Die ökologische Frage schafft keine politische Einigkeit. Das politische Projekt eines Umweltschutzes der 99% denkt den dringend nötigen Systemwandel deshalb als Zusammenspiel politischer und sozialer Kämpfe.

  • Milo Probst

    Milo Probst schreibt an der Universität Basel eine Dissertation über die Geschichte des Umweltdenkens im Anarchismus zwischen 1870 und 1920. Er ist Autor des Buches „Für einen Umweltschutz der 99%. Eine historische Spurensuche“ (Nautilus, 2021).

Den grossen Klima­be­we­gungen der letzten Jahre ist es gelungen, das Thema der Umwelt­zer­stö­rung und der Klima­krise ins öffent­liche Bewusst­sein zu rücken. Gleich­zeitig wurde deut­lich, dass es nicht einen Umwelt- respek­tive Klima­schutz gibt. Zwischen den libe­ralen Klima­schutz­po­li­tiken, die auf Markt­me­cha­nismen setzen, den offen rassis­ti­schen Poli­tiken des ‚Heimat­schutzes‘, wie sie Rechts­extreme vertreten, den sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Forde­rungen nach einem Green New Deal oder den dezi­diert kapi­ta­lis­mus­kri­ti­schen Ansätzen bestimmter Teile der Klima­be­we­gung sind die Unter­schiede offen­sicht­lich. Die Heran­ge­hens­weisen unter­scheiden sich vor allem dahin­ge­hend, inwie­fern sie soziale Herr­schafts­ver­hält­nisse und Ungleich­heiten perp­etu­ieren oder aufbrechen.

So wird deut­lich, dass Klima- und Umwelt­schutz grund­le­gende poli­ti­sche Fragen aufwerfen. Es geht mit anderen Worten um Klimagerech­tig­keit, wie der kürz­lich erschie­nene Bericht des Welt­kli­ma­rates IPCC noch einmal deut­lich aufzeigt. Das herkömm­liche Bild eines poli­tisch neutralen Umwelt­schutzes verliert sicht­lich an Plausibilität.

Klima- und Umwelt­zer­stö­rung sind somit keine isolierten Probleme. Die Frage, wie wir uns zu unseren nicht-menschlichen Umwelten verhalten, tangiert jeden einzelnen Bereich des gesell­schaft­li­chen Lebens. Die Idee eines Umwelt­schutzes der 99% umfasst eine eman­zi­pa­to­ri­sche Politik, die über verschie­dene soziale Kämpfe den drin­gend nötigen „System­wandel“ herbei­führen soll. Wie das aussehen könnte, zeigt ein eindrück­li­ches Beispiel aus Frankreich.

Besetzen

Der Wider­stand gegen den Bau des Flug­ha­fens von Notre-Dame-Des-Landes nörd­lich von Nantes gehört zu den prägendsten west­eu­ro­päi­schen Umwelt­be­we­gungen der letzten Jahr­zehnte. Die Ursprünge der Bewe­gung reichen bis in die 1960er Jahre zurück, als die Regie­rung im Geist der produk­ti­vis­ti­schen Moder­ni­sie­rung und des nach­kriegs­zeit­li­chen Wirt­schafts­booms den Bau eines Flug­ha­fens plante. Die nach­fol­genden Jahr­zehnte waren von breiten zivil­ge­sell­schaft­li­chen Wider­ständen von Anwoh­nenden, Landwirt:innen und Natur­schüt­zenden geprägt. Das Flug­ha­fen­pro­jekt gefähr­dete eine arten­reiche Heckenlandschaft.

Nachdem es lange Zeit auf Eis lag, nahm man das Projekt in den 2000er Jahren erneut auf. Die Konzes­sion erhielt der Baukon­zern Vinci, der 2011 mit den Arbeiten begann. Kurz darauf wurden erste Enteig­nungen ausge­spro­chen und die Wider­stände und Beset­zungen des Geländes inten­si­vierten sich. Unter­schied­liche Kollek­tive mit verschie­denen Taktiken und Forde­rungen – anar­chis­ti­sche Besetzer:innen, Landwirt:innen, Naturschützer:innen usw. – verei­nigten sich in diesem terri­to­rialen Kampf. Es öffnete sich ein demo­kra­ti­scher Raum des Austau­sches und Aushan­delns unter­schied­li­cher Vorstel­lungen, wie das Terri­to­rium bewohnt werden sollte. Im Zusam­men­hang mit der Bewe­gung gegen die libe­rale Arbeits­markt­re­form durch die sozia­lis­ti­sche Regie­rung von Fran­çois Hollande inten­si­vierten sich 2016 die Alli­anzen mit anderen gesell­schaft­li­chen Akteuren. Schliess­lich sah sich der neu gewählte Präsi­dent Emma­nuel Macron 2018 gezwungen, das Projekt einzu­stellen. Der Sieg der Bewe­gung war inso­fern nicht voll­ständig, als die Regie­rung im Anschluss eine „Norma­li­sie­rung“ der terri­to­rialen Nutzung anstrebte und lang­jäh­rige Beset­zungen räumte.

