Viele Denkmäler passen nicht mehr in unsere politische Landschaft – in den USA ebenso wie in Deutschland. Sie feiern die falschen Helden oder erzählen von erlittenem Unrecht, um das Leid, das anderen zugefügt wurde, zu verschweigen. Soll man sie deswegen entfernen?

  • Helmut Walser Smith

    Helmut Walser Smith is the Martha Rivers Ingram Professor of History at Vanderbilt University. His most recent work, Germany. A Nation in its Time. Before, During, and After Nationalism, 1500-2000 (New York: W.W. Norton/Liveright, 2020), will appear in German this September as Deutschland. Geschichte einer Nation, 1500-2000 (München: C.H. Beck, 2020).

Der Bau von Denk­mä­lern in Erin­ne­rung an die Konfö­de­rierten im Ameri­ka­ni­schen Bürger­krieg geschah in den USA im Kontext der zuneh­menden Rassen­tren­nung und auf dem Höhe­punkt der Lynch­morde. Das zeigt eine vom Southern Poverty Law Center im Jahr 2017 veröf­fent­lichte Grafik, die nach der Ermor­dung von George Floyd im März 2020 wieder auftauchte und dazu beitrug, den öffent­li­chen Unmut über die Denk­mäler anzu­heizen. Bis Oktober 2020 waren mehr als hundert Denk­mäler gestürzt worden – dennoch, mehr als 700 stehen nach wie vor.

Warum sollte man diese Denk­mäler erhalten? Schließ­lich war die Sezes­sion des Südens, wie sich unschwer zeigen lässt, ein Akt von Hoch­verrat, und die konfö­de­rierten Soldaten wussten, dass sie für den Erhalt der Skla­verei kämpften. Mehr noch: Obwohl der Norden den Krieg gewonnen hatte, ging der Süden gewis­ser­massen als Sieger aus dem Kampf um die Erin­ne­rung hervor. Das ist die andere Geschichte, die die erwähnte Grafik des Southern Poverty Law Center erzählt. Denn die weitaus meisten Denk­mäler für die Konfö­de­ra­tion wurden in den Jahren zwischen 1900 und 1920 errichtet, also in der Ära der Wieder­ver­ei­ni­gung von Nord und Süd, die auf Kosten der Schwarzen Bevöl­ke­rung ging. Denn ausge­hend von der „white supre­macy“ wurde die Wieder­ver­ei­ni­gung mit dem Vergessen der Tatsache erkauft, dass im Bürger­krieg um die Abschaf­fung der Skla­verei gekämpft wurde. Nur wenige Jahr­zehnte nach dem Ende des Kriegs signa­li­sierten die fast allge­gen­wär­tigen Konföderierten-Denkmäler daher das Verblassen von Amerikas Bekenntnis zu einer gesell­schaft­li­chen Neuord­nung nach der Über­win­dung der Skla­verei – einer Neuord­nung, die auf der Gleich­heit aller Menschen basierte und der Abraham Lincoln in seiner berühmten Gettysburg Address ein „letztes volles Maß der Hingabe“ gelobt hatte.

Wie, so die Frage, sollen Gesell­schaften mit Denk­mä­lern umgehen, die in erin­ne­rungs­po­li­tisch belas­teten Zeiten errichtet wurden? Wie, wenn das Erin­nern an die Opfer der einen Gruppe bedeutet, einen Mantel des Verges­sens über die Leiden einer anderen zu breiten? Wie, wenn die Statuen nur von erlit­tener Gewalt spre­chen, aber stumm sind, wenn es um die ausge­übte Gewalt geht?

Deutsch­lands umstrit­tene Denkmäler

Diese Fragen und Probleme sind eben­falls Teil der deut­schen Nach­kriegs­ge­schichte, wenn auch auf etwas versteck­tere Art und Weise. Während es in Deutsch­land prak­tisch keine Denk­mäler gibt, welche die Soldaten des Zweiten Welt­kriegs ehren (abge­sehen von einer Anzahl von Kasernen, die noch immer nach Nazi-Generälen benannt sind), gibt es jedoch Zehn­tau­sende von Gefal­le­nen­denk­mä­lern, Mahn­male für die im Krieg gefal­lenen Soldaten in nahezu jedem Dorf und jeder Stadt in West­deutsch­land. Anders als in Frank­reich, wo solche Denk­mäler promi­nent auf dem Markt­platz, vor dem Rathaus oder an anderen wich­tigen öffent­li­chen Orten stehen, befinden sich in Deutsch­land fast alle Gefal­le­nen­denk­mäler des Zweiten Welt­kriegs in einem sakralen Raum – nämlich auf Kirch­höfen oder Friedhöfen.

