Oktober 2000 gestürzt. Ob einmal etwas Vergleichbares mit Putin wie damals mit Milošević passieren könnte? Dass ihm vor einem internationalen Gerichtshof à la Haager ad-hoc-Tribunal der Prozess gemacht werden könnte, bei welchem Ausgang auch immer, erscheint jetzt ausgeschlossen. Übrigens führt Putin nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine, sondern erklärterweise einen gegen den Westen und vor allem gegen die europäische Nachkriegsordnung, gegen ihre Regeln und Institutionen, die er allesamt nicht mehr anerkennt.
Völkermörder als Volkshelden
Aber auch wenn die Politik eine solche Institution wie ein Kriegsverbrechertribunal anerkennt, muss sich diese Anerkennung nicht zwangsläufig in den Gesellschaften niederschlagen. Das politische Serbien heute funktioniert seit geraumer Zeit unter dem ehemaligen, angeblich jetzt geläuterten Kriegstreiber Aleksandar Vučić als restauriertes Milošević-Regime. Wer in der Öffentlichkeit vom „Genozid in Srebrenica“ spricht, wird zum Verräter erklärt. Den wegen Völkermords in Bosnien-Herzegowina durch das Haager Berufungsgericht verurteilten Ratko Mladić sieht man in Serbien nicht als Kriegsverbrecher an, sondern feiert ihn als Helden. Das entsprechende Narrativ dazu lautet, er habe die „Serben vor einem Genozid“ bewahrt.
Nach diesem Schema läuft es offenbar auch in Russland ab, wenn die Schlächter von Buča als Helden mit Orden ausgezeichnet werden. Solange Putin die Geschicke des Landes (und darüber hinaus) bestimmt, wird das Verkehren der Wahrheit in das propagandistische Gegenteil nicht aufhören. Dasselbe gilt für Aleksandar Vučić, seinen Verehrer aus Serbien, der seit zehn Jahren eine Fortsetzung des Systems Milošević samt dazugehörigen Lügen in leicht abgewandelter Form betreibt. Aber im Fall Serbien bzw. seinen (angeblichen) EU-Ambitionen, herrscht in der EU noch immer der Wille zur Illusion vor, was zu einer merkwürdigen kontrafaktischen Politik führt – zum Nachteil der Nachbarländer Serbiens.
Es gibt in der internationalen Politik Akteure, ich nenne sie ‚Pausenplatzschläger‘ welche ausschliesslich die Sprache der Gewalt verstehen. Sie lügen ungeniert, wenn es ihrem Vorteil dient. Sobald sie einen Weg sehen, sich mit roher Gewalt durchsetzen zu können, beschreiten sie ihn, selbst wenn es subtilere Wege gäbe, ihre Ziele zu erreichen. Das Ziel ist immer, absolute Macht. Von diesen Akteuren gibt es zurzeit unglücklicherweise viel zu viele. Es sind meines Erachtens China, Russland, Serbien, Türkei, Saudi-Arabien, Iran, Israel und USA. Diese Länder verhindern durch ihre unbeirrbare Gewaltbereitschaft, dass es diplomatische, geopolitische Lösungen geben kann. Verhandlungen sind für alle diese Akteure erst… Mehr anzeigen »