Anlässlich der Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages empfahl Präsident Erdogan den Deutschen, erst einmal ihre eigene Kolonialvergangenheit aufzuarbeiten. „Spiegel“-Journalist Bartholomäus Grill fuhr zur Geschichtsstunde nach Namibia und kam mit aufgewärmten Thesen und einer Verschwörungstheorie zurück.

Die gängige Rede, dass sich Histo­ri­ke­rinnen und Histo­riker in ihrem sprich­wört­li­chen Elfen­bein­turm wenig für die Belange histo­ri­scher Sinn­stif­tung und öffent­liche Debatten inter­es­sieren, lässt vergessen, dass ihre Forschungs­er­geb­nisse häufig gar nicht zur Kenntnis genommen werden. Und je weiter die Themen geogra­phisch entfernt sind, desto weniger Exper­tise braucht es offenbar. Dies hat der Haupt­ar­tikel der Kolo­ni­al­aus­gabe der NZZ Geschichte gezeigt und trifft nun auch für einen ausführ­li­chen Artikel im Spiegel (24/2016) zum Völker­mord an den Herero zu.

Am Waterberg fand die sogenannte Entscheidungsschlacht des Kolonialkrieges statt. Seit 1909 besitzt die Familie Schneider-Waterberg hier eine Farm;Quelle: xxx

Am Water­berg fand die soge­nannte Entschei­dungs­schlacht des Kolo­ni­al­krieges statt. Seit 1909 besitzt die Familie Schneider-Waterberg hier eine Farm; Foto: Jeff Maion, Quelle: maion.com

Ausführ­lich gibt dort Bartho­lo­mäus Grill seine Plau­der­stunden mit dem nami­bi­schen Farmer Hinrich Schneider-Waterberg auf der Gäste­farm Okoson­go­mingo wieder, der sich als verkannter Histo­riker der ehema­ligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, und insbe­son­dere des Kolo­ni­al­kriegs präsen­tiert. Grill räumt dem von ihm so bezeich­neten Hobby­his­to­riker ausführ­lich Platz ein und bereitet ihm argu­men­tativ immer wieder die Bühne. Dabei wirft er Fakten und Fiktionen munter durch­ein­ander. Zwar werden die wesent­li­chen Tatsa­chen zum Kolo­ni­al­krieg gegen die Nama (die regel­mässig vergessen werden) und Herero gar nicht ange­zwei­felt. Igno­riert oder schlicht auch denun­ziert jedoch werden die Inter­pre­ta­tionen dieser Fakten durch die Geschichtswissenschaft.

So wird von Kolo­ni­al­re­vi­sio­nisten immer wieder unter­stellt, die Geschichts­wis­sen­schaft würde den Krieg auf Basis einer einzigen Quelle als Genozid einordnen, des soge­nannten Schiess­be­fehls von Lothar von Trotha. Dieser hatte als Komman­deur der 1. Ostasia­ti­schen Infanterie-Brigade im Boxer­auf­stand bereits Erfah­rungen mit Kolo­ni­al­kriegen gesam­melte, fabu­lierte von Rassen­kämpfen und schrieb an Gene­ral­stabchef Graf von Schlieffen über die Herero: „Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss.“ Oft wird dann auch noch hinzu­ge­fügt, von Trotha hätte zur Prokla­ma­tion vom 2. Oktober 1904, mit der er die Vernich­tung aller Herero forderte („Inner­halb der deut­schen Grenze wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit und ohne Vieh erschossen…“), umge­hend einen Trup­pen­be­fehl ausge­geben, gemäss dem bei Frauen und Kindern, die den deut­schen Truppen wider­standslos vor die Flinte liefen, nur über die Köpfe hinweg geschossen werden solle. Die Rede von einem Genozid erscheint dann unter der Hand als deut­lich übertrieben.

