
Bücher über sexuelle Gewalt sind nie eine leichte Kost. Das gilt auch für das Buch von Andrea Pető, die gleichwohl ein sehr lesenswertes, vielschichtiges Buch über Vergewaltigungen während des Zweiten Weltkriegs geschrieben hat, das diesen Herbst unter dem Titel „Das Unsagbare erzählen“ im Wallstein Verlag erscheinen wird. Im Fokus ihres Buches stehen die in Ungarn geschehenen Vergewaltigungen. Und doch ist daraus keine nationale Geschichte entstanden. Die Autorin, die vor fünfundzwanzig Jahren damit begann, die Geschichte sexueller Gewalt in Ungarn zu erforschen, geht in diesem Buch vergleichend vor. Man kann dies nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als eine politische Intervention verstehen: Es ist ein Einschreiten gegen eine Erinnerungspolitik, die Vergewaltigungen von Frauen simplifizierend ethnisiert (die „Russen“ vergewaltigten die „Ungarinnen“), sogar orientalisiert und politisch instrumentalisiert. Das Problem ist alles andere als neu. Spätestens seit einem Jahrzehnt ist es jedoch auch in der offiziellen Erinnerungspolitik in Ungarn zu beobachten.
Eine Geschichte des Schweigens
Die Thematisierung sexueller Gewalthandlungen während des Zweiten Weltkrieges ist in Ungarn freilich schon seit Längerem eine wechselvolle Geschichte des Schweigens, des Verschweigens und eines selektiven Erinnerns gewesen. Denn einen Raum, über diese Gewalttaten, die in Ungarn weit überwiegend von Rotarmisten während der Besatzung seit dem Herbst 1944 verübt worden waren, zu sprechen, hatte es für die betroffenen Frauen ohnehin lange nur in sehr eingeschränktem Maße gegeben. Ein öffentliches Sprechen über die Vergewaltigungen der Rotarmisten war in Ungarn, wie in anderen osteuropäischen Ländern auch, bis zum Zerfall des Sowjetregimes und des Kommunismus ohnehin ausgeschlossen. Erst im Zuge der Aufarbeitung der sowjetischen Besatzung, die 1989 einsetzte, öffnete sich zumindest partiell die Möglichkeit, die Vergewaltigungen während der Besatzungszeit zu thematisieren. Es ist bemerkenswert, dass der feministische Aktivismus und die Frauenbewegung in Ungarn für diese Entwicklung allerdings zunächst kaum verantwortlich zeichneten, obgleich sie sich dem Kampf gegen häusliche Gewalt durchaus verschrieben hatten.
Verknüpft mit dem antifaschistischen linken Diskurs, so lernt man bei Andrea Pető, tat sich die nach 1989 neubegründete Frauenbewegung mit dem Gedanken weiterhin schwer, dass Angehörige der Roten Armee, die in Ungarn die deutschen Truppen besiegt hatten, massenhaft Frauen vergewaltigt haben sollten. „Der Antikommunismus hingegen“, so führt sie aus, „in dessen Rahmen man über die Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten nun zu reden begann, wurde zur Grundideologie der politischen Rechten, die gleichzeitig gegen die Gleichheit der sozialen Geschlechter und für das traditionelle Familienmodell eintrat.“ Ein Interesse an den individuellen Lebensgeschichten von Frauen, die mehr und anderes als eine Geschichte des passiven Opferseins zu erzählen haben, welche sich in die vermeintlich reine Leidensgeschichte der Nation einfügt, war damit aber nicht verbunden. Doch wie kann man nun wissen, was genau an sexuellen Gewalthandlungen in Ungarn geschah – und warum? Leser:innen erwarten von Wissenschaftler:innen in aller Regel eine klare Faktenlage und eindeutige Erklärungen für das Geschehene. Das Unsagbare erzählen geht einer solchen Suche nicht aus dem Weg. Doch es gehört zu den Stärken dieses Buches, dass es seinen Leser:innen nicht vormacht, man könne bei diesem Thema zu allgemeingültigen Feststellungen kommen, warum sich Vergewaltigungen in Kriegen ereigneten, oder irgendwie abschließend beantworten könnte, wie Menschen mit sexueller Gewalt umgingen. Pető ist in Anbetracht der äußerst komplizierten Quellenlage vorsichtiger.