Die soge­nannte „ZAD“ (Zone à Défendre) von Notre-Dame-Des-Landes wurde zum Emblem der Umwelt­be­we­gung. In Frank­reich entstanden zahl­reiche ZADs: gegen eine Atom­la­ger­stätte (Bure), einen Stau­damm (Sivens), ein Immo­bi­li­en­pro­jekt (Roybon) oder das Zube­to­nieren von Stadt­gärten (Auber­vil­liers), um nur einige zu nennen. Auch in Belgien oder der Schweiz entstanden Vertei­di­gungs­zonen. Die Wald­be­set­zungen in Deutsch­land können eben­falls in diese Tradi­tion ökolo­gi­scher Wider­stands­formen gestellt werden.

Eine Gene­ral­ver­samm­lung in Notre-Dame-des-Landes. © French Skippy, Quelle: mediapart.fr

Konflikt der Welten

Die Gegner:innen und Befürworter:innen des Flug­ha­fens vertraten zwei unter­schied­liche Gesell­schafts­pro­jekte, zwei inkom­pa­tible Vorstel­lungen der Land­nut­zung und des Zusam­men­le­bens. Auf der einen Seite stand ein produk­ti­vis­ti­sches Modell, das bereit ist, arten­reiche Ökosys­teme und Lebens­räume dem Profit­streben zu opfern. Auf der anderen Seite vertei­digten die Aktivist:innen eine soli­da­ri­sche Form des Zusam­men­le­bens, die auf gemein­schaft­liche und ökolo­gi­sche Nutz­formen des Landes setzt. „Es war diese Suspen­die­rung der produk­ti­vis­ti­schen Logiken“ durch die ZAD von Notre-Dame-Des-Landes, schreibt der Histo­riker Chris­tophe Bonneuil, „die das Verschwinden von Flora und Fauna verhin­derte und einer ganzen Reihe von Alli­anzen zwischen Menschen und Nicht-Menschen das Fort­be­stehen oder Neuent­stehen ermöglichte.“

Dieser „Konflikt der Welten“, wie die Philosoph:innen Léna Balaud und Antoine Chopot es nennen, macht deut­lich, dass es sich bei der Klima- und Umwelt­frage um eine „System­frage“ handelt. Ohne einen Bruch mit der Logik des gren­zen­losen Wachs­tums scheint eine Lösung der Klima­krise und der Umwelt­zer­stö­rung immer unwahr­schein­li­cher. Während Regie­rungen und inter­na­tio­nale Insti­tu­tionen die Lösung der Klima­frage weiterhin mehr­heit­lich im Rahmen der bestehenden wachs­tums­ori­en­tierten Insti­tu­tionen suchen, fordern zahl­reiche Bewe­gungen und Ansätze eine radi­kale Verschie­bung der Prio­ri­täten: Statt Wachstum um jeden Preis soll es um eine bedürf­nis­ori­en­tierte, soli­da­ri­sche, auf Fürsorge und Demo­kratie setzende Form des Wirt­schaf­tens und Zusam­men­le­bens gehen.

Dieser Konflikt der Welten macht deut­lich, dass die Umwelt­krise kein Einver­nehmen stiftet. Im Gegen­teil, das Unver­nehmen gehört zu jeder Politik, auch zur ökolo­gi­schen. Statt dieser Tatsache mit einem Diskurs der angeb­lich wissen­schaft­li­chen Wert­neu­tra­lität auszu­wei­chen, denkt Umwelt­schutz der 99% Nach­hal­tig­keit und Soli­da­rität als Resultat von poli­ti­schen und sozialen Kämpfen.