Histo­ri­sche Genozid-Forschung

Jim Naughten: Herero Woman in Blue (2012) @ Mariane Ibrahim Gallery Der britische Fotograf Jim Naughten lebt und arbeitet in London. 2012 hat er in Namibia Portraits von Hererofrauen und –männern fotografiert sowie Prozessionen bei der jährlichen Gedenkveranstaltung an den Kolonialkrieg. Zu den Portrait schreibt er: „By composing these portraits against the Namibian landscape — one of unforgiving intensity but also of silent witness — there is an enlivening that takes place in an otherwise frozen moment. The still space, the direct gaze, the re-appropriated cloth combine to curate a stillness that allows the past to speak.”

Jim Naughten: „Herero Woman in Blue“ (2012); Quelle: marianeibrahim.com  Der briti­sche Foto­graf Jim Naughten lebt und arbeitet in London. 2012 hat er in Namibia Portraits von Here­ro­frauen und -männern foto­gra­fiert sowie Prozes­sionen bei der jähr­li­chen Gedenk­ver­an­stal­tung an den Kolo­ni­al­krieg. Zu den Portraits schreibt er: „By compo­sing these portraits against the Nami­bian land­scape — one of unfor­gi­ving inten­sity but also of silent witness — there is an enli­vening that takes place in an other­wise frozen moment. The still space, the direct gaze, the re-appropriated cloth combine to curate a still­ness that allows the past to speak.”

In den vielen Forschungs­ar­beiten, die zum Kolo­ni­al­krieg erschienen sind, wird aber nun eine ganze Reihe von Gründen dafür aufge­führt, warum es sich bei den Ereig­nissen von 1904 um einen in Kauf genommen oder beab­sich­tigten Völker­mord im Sinne des Geno­zid­be­griffs von Raphael Lemkin und der 1948 verab­schie­deten Konven­tion der Vereinten Nationen zur Verhü­tung und Bestra­fung von Völker­mord handelte. Zwar lässt sich der juris­ti­sche Begriff des Geno­zids kriti­sieren, und natür­lich auch dessen Anwen­dung auf Kolo­ni­al­kriege. Aller­dings bemühen Hinrich Schneider-Waterberg und Bartho­lo­mäus Grill bei ihrer melan­cho­li­schen Klage auf der Veranda der 1909 gegrün­deten Farm einen alten Trick: Mit der Kritik am Begriff wird auch gleich die Sache geleugnet – nämlich die eindeu­tige Absicht von Teilen des Kolo­ni­al­mi­li­tärs, der Verwal­tung und der Farmer­schaft, die Herero als ‚Volk‘ (im dama­ligen Sprach­ge­brauch) zu vernichten. Dass von Trotha die Herero mit „krassem Terro­rismus“ und „Strömen von Geld und Blut“ vernichten wollte, könnte noch als stra­te­gi­sches Säbel­ras­seln abgetan werden, weil er drin­gend Erfolge gegen die anfäng­lich über­le­genen Herero vorweisen musste.

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Jim Naughten: “Herero Woman in Yellow Dress” (2012); Quelle: themorningnews.org

