Dicke Menschen werden heutzutage stigmatisiert, ‚Übergewicht‘ gilt als Zeichen individuellen Scheiterns. Die Kalorie hat dazu beigetragen, dass Dicksein so verstanden werden kann. Ihre Geschichte zeigt das – und macht auch deutlich, dass es beim Abnehmen um gesellschaftliche Fragen geht.

Zu Jahres­be­ginn domi­niert – fast egal, was sonst gerade auf der Welt passiert – vor allem ein Thema die Gazetten: das Abnehmen. Zahl­reiche Artikel beför­dern die Vorsätze vieler Menschen, sich der ‚über­flüs­sigen Pfunde‘ zu entle­digen. Ob man eine „Dschungel-Diät“, „Dinner Cance­ling“ oder möglichst viele Voll­bäder favo­ri­siert: Dieje­nigen, die Rat geben, lesen, befolgen oder es zumin­dest versu­chen, eint eines: Sie wollen nicht dick sein. ‚Über­ge­wicht‘ firmiert als gesund­heit­li­ches Problem, mindes­tens als unschön. Vor allem aber scheint es Ausdruck indi­vi­du­eller Verfeh­lungen zu sein. Dicke gelten als faul, unge­bildet, nicht willens oder in der Lage, sich an die allge­gen­wär­tigen Diät­weis­heiten zu halten.

Diese Stig­ma­ti­sie­rung prägt unsere Gesell­schaft. Mitt­ler­weile zeigen verschie­dene Studien das Ausmaß der Diskri­mi­nie­rung, die dicke Menschen erfahren müssen: Demnach erhalten sie eine schlech­tere medi­zi­ni­sche Behand­lung, sind öfter von Armut betroffen und werden im Alltag belei­digt und ausge­grenzt.

Dass Dick­sein über­haupt so stig­ma­ti­siert werden kann, hängt mit einem anderen Phänomen zusammen: der Kalorie. Mit ihrer Erfin­dung im späten 19. Jahr­hun­dert verän­derte die Kalorie den Blick auf Ernäh­rung und Körper­form. Die Kalorie machte ‚Über­ge­wicht‘ zu einem Problem, indem sie Essen und Körper­form vermeint­lich genau kalkulier- und steu­erbar werden ließ und die Verant­wor­tung dafür auf die Indi­vi­duen verlagerte.

Die Erfin­dung des Kalorienzählens

Die Kalorie wurde im späten 19. Jahr­hun­dert als Maßein­heit für den Ener­gie­ge­halt von Nahrung einge­führt. Sie war Ausdruck eines ther­mo­dy­na­mi­schen Verständ­nisses von Körpern als Motoren, die die Nahrungs­en­ergie in physi­sche Arbeit umwan­delten. Und sie zeugte vom zeit­ge­nös­si­schen Bedürfnis, Körper zu vermessen und mit Hilfe wissen­schaft­li­chen Wissens zu gestalten. Kalo­ri­me­tri­sche Forschungen produ­zierten Tabellen, die den unter­schied­li­chen Kalo­rien­be­darf unter­schied­lich schwer arbei­tender Körper festlegten.

Ums Abnehmen ging es da nicht. Die Kalorie ist in einem sozialen und poli­ti­schen Kontext entstanden, in dem man sich um Mangel­er­näh­rung und Hunger, vor allem aber auch über Klas­sen­kämpfe sorgte. Proteste gegen Armut und Streiks für höhere Löhne brachten in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hun­dert Ernäh­rung als soziale Frage in Europa und den USA auf die Tages­ord­nung. Mit Hilfe der Kalorie erforschten Ernährungswissenschaftler*innen und Ökonomen, wie sich eine ausrei­chende Versor­gung arbei­tender Körper sichern ließe. Die Kalorie machte es möglich, Arbei­tende dazu aufzu­for­dern, teure Nahrungs­mittel wie Fleisch und Gemüse durch solche zu ersetzen, die mehr Kalo­rien für weniger Geld lieferten, wie etwa Hafer­flo­cken und Bohnen. Diese Sicht, in der Hunger vor allem eine Frage schlechter Haus­halts­füh­rung und falscher Kauf­ent­scheide und weniger eine Folge nied­riger Löhne zu sein schien, trug wesent­lich zur Entpo­li­ti­sie­rung des Hungers bei.

