Die Änderungen unserer Lebensweisen in den vergangenen Wochen haben gezeigt, dass es an der Zeit ist, unsere Annahmen über die Bedingungen individuellen Lebens zu überprüfen. Gut, dass einige Autor*innen in den letzten Jahren schon darüber nachgedacht haben.

  • Patrick Hohlweck

    Patrick Hohlweck ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin tätig mit einem Projekt zum Verhältnis von Zeit und Individualität im 17. und 18. Jahrhundert.

Zwischen Juni und September 1743 starb die Hälfte der Bevöl­ke­rung der sizi­lia­ni­schen Hafen­stadt Messina an der Pest. Die von der fran­zö­si­schen und engli­schen Marine betrie­bene Containment-Strategie im Mittel­meer­raum zwang dabei auch ein Schiff, auf dem sich Jean-Jacques Rous­seau befand, zu einer Zwangs­pause in Genua.

Vor die Wahl gestellt, ob sie die drei­wö­chige Quaran­täne an Bord der Feluke oder in einem Hafen­la­za­rett verbringen wollten, entschieden sich die Passa­giere für das Schiff – mit einer Ausnahme: Rous­seau beschloss als Einziger, sich in dem gerade erst einge­rich­teten, noch voll­kommen leeren Gebäude nieder­zu­lassen. Dabei fühlte er sich, so lesen wir in seinen Confes­sions, in der Hafen­qua­ran­täne „comme un nouveau Robinson“ – „wie ein neuer Robinson“: In der Isola­tion imagi­nierte sich Rous­seau als Robinson Crusoe, also als jene Zentral­figur der libe­ralen Mytho­logie, die Daniel Defoe keine dreißig Jahre zuvor beschrieben hatte und von der Rous­seau gera­dezu besessen war.

Robinson Crusoe, hier einsam und drei­fach bewaffnet, aus: Daniel Defoe: The Life and Strange Surpri­zing Adven­tures of Robinson Crusoe, etc. (1719); Quelle: wikimedia.org (Scan: The British Library)

Vermut­lich fühlen sich dieser Tage nicht viele derer, die in der Lage sind, der Forde­rung nach Selbst­iso­la­tion nach­zu­kommen, an Defoes Roman­held erin­nert. Dass in Situa­tionen der Krise ein Rück­griff auf Fiktionen statt­findet, ist aller­dings kein nur histo­ri­scher Umstand und lässt sich an der gegen­wär­tigen Konjunktur von Pandemie-Blockbustern zwischen Giovanni Bocc­ac­cios Deca­me­rone, Albert Camus’ La Peste und Steven Soder­berghs Conta­gion ablesen. Deren Anzie­hungs­kraft liegt nicht allein in ihrem Unter­hal­tungs­wert. Viel­mehr wird an ihnen deut­lich, dass sich Kunst­werke in beson­derer Weise auf den Umgang mit einer unge­wissen oder offenen Zukunft verstehen. Außerdem sind sie unter Umständen in der Lage, wie Robinson Crusoe für Rous­seau, die Bedin­gungen eines gelin­genden Lebens vorzu­führen; beides Fähig­keiten, die unter gegen­wär­tigen Bedin­gungen von einigem Inter­esse sind.

Bereits in den ersten Tagen der gegen­wär­tigen Pandemie wurde viel­fach erklärt, dass es geboten sei, den aufge­zwun­genen Rückzug ins Private als Gele­gen­heit zur self care zu verstehen, aus der wir erfrischt und leis­tungs­fähig hervor­gehen könnten; ein Retreat, der großen Teilen der Bevöl­ke­rung frei­lich nicht zur Verfü­gung steht.Wie ein Abwehr­zauber, oder als gelte es, einen stra­fenden Gott durch Einsicht zu beschwich­tigen, wird Selbst­ver­bes­se­rung gelobt, bisweilen verbunden mit der Fest­stel­lung, nun sogar auch zu erkennen, wer – in den Worten Angela Merkels – „den Laden am Laufen“ halte, nämlich die Ange­stellten der Super­märkte und der Stadt­rei­ni­gungen, die Pfle­ge­kräfte und Ärztinnen.

Bei derart einge­lei­teten Bekennt­nissen zu neu- oder wieder­ent­deckter Soli­da­rität, die als wenig mehr als eine Zugabe zu personal growth daher­kommt, ist Skepsis geboten. Denn wenn sich bereits jetzt abzu­zeichnen scheint, dass die Welt nach COVID-19 wohl eine ganz andere werden wird, dann auch, weil die Krise auch das Ende einer Epoche bedeuten könnte, in der zuneh­mend atomi­sierte Einzel­per­sonen einander zuneh­mend ratlos begegnet sind. Noch der Letzte reali­siert heute, dass die Bedin­gungen indi­vi­du­ellen Wohls an öffent­li­chen, gemein­samen Infra­struk­turen hängen, die in großen Teilen Südeu­ropas, aber auch in Deutsch­land mancher­orts bereits seit geraumer Zeit am Rand des Zusam­men­bruchs operieren oder in einigen Kommunen schon aufge­geben worden sind.