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Soli­da­rität in Diversität

Femi­nis­ti­scher Protest in der ZAD, Quelle: mediapart.fr

„Soziale“ Konflikte um demo­kra­ti­sche Mitbe­stim­mung, Geschlech­ter­gleich­heit, Anti­ras­sismus, soziale oder inter­na­tio­nale Soli­da­rität sind der Umwelt­frage keines­wegs äusser­lich. Der Umwelt­schutz der 99% ist unwei­ger­lich einer inter­sek­tio­nale Politik verschrieben, die Race, Class und Gender sowie anderen Herr­schafts­ver­hält­nisse bei der Aushand­lung fürsorg­li­cherer Welt­ver­hält­nisse ernst nimmt. Wie es die Klima­ge­rech­tig­keits­be­we­gung seit vielen Jahren fordert, soll Umwelt­schutz der 99% aus hete­ro­genen Alli­anzen zwischen unter­schied­li­chen sozialen Akteuren und Bewe­gungen erwachsen, die gesell­schaft­liche und ökolo­gi­sche Miss­stände aus verschie­denen Seiten bekämpfen.

Eben solche Alli­anzen sind in der ZAD von Notre-Dame-Des-Landes entstanden. Es ergaben „unwahr­schein­liche Begeg­nungen“, wie es die Histo­ri­kerin Michelle Zancarini-Fournel nennen würde: Das Zusam­men­treffen von Menschen aus unter­schied­li­chen sozialen Schichten und mit diversen poli­ti­schen Sensi­bi­li­täten. So wurde die Bewe­gung zu einem Ort der Aktua­li­sie­rung (öko)feministischer Prak­tiken und Theo­rien. Rund um das Thema Poli­zei­ge­walt entstanden Bünd­nisse mit der anti­ras­sis­ti­schen Bewe­gung.

Insbe­son­dere die Zusam­men­ar­beit mit Gewerk­schaften möchte ich an dieser Stelle hervor­heben, wird doch immer wieder von einer Unver­ein­bar­keit zwischen ökolo­gi­schen und gewerk­schaft­li­chen Anliegen gespro­chen. Dennoch riefen die Sektionen der Confé­dé­ra­tion Géné­rale du Travail (CGT) des Unter­neh­mens Vinci 2016 dazu auf, das «unnütze und zerstö­re­ri­sche» Flug­ha­fen­pro­jekt aufzu­geben. Ein Gewerk­schafter, der regel­mässig an den Demons­tra­tionen teil­nahm, revi­dierte sein Bild von den Besetzer:innen: „Ich stellte mir euch als Menschen vor, die abseits der Gesell­schaft in Wäldern leben, nicht wirk­lich poli­tisch aktiv. Ich sagte mir: wenn ich hingehe, werden sie mir sagen: ‚Du bist Teil des Systems, mach es wie wir, desertiere.‘“

Damit verschwanden die Span­nungen und Konflikte inner­halb der Bewe­gung natür­lich keines­wegs. Von takti­schen Fragen nach der Legi­ti­mität von Gewalt­an­wen­dung bis hin zu Grund­satz­de­batten über den Umgang mit Geld oder staat­li­chen Insti­tu­tionen – so ziem­lich alles stand zur Debatte. Vor allem nach der Aufgabe des Flug­ha­fen­pro­jektes taten sich Konflikte zwischen Besetzer:innen und enteig­neten Landwirt:innen rund um die Eigen­tü­mer­schaft des Terri­to­riums auf.

Die kollek­tiven Subjekte eines Umwelt­schutzes der 99% können nicht als homo­gene Einheit ohne poli­ti­sche Frik­tionen gedacht werden. Die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin Kristin Ross spricht in Bezug auf die ZAD von Notre-Dame-Des-Landes von einer „Soli­da­rität in Diver­sität“, die aus konkreten Kämpfen sowie ihren Prak­tiken des Teilens und Austau­schens erwächst. Beim Umwelt­schutz der 99% geht es um ein Suchen von Gemein­sam­keiten zwischen verschie­denen Kollek­tiven, ohne die Diffe­renzen restlos zu tilgen.

Das im Bau befind­liche Warn­häus­chen „Bison Futé“, Quelle: mediapart.fr

Umwelt- und Klima­zer­stö­rung verän­dert die poli­ti­schen und sozialen Konstel­la­tionen, daran besteht kein Zweifel. Doch anders als es zum Beispiel Bruno Latour sugge­riert, bedeutet dies nicht das Ende tradi­tio­neller Konflikt­li­nien, wie sie die Geschichte des 19. und 20. Jahr­hun­derts geprägt haben. Klassen- und Geschlech­ter­be­zie­hungen, rassis­ti­sche und neoko­lo­niale Verhält­nisse sind längst nicht Vergan­gen­heit. Die ZAD von Notre-Dame-Des-Landes situ­ierte sich deut­lich in der Tradi­tion linker Werte, von Kapi­ta­lis­mus­kritik über Femi­nismus, soziale Gerech­tig­keit und demo­kra­ti­sche Selbst­be­stim­mung bis hin zu inter­na­tio­naler Soli­da­rität, Anti­ras­sismus und Anti­ko­lo­nia­lismus. In diesem Sinne ist Umwelt­schutz der 99% sowohl Wieder­an­knüp­fung an klas­sisch linke Anliegen als auch Neuerfindung.