Erst zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts begann das Abnehmen beim Kalo­rien­zählen eine Rolle zu spielen. 1918 erschien in den USA einer der ersten Diät­rat­geber, der das Kalo­rien­zählen als Methode anpries, um Körper­fett abzu­bauen und ein „Ideal­ge­wicht“ zu errei­chen. Das Buch Diet and Health With Key to the Calo­ries der Ärztin Lulu Hunt Peters wurde ein großer kommer­zi­eller Erfolg und machte das Kalo­rien­zählen in der ameri­ka­ni­schen Mittel­klasse populär. „Watch Your Weight“ prangte fett auf dem Cover, und Peters hielt gleich zu Beginn ihrer Ausfüh­rungen fest, dass Abnehmen für sie alter­na­tivlos war: „How any one can want to be anything but thin is beyond my intelligence.“

Dick­sein als neues Problem

Dass Peters so ener­gisch zum Abnehmen aufrufen konnte, war recht neu in den USA. Das bedeutet nicht, dass zuvor niemand versucht hätte, abzu­nehmen. Aber noch bis ins spätere 19. Jahr­hun­dert war Dick­sein etwas, das kaum proble­ma­ti­siert wurde. Zudem galt Körper­fülle eher als Zeichen für Wohl­stand, ausrei­chende Versor­gung und Gesund­heit. So konnte noch 1910 ein Arzt in der New York Times postu­lieren, Dick­sein sei wie ein gefülltes Bank­konto und ein Boll­werk gegen zivi­li­sa­to­ri­schen Stress. Der Artikel trat jedoch bereits gegen zeit­ge­nös­si­sche Stimmen an, die das ganz anders sahen. Sie kriti­sierten, dass die Ameri­kaner immer dicker würden, weil sie sich in modernen Zeiten weniger bewegen müssten: „Instead of lifting weights or pumping, men turn on an elec­tric switch,“ beschwerte sich etwa ein New Yorker 1899.

Dass es hier um Sorgen einer drohenden Verweich­li­chung weißer bürger­li­cher Männer in der Moderne und mithin um eine Urangst der Epoche ging, ist entschei­dend dafür, die Geschichte von ‚Über­ge­wicht‘ zu verstehen. Erstens galt Dick­sein ganz im Gegen­satz zu heute als Malaise der Mittel­klasse, unter der vor allem dieje­nigen zu leiden hatten, die keine harten Fabrik­ar­bei­ter­jobs (mehr) hatten, aber noch nicht an den stei­genden Wohl­stand gewöhnt waren. Und zwei­tens wandten sich die zeit­ge­nös­si­schen Diät­emp­feh­lungen primär an Männer, die durch harte Diät­dis­zi­plin demons­trieren sollten, den Bequem­lich­keiten von Büro­ar­beit und neu erlangtem Wohl­stand wider­stehen und nach wie vor das berühmte „stre­nuous life“ (Theo­dore Roose­velt) führen zu können. Gerade für Frauen galt bis ins frühe 20. Jahr­hun­dert eher die Devise, rund und damit vermeint­lich fruchtbar zu sein – umso mehr, weil man ihnen die zum erfolg­rei­chen Diät­halten erfor­der­liche Diszi­plin qua Geschlecht nicht zutraute. Bei Männern dagegen schien Körper­fett nun mehr und mehr Ausdruck von Kontroll­ver­lust und Faul­heit und damit der Unfä­hig­keit zu sein, die Frei­heiten der libe­ralen Gesell­schafts­ord­nung richtig zu nutzen.

„Fat Custom“, Foto Terry Vine/Corbis; Quelle: npr.org

Die Popu­la­ri­sie­rung der Kalorie beschleu­nigte diesen Wandel. Sie trug maßgeb­lich dazu bei, dass aus Wohl­stands­speck ‚Über­ge­wicht‘ wurde. Denn mit der Kalorie konnte eine Verknüp­fung von ‚über­mä­ßigem‘ Essen und ‚Über­ge­wicht‘ auf physio­lo­gi­scher Grund­lage herge­stellt werden. Weil sie diese Verknüp­fung bere­chenbar machte, beför­derte sie die Vorstel­lung, dass Dick­sein auf die Unfä­hig­keit von Indi­vi­duen verwies, sich unter Kontrolle zu halten und an sich zu ‚arbeiten‘.