Die para­doxe Situa­tion, dass wir uns isolieren müssen, um unsere Gemein­schaft zu erhalten, stellt die multi­plen Priva­ti­sie­rungen des öffent­li­chen Raums in ein neues Licht. Eine solche mit exis­ten­zi­eller Dring­lich­keit erwor­bene Einsicht in ein Leben in Gemein­schaft, aber auch der viel­leicht etwas unge­lenke Applaus von den Balkonen oder die zahl­rei­chen anderen merk­wür­digen Ände­rungen unserer Lebens­weisen frap­pieren vieler­orts deshalb so sehr, weil es sich um zaghafte Einübungen in soziale Rela­tionen handelt, die der schein­baren Natur­wüch­sig­keit des Menschen in Total­kon­kur­renz widersprechen.

Einzeln oder individuell

Was sich mit dem Corona-Frühjahr 2020 daher mit Nach­druck als intel­lek­tu­elle Aufgabe gestellt haben dürfte, ist die Revi­sion unseres Verständ­nisses des Indi­vi­duums. Nicht als der Auftrag einer Nach­jus­tie­rung jener poli­ti­schen Basis­ein­heit des Libe­ra­lismus, sondern als Anlass, die anste­henden Umbauten unserer sozialen und poli­ti­schen Wirk­lich­keiten mit einer neuen Figu­ren­lehre auszustatten.

Das Leben der Einzelnen und seine Voraus­set­zungen neu zu verstehen, wird die Bedin­gung sein für eine Soli­da­rität, die dem Virus in dessen globaler Diffu­sion folgen muss: Soli­da­rität mit den Schwächsten muss die Vulnerabelsten in der eigenen Nach­bar­schaft ebenso meinen wie die Menschen, die in den Lagern auf den grie­chi­schen Inseln einge­pfercht sind, oder die welt­weit 60% infor­mell Arbei­tenden, die erst in den kommenden Wochen und Monaten die volle wirt­schaft­liche Wucht der Pandemie zu spüren bekommen werden.

Über­ra­schend aktuell. Film­plakat von Ondi Timoners WE LIVE IN PUBLIC (2009); Quelle: amazon.com

Ein solcher Versuch, den Einzel­men­schen anders denn als sich selbst genü­gendes, unteil­bares Indi­vi­duum zu denken, würde davon profi­tieren, die Beschrän­kungen unserer histo­ri­schen Einbil­dungs­kraft zu lockern, und das bedeutet: die neuzeit­liche Geschichte von Indi­vi­duum und Indi­vi­dua­lität auf vernach­läs­sigte oder abge­drängte Alter­na­tiven zum Robinson’schen Modell der Lebens-, Geschäfts- und Menschen­füh­rung zu prüfen. Denn das von Kosmos und Gesell­schaft abge­kap­selte ‚insu­lare‘ Einzel­wesen, das spätes­tens seit dem 18. Jahr­hun­dert die west­liche Vorstel­lung einer Frei­heit, Wohl­stand und Ordnung garan­tie­renden Einrich­tung der Welt weit­ge­hend exklusiv infor­miert hat, ist faktisch nicht allein: es hat Geschwister.

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In der Tat exis­tiert eine umfang­reiche Lite­ratur, die sich auf theo­re­ti­scher Ebene mit der Frage befasst, wie ein Leben unter der Voraus­set­zung gedacht werden kann, dass der einzelne Mensch zwar als ganzer handlungs- und reak­ti­ons­fähig ist, dabei aber selbst aus verschie­denen Indi­vi­duen zusam­men­ge­setzt ist. Das je spezi­fi­sche Verhältnis dieser Indi­vi­duen zuein­ander wäre es dann, das den einzelnen Menschen wesent­lich ausmacht, so wie er selbst auch stets in Verhält­nissen mit anderen steht: Was das bedeuten kann, ist nach­zu­lesen bei Spinoza und Marx, aber auch, mit unter­schied­li­cher Zuspit­zung, bei Alex­andra Kollontai, Gilbert Simondon oder Elena Pulcini.

