Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind routiniert und, wenn es nicht gerade um „Masseneinwanderung“, „Ausländer“ oder „Asylanten“ geht, vergleichsweise nüchtern. In ihren regelmässigen Volksabstimmungen entscheiden sie meist ziemlich unaufgeregt ein Sachgeschäft nach dem andern (in den letzten fünf Jahren waren es allein auf Bundesebene im Durchschnitt fast elf pro Jahr ), oft mit Mehrheiten um die 60%, mal für ein Ja, mal für ein Nein, kommt halt darauf an, um was es sich handelt. Dabei folgen sie zuweilen den Empfehlungen der Parteien, dann wieder nicht. Im Schnitt ist „das Stimmvolk“ (ein netter Helvetismus) kaum innovationsfreudig, sondern eher veränderungsscheu. Es mag keinen zu mächtigen Staat und lehnt, wenn es sein muss, auch die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge ab.
Weil die Mehrheiten und die politischen Koalitionen in diesen Sachabstimmungen immer wieder wechseln, entsteht dabei auch nicht das, was die von autoritären Gelüsten getriebene Rechte demagogisch als „das Volk“ beschwört: Jene vorpolitische, mythische Instanz, die von Rechtsnationalisten gegen das nüchterne Geschäft der Mehrheitsbildung in Demokratien und den parlamentarischen Prozess der Gesetzgebung ins Spiel gebracht wird. Mal will das Volk in Gestalt der Stimmbürger mehr Steuern, mal nicht; es will mehr Anbindung an die EU, oder doch weniger; manchmal spricht es Milliarden für den öffentlichen Verkehr, dann wieder nicht – es gibt eben „das“ Volk nicht, sondern nur wechselnde Mehrheiten.
65,5% für (viel) mehr staatliche Überwachung
Zuweilen muss man sich aber doch sehr wundern, wie das „Stimmvolk“ entschieden hat, vor allem dann, wenn „das Mehr komfortabel“ ist, wie man hierzulande sagt. 65,5% haben am vergangenen Sonntag ein neues Bundesgesetz gutgeheissen, das dem Nachrichtendienst sehr weitreichende, jetzt nicht mehr eindämmbare Möglichkeiten zur flächendeckenden Überwachung des Telefon- und Internetverkehrs gewährt (und darin z.B. nicht EMRK-kompatibel ist). Obwohl viele Juristen das Gesetz mit dem Kürzel NDG scharf kritisiert haben, wurde es in keinem einzigen Kanton abgelehnt. Der grosse Kanton Waadt hiess es gar mit einer Mehrheit von fast 75% gut, und die französischsprachige Schweiz, sonst meist eher etwas mehr nach links neigend als die deutschsprachige, war diesmal besonders zustimmungsfreudig.
Warum nur? Das massive Ja zum NDG in der Westschweiz ist sicher ein Hinweis darauf, dass dort, wo französische Medien einen starken Einfluss haben, die – verständliche – Angst vor Terrorismus in Frankreich auch zur durchaus weniger verständlichen Schlussfolgerung führte, dass der Staat nun ‚aufrüsten‘ müsse, um ‚technologisch‘ gegenüber ‚den Terroristen‘ gewappnet zu sein. Diese Argumente haben selbstverständlich auch in der Deutschschweiz zum Kern der befürwortenden Propaganda von bürgerlichen Parteien und z.B. auch der NZZ gehört. Der wiederholte Hinweis, dass etwa die Attentäter von Paris den Überwachungsbehörden lange bekannt waren und dass, wie empirisch mehrfach gezeigt wurde, das flächendeckende Absaugen von Telefon- und Internet-Daten noch nie wirksam gegen Terroranschläge geholfen hat (wenn schon, hilft nur konventionelle Geheimdienst- und Polizeiarbeit), konnten gegen diese Ängste wenig ausrichten. Auch der Hinweis auf die NSA und die Snowden-Enthüllungen blieben weitgehend unbeachtet. Falls also terroristische Gruppen das Ziel haben sollten, unsere Gesellschaften zu paranoiden autoritären Reflexen zu verleiten (was allerdings etwas gar viel des strategischen Denkens wäre, das man ihnen damit zubilligt), sind sie in der Schweiz diesem Ziel jetzt schon recht nahegekommen.
Man muss sich natürlich nicht darüber wundern, dass die nationale Rechte, die sonst keinen guten Faden am Staat lassen kann und munter vom „Sozialismus“ faselt, in dem wir angeblich zumindest mit einem Bein schon stecken, oder gar von der „Diktatur“, keine Scheu vor einem betont starken Staat hat. Für sie ist die Freiheit nicht die Freiheit der Anderen, der anders Denkenden und anders Lebenden, sondern die eigene Freiheit und – wie wir nicht erst seit gestern wissen – gegebenenfalls und gerne auch vorsorglich die Überwachung der Anderen. Das ist nichts Neues. Erstaunlich aber ist doch, wie leicht sich damit eine Mehrheit dieser nüchternen, nicht besonders staats-affinen Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gewinnen liess. Nochmals: Warum nur?
Postmoderne Selbstverhältnisse und die Macht der Daten
Wahrscheinlich muss man die Antwort auf diese Frage nicht im Feld des im engeren Sinne Politischen suchen, sondern im sehr weiten Feld der Wirtschaft und der damit verknüpften postmodernen Selbstverhältnisse. Eine einfache These: Die Zustimmung zum Nachrichtendienstgesetz fiel der grossen Mehrheit so leicht, weil wir alle uns selbst als mit Informationsdiensten vernetzt, von Informationen durchdrungen und durch Informationen konstituiert erleben. Das, was man mit dem französischen Philosophen und Historiker Michel Foucault seit den 1980er Jahren das „Selbstverhältnis“ nennt, das heisst die Beziehung zu sich selbst, die Arbeit an sich selbst, das Herstellen seiner selbst als eine Person in einem bestimmten sozialen und kulturellen Umfeld, und damit das Selbst seiner Handlungen und Neigungen, das Selbst auch seiner ethischen Entscheidungen, seiner Werte und Normen: all das können wir uns, mehr oder weniger, aber dennoch buchstäblich und alltäglich, nicht mehr ohne die unzähligen elektronischen Informationsdienste denken, in die wir unser Leben eingewoben haben.