Es wird immer wieder behauptet, dass sich in den 1950er Jahren in der Bundes­re­pu­blik Schweigen über die Vergan­gen­heit brei­tete. Ehema­lige Nazis kehrten in einfluss­reiche Macht­po­si­tionen zurück, und die Leichen aus der Nazi­zeit wurden sprich­wört­lich in den Keller verbannt. Die Erin­ne­rung wurde im Flüs­terton gespro­chen, wenn über­haupt, und Trauer wurde kaum durchgearbeitet.

Eine Gruppe jedoch setzte dezi­diert öffent­liche Zeichen der Trauer. Es waren die „Vertrie­benen“, jene etwa zwölf Millionen Menschen, die zunächst völlig über­stürzt und dann geord­neter aus dem Osten Rich­tung Westen flohen. Im Vergleich zu den meisten deut­schen Zivi­listen hatten sie über­pro­por­tional gelitten: unter der Bruta­lität des Krieges, ethni­scher Gewalt und grossen mate­ri­ellen Entbeh­rungen, unter dem Verlust der Heimat – und Frauen und Mädchen unter Verge­wal­ti­gungen. Auch waren die Flücht­linge häufig nicht will­kommen, als sie im Westen ankamen. Lebens­mittel, Brenn­ma­te­rial und Wohn­raum waren nach dem Krieg knapp, so dass die Groß­zü­gig­keit der Deut­schen in den West­sek­toren und der frühen Bundes­re­pu­blik rasch aufge­braucht war. Es kam zu Span­nungen und Konflikten. Dennoch, wo immer die Vertrie­benen sich nieder­ließen, errich­teten sie irgend­wann Denk­mäler für das verlo­rene Land und für die rund zwei Millionen Menschen, die im Krieg und auf der Flucht umge­kommen waren. Rund 1500 Vertrie­ben­en­denk­mäler sind heute über das ganze Gebiet der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land verteilt.

Vertrie­ben­en­denkmal auf dem Alten Friedhof Berge­dorf, Quelle: wikipedia

Die erste Welle der Errich­tung von Vertrie­ben­en­denk­mä­lern fällt in die 1950er Jahren. Etwa ein Drittel der Denk­mäler wurde an sakralen Orten, Kirch- und Fried­höfen errichtet, während die Mehr­heit auf säku­laren Plätzen wie Markt­plätze oder am Stadt­rand erbaut wurde. Einige wenige Denk­mäler hatten natio­na­lis­ti­sche Anklänge, typi­scher­weise in der Sprache univer­seller Rechte, wenn sie beispiels­weise prokla­mierten, dass das „ Selbst­be­stim­mungs­recht [der Völker] auch für Deut­sche gilt“. Etwa zwei Drittel aller Vertrie­ben­en­denk­mäler trauern um die Toten, die auf der Flucht ihr Leben verloren haben. Ein anderer verbrei­teter Topos war die „unver­ges­sene Heimat“, darge­stellt als Hinweis­schild aus Metall oder Holz, das in Rich­tung Osten zeigte und in Kilo­me­tern die Entfer­nung zu Orten wie „Königs­berg“, „Danzig“ und „Breslau“ angab. Verein­zelt finden sich auch in Bronze gegos­sene Karten des drei­ge­teilten Deutsch­lands in seinen Grenzen von 1937.

Zwei­fellos trugen diese Denk­mäler dazu bei, eine mentale Land­karte Deutsch­lands aus der Zeit vor dem Krieg aufrecht­zu­er­halten. Aber schon vor der Unter­zeich­nung des Warschauer Vertrags durch Bundes­kanzler Willy Brandt im Jahr 1970 konnte man nur mutmassen, ob die Mehr­heit der Vertrie­benen tatsäch­lich mit einer Rück­kehr in ihre Heimat oder sogar mit dem Anschluss ihrer Heimat an die Bundes­re­pu­blik rech­neten. Die Vertrie­benen waren vor allem ältere Menschen, Frauen, die ihre Männer verloren hatten, und Kinder. Poli­ti­sche Ziele verfolgten eher die männ­li­chen Spre­cher der Vertrie­be­nen­ver­bände – Lehrer, Pastoren, lokale Amts­träger. Und als das erste Nach­kriegs­jahr­zehnt in das zweite über­ging, wurde spürbar, dass die Bevöl­ke­rung West­deutsch­lands, einschließ­lich der Kinder der Vertrie­benen, trotz aller Denk­mäler, Gedenk­ta­feln, Bücher und Erin­ne­rungen auf Fried­höfen begonnen hatte, die dort genannten Namen in die hintersten Winkel ihres Bewusst­seins zu schieben. So wurden diese Orte und Menschen zu Namen, die keiner mehr nennt, wie Marion Gräfin Dönhoff, Redak­teurin der Wochen­zei­tung Die Zeit, ihre 1962 erschie­nene Klage beti­telte. Und heute, fast sechs Jahr­zehnte später sind diese Namen noch tiefer im Abgrund kollek­tiven Verges­sens verschwunden.