Der Umgang mit Zahlen
Das fängt bei ihrem Umgang mit Zahlen an. Obwohl sich Forscherinnen darum bemühten, die Anzahl von Vergewaltigungen zu erheben, beruhen sie bis heute – das gilt für Ungarn, Österreich, Polen, auch Deutschland gleichermaßen – notgedrungen auf groben Schätzungen mit zum Teil weit auseinander liegenden Zahlen, da Daten in diesen Fällen begreiflicher Weise nicht einfach vorliegen. Allein die Daten der Versorgungsanstalten für Geschlechtskrankheiten und der Amtsärzte, die allerdings nur teilweise zugänglich sind, ermöglichen Annäherungen. Doch soll man tatsächlich mit diesen Zahlen hantieren? Allein im Falle der Massenvergewaltigungen ist das Zählen der Fälle, wie Andrea Pető zurecht unterstreicht, nicht nur in wissenschaftlicher, sondern auch in moralischer Hinsicht problematisch: „Wie viele Vergewaltigungen liegen vor, wenn eine Frau an einem Abend von mehreren Männern vergewaltigt wurde?“
Das Problem der Zahlen lässt sich auch anders deutlich machen: So sind etwa die weiblichen Opfer der Shoah, die von den deutschen oder ihren Verbündeten vergewaltigt wurden, nicht in den Schätzungen enthalten. Doch auch das Zählen an sich hat eine Schwierigkeit. Sie wird offenkundig, wenn man sich vor Augen führt, dass die Antwort auf die Frage, wann es sich um eine sexuelle Gewalthandlung handelt, im Verlauf der letzten fünfundsiebzig Jahre ausgeweitet hat. Pető erinnert daran, dass sexuelle Gewalt längst nicht mehr auf den „Akt des gewaltsam erzwungenen Beischlafs“ reduziert werden kann; auch sexuelle Folter, Verstümmelung der Genitalien, Sexsklaverei und sexuelle Demütigung gehören dazu. Selbst die Zahlen, die auf großzügigen Schätzungen beruhen, wären nicht in der Lage, diese Praktiken, in welche die Angehörigen der kriegsführenden Mächte unterschiedlich involviert waren, auch nur annähernd einzufangen.
Wer sich in Diskussionen über sexuelle Gewalthandlungen im Krieg an Zahlen klammert, verkennt oder verschleiert, wie viel sie verdecken. Das gilt allemal für die Frage, was sexuelle Gewalt eigentlich für die betroffenen Frauen bedeutete, wie sie diese verarbeiteten und welche Formen des Umgangs sie damit fanden. Kurze Antworten gibt es dafür nicht – und zwar nicht einmal dann, wenn Quellen vorliegen, in denen Frauen selber zu Wort kommen.
Wie erzählen?
Andrea Pető, die nicht der Illusion erliegt, man könne über die schriftlichen Zeugnisse oder später geführte Interviews einen direkten und unverstellten Zugang zur ausgeübten und erlebten Gewalt erhalten, führt dies an einigen Beispielen vor Augen. Zu ihnen gehören die Erzählungen, die Spuren der antisowjetischen Propaganda trugen, welche von „dem Russen“ schon vor dem Einmarsch der Roten Armee ein furchterregendes Bild gezeichnet hatte. Dass Frauen in Interviews über ihre „ersten Begegnungen mit den ‚Russen’ wie von einer Filmszene“ berichteten, lässt sich zumindest auch darauf zurückführen, dass sie im Vorfeld auf der Leinwand Szenen gesehen hatten, die die Ereignisse gewissermaßen vorwegnahmen. Ein anderes Beispiel aber sind auch die Beobachtungen der beiden Autorinnen Heike Sander und Barbara Johr, die einige Jahrzehnte nach dem Ende des Kriegs eine ganze Reihe von Interviews führten: Die Art und Weise, wie die interviewten Frauen die Gewalttaten mitteilten, führte sie zu dem Schluss, dass sie „ihre Erlebnisse mit Bildern aus Hollywood-Filmen“ erzählten. Es war der Weg, auf dem sie über ihre Erinnerungen kommunizieren konnten. In diesen Fällen geschah es im Modus der Distanz.