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Eine der wich­tigsten Lehren des Kalo­rien­zäh­lens war, dass sich der Nahrungs­be­darf des Körpers quan­ti­fi­zieren ließ, und zwar je nach seiner Akti­vität. Wie Ernäh­rungs­rat­geber verkün­deten, benö­tigte ein Mann, der einer sitzenden Tätig­keit nach­ging, täglich 2200 bis 2800 Kalo­rien, während eine schwer arbei­tende Frau – etwa eine Wäscherin – zwischen 2500 und 3000 Kalo­rien benö­tige. Frei­lich ließen diese Zahlen recht große Spiel­räume, der Effekt solcher Quan­ti­fi­zie­rungen war jedoch immens: Sie objek­ti­vierten, was zuvor eher als Frage indi­vi­du­eller Unter­schiede gedacht war. Die bereits erwähnte Ärztin Lulu Hund Peters konnte ihren Leser*innen nicht nur vorrechnen, wie viel sie wiegen sollten (die entspre­chende Formel lautete: „Multiply number of inches over 5 ft. in height by 5½; add 110“ ). Mithilfe der Kalorie war es ihr auch möglich, den Abnehm­er­folg – strenge Diszi­plin voraus­ge­setzt – genau zu bezif­fern. Bei 1000 Kalo­rien pro Tag weniger – so lautete Peters Empfeh­lung – sollten 8 Pfund monat­lich und 96 Pfund im Jahr verloren gehen.

„A Disgrace to Be Fat“?

Mit dem Wissen um die Kalorie konnten dicke Menschen nun noch stärker als zuvor als unkon­trol­lierte Esser*innen verstanden werden. Im Ersten Welt­krieg rief in den USA eine groß­an­ge­legte Kampagne die Bevöl­ke­rung dazu auf, Essen zu sparen, um es hungernden Fami­lien und ameri­ka­ni­schen Soldaten an der Front zur Verfü­gung zu stellen. Dick­sein wurde in diesem Zusam­men­hang als „unpa­trio­tisch“ gebrand­markt. Dicke Menschen würden in ihren Körpern Nahrung „horten“, die dann in Europa fehlte – auf dieser Lesart beruhte auch der Erfolg von Peters Buch. Doch auch Jahre später, als der Deutungs­rahmen des Krieges nicht mehr genug Wucht entfal­tete, forderte die Ärztin dicke Menschen auf, öffent­lich zu geloben, dass sie abnehmen wollten, um ihren Teil zu einer gesunden Nation beizutragen.

Der heute allge­gen­wär­tige starker Fokus auf gesund­heit­liche Gründe fürs Abnehmen begann sich in den 1920er Jahren erst heraus­zu­bilden – doch auch hier ging es nicht um die gesund­heit­li­chen Nach­teile vom Dick­sein per se, sondern die des damit verknüpften Essver­hal­tens. Die meisten Krank­heiten, so hieß es, würden nicht durch „Über­ge­wicht“, sondern durch „über­mä­ßiges“ Essen entstehen. In dem Maße, in dem Über­ge­wicht zum – kalku­lier­baren – Problem wurde, ging es mit der Verpflich­tung einher, diesem Problem zu begegnen: Peters selbst schrieb, bis dato sei Dick­sein keine „Schande“ gewesen, weil die Menschen es nicht besser wissen konnten. Nun aber hätte sich beides geän­dert. Dick­sein sei nun „schand­haft“ (disgraceful), weil neue wissen­schaft­liche Erkennt­nisse die Menschen in die Lage versetzen würden, sich gemäß ihren Kalo­rien­be­darfen zu ernähren und gezielt Fett loszuwerden.

Die mora­li­sche Kritik am ‚Über­ge­wicht‘ grün­dete nunmehr im Vorwurf, dass dicke Menschen sich nicht ange­messen führten. Was ange­mes­sene ‚Führung‘ war, meinte man nun präzise und wissen­schaft­lich auto­ri­siert bezif­fern zu können. Ratgeber wie Prac­tical Dietary Computer (1917) oder Eat Your Way to Health: A Scien­tific System of Weight Control (1916) enthielten Angaben zum Kalo­rien­be­darf von Indi­vi­duen unter­schied­li­chen Alters und Geschlechts sowie zum Kalo­rien­ge­halt verschie­dener Lebens­mittel und Tagesmenüs.