Auch Denk­mäler (ver)schweigen

Trotz ihrer proble­ma­ti­schen Politik adres­sierten die Denk­mäler für die Vertrie­benen durchaus legi­time Fragen. Wie kann man öffent­lich um den Tod der Menschen trauern, die in der Ferne gestorben sind? Wie kann man die Verbin­dung zwischen denen, die geflohen sind und über­lebt haben, und denen, die ihr Leben verloren haben, aufrecht­erhalten? Und wie bringt man die Toten symbo­lisch nach Hause, in ein neues Heim?

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Wie die Denk­mäler der Konfö­de­ra­tion in den USA waren die deut­schen Denk­mäler für die Vertrie­benen nicht unpro­ble­ma­tisch, denn sie erzählten von der erlit­tenen und nicht von der zuge­fügten Gewalt. Und sie wichen der Frage aus, was über­haupt die Ursache des Krieges war. Ebenso wie die Konföderierten-Denkmäler verdrängten, dass die Skla­verei der Grund für den Bürger­krieg war, schwiegen die Denk­mäler der Vertrie­benen über die Verfol­gung der slawi­schen Natio­na­li­täten in den ehema­ligen soge­nannten deut­schen Ostge­bieten. In der Tat stellten sie oft die Legi­ti­mität der polni­schen oder russi­schen Souve­rä­nität über Gebiete in Frage, die von den Vertrie­be­nen­ver­bänden immer noch als „verloren“ bezeichnet wurden. Bis 1968 hatte man circa 500 Denk­mäler für die Vertrie­benen errichtet. Dagegen hatten zur glei­chen Zeit von den etwa 1300 Synagogen, die während des Novem­ber­po­groms 1938 zerstört oder geschändet worden waren, weniger als hundert auch nur eine karge Gedenk­tafel erhalten, die den Anschlag dokumentierte.

Denk­mäler für die Vertrie­benen sind schon seit längerem in poli­ti­sche Ungnade gefallen – vor allem bei den Linken. Bereits 1964 führte der Plan, in Tübingen soge­nannte Ost-Wegweiser aufzu­stellen, zu dem sati­ri­schen Gegen­an­trag, sie durch einen Wegweiser nach Ausch­witz zu ergänzen. Das hart­nä­ckige Fest­halten des Bundes der Vertrie­benen an seiner revi­sio­nis­ti­schen Politik war der Situa­tion auch nicht gerade förder­lich. Ebenso wenig die falschen Gleich­set­zungen, etwa der deut­schen mit der jüdi­schen Diaspora, oder die Behaup­tung, die „Vertrei­bung“ der Juden und der Deut­schen entspringe demselben Nationalhass.

Gegen­ge­schichten erzählen

Und dennoch, bei aller Beto­nung von Verlust und Trauer reprä­sen­tieren die Denk­mäler auch frühe Versuche, eine der drama­tischsten Verschie­bungen in der sozialen Vertei­lung des Todes im 20. Jahr­hun­dert öffent­lich zu markieren: nämlich den dras­ti­schen Anstieg des Anteils der zivilen Toten. Im Ersten Welt­krieg, so eine Berech­nung, entfielen etwa 20 % aller Toten auf Zivilist:innen, im Zweiten Welt­krieg dagegen etwa 50 %. Seit 1945 machen zivile Tote global den über­wie­genden Teil aller Kriegs­toten aus – etwa 90 %. Zudem verweisen diese horrenden zivilen Opfer­zahlen nicht nur auf die Bomben, die aus dem Himmel fielen und unter­schiedslos Städte und Schlacht­felder trafen. Die hohe Inzi­denz der Verge­wal­ti­gung von Frauen und Mädchen durch Soldaten der Roten Armee in Gebieten, aus denen die Vertrie­benen fliehen mussten, zeugt eben­falls von einer Auflö­sung der Grenze zwischen Kombat­tanten und Nichtkombattanten.