Histo­rians in Action

Trotz ihrer Neuar­tig­keit und poli­ti­schen Krea­ti­vität: Auch die ZAD knüpfte an die Geschichte vergan­gener Bewe­gungen für Gerech­tig­keit und Soli­da­rität an. Das bei der Beset­zung aktive „Coll­ectif Mauvaise Troupe“ etwa stellt die Bewe­gung in eine Bezie­hung zur Allmen­den­be­wirt­schaf­tung des Mittel­al­ters, der Pariser Kommune von 1871 oder der „Kommune von Nantes“ im Mai 1968. „Diese Vorläufer*innen“, schreiben sie, „sind uns gleich­zeitig Mittel und Sinn unseres Kampfes und wir müssen weiter an ihnen lernen.“

Historiker:innen mögen hinter diesen Erzäh­lungen rasch eine Verein­fa­chung oder gar Mysti­fi­zie­rung der Vergan­gen­heit wittern. Eine solche poli­ti­sche Mobi­li­sie­rung des Vergan­genen hat aller­dings eine kriti­sche Funk­tion, die es ernst zu nehmen gilt. Sie bricht mit der schein­baren Alter­na­tiv­lo­sig­keit der Gegen­wart und Zukunft, indem sie die Vergan­gen­heit nach unein­ge­lösten Verspre­chen befragt.

Gemeinsam mit diesen „Histo­rians in Actions“, wie sie Massi­mi­liano Tomba nennt, knüpft der Umwelt­schutz der 99% an weit­ge­hend verges­sene oder unsichtbar gemachte Erfah­rungen an. Erfah­rungen der Frei­heit und des Knüp­fens von fürsorg­li­chen Bezie­hungen zwischen Menschen unter­ein­ander sowie zwischen Menschen und Nicht-Menschen. Gegen­über demo­bi­li­sie­renden Narra­tiven, wonach es im Sturm der Gegen­wart alles neu zu erfinden gilt, zeigt ein kriti­scher Blick in die Vergan­gen­heit, dass die aktu­ellen ökolo­gi­schen Bewe­gungen durchaus in einer diskon­ti­nu­ier­li­chen Tradi­tion eman­zi­pa­to­ri­scher Kämpfe stehen.

Erden

Der Verdienst der ZAD von Notre-Dame-Des-Landes liegt nicht nur darin, den Flug­hafen verhin­dert zu haben. Sondern den Aktivist:innen ist es auch gelungen, Alter­na­tiven zum „Busi­ness as usual“ im Hier und Jetzt vorzu­leben. In diesem Sinne geht es bei einem Umwelt­schutz der 99% darum, den Kampf gegen Klima­krise und Umwelt­zer­stö­rung sozu­sagen zu erden. Das meine ich einer­seits wort­wört­lich, im Sinne einer Terri­to­ri­a­li­sie­rung der Kämpfe und Alter­na­tiven zu zerstö­re­ri­schen Wachs­tums­mo­dellen. Ande­rer­seits ist meta­pho­risch zu verstehen, als Verwur­ze­lung in konkreten Erfah­rungen und kollek­tiven Prak­tiken. Nicht zuletzt soll der Klima- und Umwelt­schutz damit von allzu tech­no­kra­ti­schen, szien­tis­ti­schen und alltags­fernen Diskursen befreit werden. Statt nur Bilder von Kurven, Absenk­pfaden, CO2-Budgets und Klima­zielen zu produ­zieren, muss sich ein Umwelt­schutz der 99% auch darum bemühen, Alter­na­tiven ins Leben zu rufen. Denn letzt­end­lich geht es ja genau darum: Um die kollek­tive Vertei­di­gung und Neuerfin­dung eines soli­da­ri­schen Lebens in Verbun­den­heit gegen die Logik der Kommo­di­fi­zie­rung, Unter­wer­fung, Zurich­tung und Zerstückelung.