Frauen fordern ein Recht auf Diät

Während die Kalorie dicke Körper zum Zeichen eines faulen, undis­zi­pli­nierten Selbst machte, versprach demons­tra­tives Kalo­rien­zählen das Gegen­teil: gesell­schaft­liche Aner­ken­nung. Peters forderte ihre Lese­rinnen auf, ihre Klei­dung beim Abnehmen nicht enger zu nähen: „If they are loose they will show to the world that you are redu­cing.“ Der frei­wil­lige Verzicht auf Essen versprach Aner­ken­nung nicht nur, weil er zeigte, dass man es sich leisten konnte. Die dabei demons­trierte Selbst­dis­zi­plin ließ Schlank­sein – oder den Weg dahin – viel­mehr zur Verkör­pe­rung erfolg­rei­cher Selbst­füh­rung werden.

David Lapera: Katy Perry (via Photo­shop); Quelle: diyphotography.net

Dass Schlank­sein und -werden diese Bedeu­tung annahm, war mitver­ant­wort­lich für eine geschlechter- und körper­ge­schicht­lich inter­es­sante Wende. Nachdem nämlich Frauen zunächst von Diät­emp­feh­lungen ausge­schlossen waren und damit auch keinen Zugang zu der damit verknüpften Aner­ken­nung als selbst­ver­ant­wort­liche Subjekte hatten, verän­derten sie dies im frühen 20. Jahr­hun­dert. Femi­nis­tinnen wie Eliza­beth Cady Stanton verknüpften die Forde­rung nach einem Recht auf Diäten für Frauen mit der nach poli­ti­scher Teil­habe. Die demons­trierte Fähig­keit, seinen eigenen Körper zu diszi­pli­nieren, konnte nun auch für (weiße!) Frauen zum symbo­li­schen Kapital werden. Eine Leserin von Peters schrieb: „I am proud that you belong to my sex. Women evidently is not the weaker sex in a mental way.”

Am Ende zählt die Kalorienbilanz?

Die Vorstel­lung, dass ‚über­mä­ßiges‘ Essen für Indi­vi­duen über die Kalorie messbar und ‚Über­ge­wicht‘ so vermeidbar ist, prägt – trotz aller Kritik an der Kalorie – auch heute Diät­emp­feh­lungen. Am Ende zählt die Kalo­rien­bi­lanz, so das Credo gegen­wär­tiger Diät­tipps – ob es um Inter­vall­fasten, IIFYM („If it fits your macros“), oder eine andere Diät­me­thode geht.

Heute spricht zwar kaum jemand mehr explizit davon, dass Dick­sein ‚unpa­trio­tisch‘ wäre, aber Refe­renzen zu den vermeint­li­chen Bürden, die dicke Menschen den Kran­ken­kassen, Arbeit­ge­bern und der Gemein­schaft aufer­legen würden, sind allge­gen­wärtig. Zugleich gilt ‚Über­ge­wicht‘ als Problem des Indi­vi­duums, das es indi­vi­duell lösen soll. Auch wohl­mei­nende Erklä­rungen, die gesell­schaft­liche Ungleich­heit und mangelnden Zugang zu gesundem Essen kriti­sieren, repro­du­zieren oft eine Lesart, nach der indi­vi­du­elles Essver­halten der entschei­dende Schlüssel zum Schlank- und Gesund­werden ist und ein dicker Körper eben darauf verweist, dass Menschen falsche Entschei­dungen treffen.

Cosmopolitan-Titel; Quelle: cosmopolitan.com

Dabei geht es hier stets um mehr als nur das Abnehmen. Viel­mehr geht es um die Fähig­keit zur Selbst­füh­rung in einer ‚freien‘ Gesell­schaft, darum, die ‚rich­tigen‘ Entschei­dungen im Spiel der Möglich­keiten zu treffen – eine Fähig­keit, die an den Körpern ablesbar scheint. ‚Über­ge­wicht‘ wird zum mora­li­schen Problem, das von der Unfä­hig­keit zu zeugen scheint, sich selbst­ver­ant­wort­lich zu verhalten, das heißt, perma­nent an sich zu ‚arbeiten‘. Die Proble­ma­ti­sie­rung dicker – sowie anderer nicht-normativer – Körper zeigt, wie eine Gesell­schaft funk­tio­niert, in der Körper als Ausweis von Selbst­ver­ant­wor­tung gelten und gesell­schaft­li­cher Status darüber verhan­delt wird, wieviel Speck man auf den Hüften trägt.