Was für die Vertrie­ben­en­denk­mäler gilt, trifft ebenso auf die heroi­schen Konföderierten-Denkmäler zu: Sie rufen, wenn auch unge­wollt, eine verbor­gene Seite der Geschichte ins Gedächtnis, selbst wenn sich diese weder in ihrer Inten­tion noch in ihrer Ikono­grafie spie­gelt. Wir sind deshalb ausge­for­dert, uns eigen­ständig mit diesen Denk­mä­lern ausein­an­der­setzen und uns zum Beispiel daran erin­nern, dass die Soldaten, die auf Seiten der Konfö­de­ra­tion kämpften, oft aus armen weißen Fami­lien stammten und im Grunde für die reichen Land­be­sitzer in den Krieg zogen und starben. Wir müssen uns daran erin­nern, dass der Bürger­krieg in der Tat eine ameri­ka­ni­sche Tragödie war, aber für niemanden so schmerz­lich wie für die armen Fami­lien des Südens. Denn es war gene­rell der Süden, der über­pro­por­tional Söhne, Brüder und Väter verlor, und stärker als im Norden fanden die Südstaatler:innen ihr Land verwüstet, ihre Farmen ruiniert, ihre Lebens­grund­lagen zerstört.

Robert E. Lee Monu­ment in Rich­mond, Quelle: www.medium.com

Letzt­lich aber sind die frühen Versuche, sich mit dem Erbe der sozialen Vertei­lung des Todes in der modernen Kriegs­füh­rung ausein­an­der­zu­setzen, selbst histo­ri­sche Arte­fakte – sie sind, mit anderen Worten, als Formen des Erin­nerns ebenso ein Stück Geschichte, wie über­haupt die Geschichte der Erin­ne­rung heute gene­rell Teil der Geschichte ist. Das ist es, was die Vertrie­ben­en­denk­mäler und die Denk­mäler der Konfö­de­ra­tion wirk­lich mitein­ander verbindet. Ihre schiere Exis­tenz, Geschicht­lich­keit und physi­sche Präsenz lädt zu unserer fort­ge­setzten Ausein­an­der­set­zung mit ihnen ein, ja erfor­dert sie gera­dezu. Die Denk­mäler können und sollen kommen­tiert und histo­ri­siert werden, und zwar nicht nur im Hinblick auf das, woran sie erin­nern, sondern vor allem auch mit Blick auf das, was sie verschweigen. Das heisst nicht nur in Bezug auf ihre mani­feste Aussage, sondern auch hinsicht­lich ihrer Auslas­sungen. Die Komple­xität der kollek­tiven Erin­ne­rung an den Bürger­krieg, einschließ­lich seiner Verbin­dungen zu Rassismus und zu white supre­macy ist nunmehr Teil der ameri­ka­ni­schen Geschichte. Denn nicht zuletzt mit den Denk­mä­lern hat sie ein stei­nernes Archiv hinter­lassen, das mit dazu beiträgt zu erklären, warum Ameri­kaner 170 Jahre nach dem Krieg immer noch so darüber spre­chen, als hätte er vor ein paar Jahr­zehnten stattgefunden.

Nicht die Zerstö­rung des mate­ri­ellen Erbes, sondern seine Kommen­tie­rung von Ort zu Ort ist die eindring­li­chere Entgeg­nung im Umgang mit unge­liebten Denk­mä­lern. Das erfor­dert jedoch lokales Enga­ge­ment, lang­fris­tiges Handeln und poli­ti­sche Beharr­lich­keit. Auch die Vertrie­ben­en­denk­mäler zeugen von einer Periode in der deut­schen Nach­kriegs­ge­schichte, in welcher der Empa­thie mit der Not der Anderen enge Grenzen gesteckt waren, in der es in der Trauer immer noch um ein ethnisch gedachtes „Wir“ ging, in der Leid aufge­rechnet und vergli­chen wurde, und in der man sich eher an erlit­tene als an zuge­fügte Gewalt erin­nerte. In beiden Fällen lassen sich die daraus resul­tie­renden Markie­rungen, die Denk­mäler der Konfö­de­rierten und die der Vertrie­benen, als Ausgangs­punkt einer Gegen­er­zäh­lung „durch­ar­beiten“, mit dem Ziel, sich der schwie­rigen Vergan­gen­heit zu stellen, um die Geschichte der Erin­ne­rung und des Erin­nerns zum inte­gralen Bestand­teil einer neuen Art histo­ri­scher „Land­schaft“ zu machen.