Die These lautet daher, genauer gesagt: Der Mehrheit erschiene es offensichtlich eher paradox, angesichts der mit diesem Selbstverhältnis ‚sowieso‘ verbundenen Datenflüsse besondere Schutzmassnahmen gegen das Fliessen unserer Daten wohin auch immer zu ergreifen oder zu fordern. Will man im Ernst die Luft kanalisieren und kontrollieren, die man atmet…? Brauche ich wirklich ein besseres Passwort als „123456“, wenn Google und Facebook doch eh schon alles über mich wissen…? Wir leben in einer Welt, in der nicht nur das Private in Social Media freigiebig „geteilt“ wird, sondern vor allem das mir nicht einmal bewusste ‚Privateste‘, d.h. die verwertbare Summe aller Daten über mich, längst in den Besitz von Privatunternehmen übergegangen ist. (Ich spreche hier nur von Google und Facebook, aber z.B. nicht auch von all jenen Überwachungsformen und -techniken, die in der Industrie und in den Verwaltungen Arbeitnehmer und ihre Leistung bis ins Details messen und kontrollieren – und die dazu beitragen, dass wir alle diese Überwachungen zunehmend als selbstverständlich empfinden.)
Doch zurück zu den persönlichen Profil-Daten, die in den grossen Internet-Konzernen kompiliert werden. Die allgemein bekannte Pointe dabei ist, dass uns das herzlich egal ist, ja vielleicht sogar – es wäre die psychoanalytisch informierte Zuspitzung dieser Pointe –, dass wir es heimlich bzw. unbewusst wünschen und geniessen, dass nicht nur alle unsere „Freunde“ tiefe Einblicke in unsere Selbstverhältnisse haben können, sondern auch der „Grosse Andere“, das heisst jene Funktion, die die Psychoanalyse das „Gesetz“ nennt bzw. das unsere Welt zusammenhaltende Symbolische, verkörpert in einer Instanz, die der Liebe Gott genauso darstellen kann wie – das ist die Lösung der Moderne – ein tendenziell übermächtiger Staat, oder aber, in unserer Postmoderne, Google und Facebook. Wenn es wahr ist, dass jedes Selbstverhältnis im Rahmen einer symbolischen Ordnung sich konstituiert und situiert ist, d.h. in gemeinsamen kulturellen Mustern, Glaubenssystemen, Wert- und Ordnungsvorstellungen, letztlich im Rahmen einer gemeinsamen Sprache, dann drängt sich der Gedanke auf, dass die – erstmals! – global vernetzten Informationssysteme nicht nur in technischer und semantischer Hinsicht diese Funktion eines „Grossen Anderen“ einzunehmen beginnen. Offensichtlich sind wir daran, ihnen so zu vertrauen, wie man einer Sicherheit und Ordnung versprechenden Instanz eben vertraut.
Dem widerspräche nicht, dass man nicht ab und an über die Macht dieser Instanz flucht oder die Faust im Sack macht – man weiss dennoch, dass wir unsere Leben nicht mehr ohne sie zu führen im Stande sind. Dennoch bleibt merkwürdig, dass das, was wir Google und Facebook zubilligen, weil es angeblich ‚nur‘ kommerzielle Interessen berührt, in der Schweiz nun auch staatlichen Diensten zugestehen – so wie in den USA, wo der Widerspruch, geschweige denn der Widerstand gegen die NSA nach den Snowden-Enthüllungen de facto schnell zusammengebrochen ist, und so wie auch in anderen europäischen Ländern, für die das selbe gilt. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir grossmehrheitlich das private Erfassen von Daten über uns akzeptieren, umfasst also offensichtlich auch die staatliche Erfassung dieser Daten. Staatsrechtlicher, Datenschützer und Netzaktivisten führen bloss noch Rückzugsgefechte.
Der Staat tut, was die Privaten längst tun, und wir haben es akzeptiert. Darin liegt der Grund, weshalb der Protest gegen den Überwachungs- oder den „Schnüffelstaat“ nicht mehr greift: Angesichts der Macht von Google und Facebook, die wir inkorporiert bzw. mit unseren Leben verschaltet haben, erscheint der Staatsschutz der Schweiz bloss noch als (leicht bittere) peanuts. Das aber bedeutet: Wir können dem Staat nicht mehr die Ressource des Privaten entgegenstellen. Das Verhältnis zu sich selbst, sagte Michel Foucault einmal, ist der Ankerpunkt für den Widerstand gegen die Macht. 1982, als er das schrieb, erscheint als fast so lange her wie die griechische Antike, über die er dabei sprach. Wir haben heute diesen Ankerpunkt nicht mehr, weil unsere Selbstverhältnisse in bislang kaum vorstellbarer Weise von technischen und kommerziellen Mächten durchdrungen sind (und die politische Sphäre im Netz von automatisierten fake-accounts, sogenannten Bots, die gar kein Selbstverhältnis mehr haben, weil sie Roboter sind). Man muss kein Kulturkritiker sein, um dies unheimlich zu finden.

Foto: Pawel Kopczynski, Quelle: www.futurezone.at // phs