Die Beschäf­ti­gung mit einer Gegen­ge­schichte dieser Art betrifft in verstärktem Maße wiederum die Kunst – und darunter beson­ders die Höchst­be­gabte in Sachen Möglich­keits­sinn: die Lite­ratur. Denn mehr noch als andere erzäh­le­ri­sche Formen ist Lite­ratur nicht auf geron­nene Subjekte ange­wiesen, sondern in der Lage, Prozesse der Indi­vi­du­ie­rung und die damit verbun­denen offenen, unfesten Konfi­gu­ra­tionen von Einzelnem und Gemein­schaft glei­cher­maßen zu entwerfen wie zu untersuchen.

Als die Autorin Rachel Cusk 2018 im Inter­view mit dem New Yorker erklärte, sie sei nicht inter­es­siert an der Idee des Charak­ters, denn sie glaube, dieser exis­tiere als Kate­gorie heutigen Lebens ohnehin nicht mehr, beschrieb sie nicht nur die Anlage ihres aus Outline (2014, dt. 2016), In Transit (2016, dt. 2017) und Kudos (2018) bestehenden Roman­tri­pty­chons. Was sie beschrieb, war viel­mehr der Tenor einer bereits seit Jahren wach­senden Gruppe von Texten, in denen gesell­schaft­liche Zwänge im persön­li­chen Begehren, Leiden oder Wahr­nehmen nicht einfach als Resul­tate eines Eindrin­gens verstanden werden, sondern als der Basis­me­cha­nismus zeit­ge­nös­si­scher Selbstwerdung.

Wie das auto­fik­tio­nale Projekt Cusks (oder etwa dieje­nigen Deborah Levys oder Annie Ernauxs) orga­ni­siert sich auch Olivia Laings Roman­debüt Crudo (2018) um eine Subjek­ti­vität, deren Poro­sität in deut­li­chem Kontrast zu der Robust­heit des Ichs steht, das z.B. in Karl Ove Knaus­gårds Min Kamp-Zyklus die unab­läs­sige Proto­kol­lie­rung von Erlebtem verbürgt.

„Chan­ging“

Die Britin Laing hatte zuvor mit The Lonely City: Adven­tures in the Art of Being Alone (2016) eine auto­bio­gra­phisch ange­rei­cherte Geschichte des Verhält­nisses von Einsam­keit und künst­le­ri­schem Schaffen im 20. Jahr­hun­dert vorge­legt. In Crudo begleiten wir die Prot­ago­nistin Kathy durch den Sommer 2017 bei der Vorbe­rei­tung ihrer Hoch­zeit sowie in ihren umfang­rei­chen Kommen­taren des Zeit­ge­sche­hens, etwa in Sorge über Donald Trumps Droh­ge­bärden gegen­über Kim Jong-Un oder scho­ckiert über die mörde­ri­sche „Unite the Right“-Demonstration in Char­lot­tes­ville. Die Figur Kathy basiert einer­seits – bis in umfang­reiche, im Anhang nach­ge­wie­sene Text­über­nahmen – auf Figur und Werk der 1997 verstor­benen Autorin Kathy Acker.

Olivia Laing, „Crudo“ (2018), Buch­cover (Ausschnitt); Quelle: amazon.com

Ande­rer­seits aber auch auf Laing selbst, die zum Beispiel, wie die Kathy des Romans, am 18. August 2017 den um einiges älteren Lyriker Ian (Patterson) heira­tete. Crudo beginnt mit dem Satz: „Kathy, by which I mean I, was getting married.“ Bereits dieser Formel, die sich im weiteren Verlauf des Romans wieder­holt, ist abzu­lesen, dass die Selbst­for­mie­rung im Medium des Romans einiger Anstren­gung bedarf, aber, auf einer noch grund­sätz­li­cheren Ebene, zunächst als Möglich­keit behauptet wird.

Die Wegstrecke zwischen Rous­seaus Genueser Quaran­täne und Laings Erfah­rungs­be­richt zwischen London und der Toskana erscheint weniger weit, wenn man bedenkt, dass uns erstere Episode in Rous­seaus Confes­sions vorliegt, und damit dem Text, der häufig als Grün­dungs­ur­kunde der modernen Auto­bio­gra­phie begriffen wird. Wie bereits Rous­seau konsta­tiert, ist die Gattung der Auto­bio­gra­phie weit davon entfernt, einem naiven Authen­ti­zismus die Bühne zu bereiten. Die Auto­bio­gra­phie, die etwas auf sich hält, zeichnet sich viel­mehr dadurch aus, dass sie die grund­le­genden Kompli­ka­tionen, die sich aus der Verbin­dung von Erin­ne­rungs­pro­zess, Schreibakt und Schrift ergeben, an die Indi­vi­dua­lität des Zeugen rückbindet.