Allein, wie sah die Kriegs­füh­rung konkret aus? Bereits die Zeit­ge­nossen warnten vor einer buch­stäb­li­chen Vernich­tung eines ganzen Volkes, so ein Teil der Farmer, die um ‚ihre‘ Arbeits­kräfte für die Zeit nach dem Krieg fürch­teten. Missio­nare wiederum sahen ihr christ­li­ches Werk bedroht und wollten den Massen­mord auch aus huma­ni­tären Gründen beenden. Dazu kamen einzelne Kolo­ni­al­mi­li­tärs, die nicht gegen Frauen und Kinder und völlig erschöpfte Gegner kämpfen wollten, die sie an Wasser­stellen aufspüren sollten. Die von der histo­ri­schen Forschung gezeigten Fakten spre­chen klar für eine Vernich­tungs­ab­sicht. Das zeigen zum einen Mass­nahmen während des Krieges wie die Abrie­ge­lung von Wasser­stellen in dem extrem trockenen Land (und nicht einer ganzen Wüste, wie es oft heisst), ferner die Einrich­tung von Konzen­tra­ti­ons­la­gern und die Weige­rung, Kapi­tu­la­tionen zuzu­lassen; und zum anderen die Politik der Nach­kriegs­zeit mit der völligen Entrech­tung und Enteig­nung – die über­le­benden Herero sollten in ein „Prole­ta­riat“ umge­wan­delt werden, so hiess es in zeit­ge­nös­si­schen Quellen. Dazu kam die obli­ga­to­ri­sche Zwangs­ar­beit für die Kolo­ni­al­ver­wal­tung, Firmen und Privat­haus­halte, die Markie­rung der Menschen mit Pass­marken, die Depor­ta­tionen wich­tiger Führer in andere Kolo­nien – und schliess­lich der absurde Plan, die gesamte Bevöl­ke­rung des kolo­nialen Einfluss­ge­bietes umzusiedeln.

All diese Aspekte des Geno­zids sind Forschungs­er­geb­nisse mehrerer Gene­ra­tionen von Forsche­rinnen und Forschern; im Spiegel werden sie zu „Horst Drechs­lers anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Konstrukt eines Völker­mordes“. Der Afrika-Historiker Horst Drechsler habi­li­tierte sich noch zu DDR-Zeiten in Halle bei Walter Markov und wertete für seine Arbeit als erster syste­ma­tisch die Quellen des Reichs­ko­lo­ni­al­amtes in Potsdam aus. Dabei zeigte er sich als eher konser­va­tiver Histo­riker – trotz der gefor­derten marxistisch-leninistischen Verbeu­gungen im Text.

Mediale Verwe­de­lung

Ein weiteres rheto­ri­sches Mittel der Verwe­de­lung des Geno­zids sind Pseu­do­fragen: „Wo sind die sterb­li­chen Über­reste der Opfer?“ – fragt der Kron­zeuge Schneider-Waterberg im Spiegel-Artikel. Gleich darauf folgt die Antwort, es habe niemals eine syste­ma­ti­sche Suche statt­ge­funden. Dennoch wird die Frage gleich zweimal in den Raum gestellt und zwar keines­falls als Korrektiv. Auch die Figur des Zeit­zeugen darf nicht fehlen. Keiner der „Geno­zid­theo­re­tiker“, so refe­riert Grill Schneider-Waterberg, habe Herero befragt – das ist bei einem 1904 verübten Verbre­chen auch ein wenig schwierig. Dass Nach­kommen sehr wohl mit Inter­views sowie Erhe­bungen von Oral Histo­ries und Oral Tradi­tions zu Wort gekommen und Über­lie­fe­rungen sorg­fältig gesam­melt und in der Forschung ausge­wertet worden sind, hat auch der wissen­schaft­liche Berater des Textes – offenbar der ehema­lige Rektor der Univer­sität Regens­burg, Prof. Gustav Ober­mair, ein emeri­tierter Physik­pro­fessor… – wohl übersehen.

Jim Naughten: Herero Cavalry Marching (2012) (c) Jim Naughten, courtesy of Klompching Gallery, New York

Jim Naughten: „Herero Cavalry Marching“ (2012); Quelle: jimnaughten.com

Man kann aus guten Gründen kriti­sieren, dass Parla­mente über die Bewer­tung histo­ri­scher Ereig­nisse befinden, und natür­lich geht es bei der Bezeich­nung des Kolo­ni­al­kriegs als Genozid um Politik. Aller­dings gilt das auch umge­kehrt. Die Leug­nung der Gräu­el­taten deut­scher Soldaten begann schon während des Krieges, und mit der Kritik am Geno­zid­be­griff geht prak­tisch immer eine ideo­lo­gisch hoch aufge­la­dene Verharm­lo­sung einher. Das bemerkte auch Grill, wenn er schreibt, Schneider-Waterberg würde sich „immer wieder ideo­lo­gisch verrennen“, „wittere ein ‚Meinungs­kar­tell‘ poli­tisch korrekter Histo­riker und ‚Geno­zid­ver­ses­sener‘, gar eine Verschwö­rung“. Grill schliesst daraus, die „Fach­leute“ seien in zwei unver­söhn­liche Lager gespalten…