Andrea Pető ist umsichtig mit den Erzählungen der Frauen. Die historische Erfahrung der sexuellen Gewalt erkennt sie ihnen damit keineswegs ab. Vielmehr geht es unter anderem um die Einsicht, dass auch die erzählte Gewalt immer gedeutete Erfahrung ist. Zudem sind diese Deutungen von Erfahrungen ihrerseits nicht stabil. Gründe dafür gibt es mehrere: Pető verweist auf den „sich permanent ändernden politischen Rahmen des Erinnerns“, der diese Deutungen mitbestimmt. Doch die Interviews, die sie selber führte, legen auch eine andere Spur. Die von ihr interviewten Frauen seien überwiegend der Meinung gewesen, berichtet sie, „dass ihnen nichts Ungewöhnliches wiederfahren“ sei. Auch diese Aussagen muss man einzuordnen wissen. Pető erinnert ihre Leser:innen deshalb daran, „dass sexuelle Freiheit und damit verbundene Rechte“ wie überhaupt „der freiere Diskurs über Sex und den Körper der Frau“ erst im Kontext der „68er“ Bewegung entstanden seien. Und sie ergänzt knapp: „1944/45 konnte davon in den ungarischen Dörfern noch nicht einmal ansatzweise die Rede sein.“
Die Würde der Opfer
Andrea Pető pflegt einen umsichtigen Umgang mit den Subjekten ihrer Forschung, und sie erhellt auf diese Weise eine Vielfalt von Erzählweisen über und Umgangsweisen mit der sexuellen Gewalt des Krieges, wodurch sie gleichermaßen erinnerungspolitische Schematisierungen an den Zweiten Weltkrieg durchkreuzt wie sie auch moralisch-normative Phantasien darüber, wie sexuelle Gewalt zu kommunizieren, zu erinnern oder zu verarbeiten sei, stört. Nichts wird dabei weichgezeichnet. Wer über das Thema der sexuellen Gewalt forscht oder liest, kommt an grässlichen Schilderungen über Gewalthandlungen nicht vorbei, selbst wenn Pető sie letztlich verhalten und immer nur zu analytischen Zwecken einsetzt. Das ist weit entfernt von voyeuristischen Darstellungen, die ihr – auch in der Kunst – widerstreben und vor denen sie selber auf der Hut ist. Doch ein Buch, dessen ausgesprochenes Anliegen es ist, die Dynamiken des Schweigens und Verschweigens zu analysieren, muss eben auch Gewalthandlungen und ihre Folgen benennen und – so gut es eben geht – eine Arbeit des Sichtbarmachens von Gewalt leisten. Das schließt das Sprechen über Massenvergewaltigungen, über gewaltsam zerstörte Körper, über Schwangerschaften, das Ringen um Schwangerschaftsabbrüche und nicht zuletzt über die ausgetragenen Kinder ein, die ihrerseits oft mit Diskriminierungen und Gewalterfahrungen aufwuchsen. Andrea Pető spart nichts davon aus. An einer Stelle im Buch insistiert sie, es sei „die moralische und professionelle Pflicht“ von Forscherinnen und Forschern, dieses System der sexuellen Gewalt, seiner Gründe und Folgen, „in seiner ganzen Komplexität zu untersuchen, schon der Würde der Opfer zuliebe.“ Bei der Lektüre dieses reichhaltigen Buches nimmt man ihr an jeder Stelle ab, dass diese Würde tatsächlich ihre eigene Messlatte war.
Andrea Pető, Das Unsagbare erzählen. Sexuelle Gewalt in Ungarn im Zweiten Weltkrieg, Göttingen: Wallstein Verlag 2021. Das Buch ist ab Anfang Oktober im Handel erhältlich.