Es ist völlig richtig, dass Kolo­ni­al­quellen kritisch gelesen werden müssen, gerade weil die Herero und Nama teil­weise sehr erfolg­reich waren und der Krieg enorme Summen verschlang, die gerecht­fer­tigt werden mussten (so kam es 1906 zu einer poli­ti­schen Krise in Deutsch­land, nachdem die Regie­rung im Reichstag einen Nach­trags­haus­halt von 29 Millionen Mark für den Krieg bean­tragte). Den aufge­bla­senen von Trotha mit seinen Grös­sen­phan­ta­sien kriti­sierten schon Kolo­ni­al­of­fi­ziere, und die zugäng­li­chen Quellen (die Familie von Trotha hält ihr Archiv für nicht genehme Histo­riker unter Verschluss) wurden in der Geschichts­wis­sen­schaft kritisch disku­tiert und keines­wegs einfach wieder­ge­geben. Ebenso ist es richtig, dass es unter Herero unter­schied­liche Posi­tionen zum Kriegs­ver­lauf und zu den Konse­quenzen des Krieges gibt. Grill zitiert aber nur einen Gewährs­mann, David Kamba­zembi, der „die Herero“ reprä­sen­tiert und der im Übrigen auch eine Wider­gut­ma­chungs­for­de­rung erhoben hat.

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Kurzum, anstatt die breite Forschung mit ihren unter­schied­li­chen Facetten, Frage­stel­lungen und Einschät­zungen zu refe­rieren oder auch nur zu konsul­tieren, werden einzelne Figuren oder Posi­tionen heraus­ge­griffen, die dann fürs Ganze stehen. Zudem werden popu­la­ri­sierte Darstel­lungen, die nicht zuletzt auch die Medien anläss­lich des 100. Jahres­tages des Krieges 2004 in grosser Zahl produ­ziert haben, wieder­holt und fälsch­li­cher­weise als die domi­nante Forschung ausge­geben. Es fehlen in diesen Darstel­lungen insbe­son­dere Hinweise auf die Forschungen der Gene­ra­tion nach Horst Drechsler und Helmut Bley, so z.B. die Arbeiten von Jan-Bart Gewalt, Marion Wallace, Larissa Förster und auf weiter­füh­rende Forschungs­fragen zur Nach­kriegs­zeit des Kolo­ni­al­kriegs sowie zur Erinnerungskultur.

Die Frage, ob es sich bei dem Kolo­ni­al­krieg um einen Genozid gehan­delt hat oder nicht, beflü­gelt die Histo­ri­ke­rinnen und Histo­riker etwa so wie die Frage, ob Marignano die Schweizer Neutra­lität begründet hat: Die Fakten liegen schon lange auf dem Tisch, die Inter­pre­ta­tionen diver­gieren, und die akade­mi­sche Kara­wane ist längst weiter­ge­zogen, während noch einige poli­tisch moti­vierte Rück­zugs­ge­fechte geführt werden. Bartho­lo­mäus Grill selbst hatte übri­gens 2004 in der ZEIT unter dem Titel „Aufräumen, aufhängen, nieder­knallen!“ vom „ersten Genozid des 20. Jahr­hun­derts“ geschrieben. Warum er nun zwölf Jahre später zu einer anderen Einschät­zung kommt, verrät er uns leider nicht.

Jim Naughten: Herero Women Marching (2012) (c) Jim Naughten, courtesy of Klompching Gallery, New York

Jim Naughten: „Herero Women Marching“ (2012); Quelle: jimnaughten.com