„I think we all have a desire not to feel alone and to feel connected and that’s a basic desire“: Screen­shot aus Ondi Timoners WE LIVE IN PUBLIC (2009); Quelle: youtube.com

Laings Roman operiert unter anderen Voraus­set­zungen. An Crudo – wie an einigen anderen der unter dem Label „Auto­fik­tion“ subsu­mierten Texte – ist nämlich nicht der Umstand einschlägig, dass sich Erzäh­lerin und Autorin mehr oder weniger restlos durch einander teilen lassen; sondern der Sach­ver­halt, dass es von einem einzelnen Menschen handelt, der sich dadurch auszeichnet, nicht unteilbar zu sein.

Auf diese Weise findet statt, was der fran­zö­si­sche Autor Édouard Louis – in seiner Mosse-Lecture an der Humboldt-Universität 2019 – als „Chan­ging“ bezeichnet hat: eine befrei­ende, viel­fach aber auch von Gewalt­er­fah­rungen geprägte und entspre­chend fordernde Arbeit an sich selbst, die indes einer radikal anderen Grund­re­chenart folgt als die Thera­peutik des libe­ralen Indi­vi­duums. Es ist daher kein Zufall, dass sich unter den Autor*innen, deren Werk bereits ‚vor Corona‘ ein verstärktes Inter­esse an den Fragen einer kompli­zierten Indi­vi­dua­lität auszeich­nete, in großer Mehr­heit solche finden, für deren persön­liche Forma­tion z.B. in beson­derer Weise sexis­ti­sche und rassis­ti­sche Deter­mi­nie­rungen eine Rolle spielen: für die also die Einsicht, dass das eigene Sein ein gesell­schaft­li­ches ist, immer schon nicht-optional war.

Ähnli­ches gilt für die in den vergan­genen Jahren vermehrt auch wieder thema­ti­sierte Kate­gorie der Klasse, die bei Édouard Louis ebenso promi­nent ist wie in Sally Rooneys Roman Normal People (2018), der das Aufein­an­der­be­zo­gen­sein von Menschen unter der Bedin­gung durch­denkt, dass sich manche Menschen „eben anders in der Welt bewegen“. Der Verding­li­chung dieser Ungleich­heit stellt Rooney die Möglich­keit einer Zunei­gung entgegen, die nichts zudeckt oder beschö­nigt – und dabei doch der Struktur der Zumu­tung noch einen utopi­schen Rest einträgt.

Es über­rascht indes nicht, dass die in beson­derer Weise seis­mi­sche Form des Romans das Medium dieser neuen Versuche des Selbst-Schreibens ist. Das Ideal der indi­vi­du­ellen Auto­nomie war seit dem 18. Jahr­hun­dert eng an den Roman und das Modell der zurück­ge­zo­genen, indi­vi­dua­li­sie­renden Lektüre gebunden. Die neuen, von immer bereits multi­plen Indi­vi­duen handelnden Auto­fik­tionen fordern und model­lieren einen entspre­chenden Rezep­ti­ons­modus auf der Höhe ihrer Zeit. So ist Laings Thema – sowohl in Crudo und The Lonely City als auch in ihrer soeben veröf­fent­lichten Samm­lung von FRIEZE-Kolumnen, Funny Weather: Art in an Emer­gency – auch das Leben in, von, vor allem aber mit Kunst. Die Kriti­kerin Laing inter­es­siert sich für „art that longs for connec­tion, or that finds a way to make it possible“. Gemeint ist damit eine doppel­ach­sige Struktur: Trost und Sozia­lität, den Einzelnen und die Vielen betreffend.

Wie Claude Haas jüngst in einem Texte zur Kunst-Aufsatz nach­ge­wiesen hat, zeichnet sich gerade auto­fik­tio­nales Schreiben durch einen beson­deren Glauben an die Realität aus, die in die Struktur der Texte eingeht. Was in den Texten aber mit glei­cher Vehe­menz zum Ausdruck kommt, ist der Glaube an die Realität und Verbind­lich­keit ihrer selbst.

Screen­shot aus Ondi Timoners WE LIVE IN PUBLIC (2009); Quelle: youtube.com

Nicht ein fiktions- oder zeichen­theo­re­tisch infor­mierter, spie­le­ri­scher Umgang mit Iden­tität steht damit im Zentrum von Laings Texten. Viel­mehr gehen sie von einem Primat der Begeg­nung zwischen unfer­tigen, selbst­losen und aufein­ander ange­wie­senen Einzelnen aus, das auch an Kunst und ihrer Rezep­tion model­liert wird. Begeg­nungen, die nicht den scheinbar univer­salen und exklu­siven Sozi­al­prin­zi­pien der Konkur­renz und des Eigen­in­ter­esses folgen, sondern Verhält­nisse der Wech­sel­sei­tig­keit und Teil­habe hervor­bringen. Wie die Lite­ratur, die auch kein letztes Wort kennt, ist ihre Folge unab­schließbar. Das Modell des Ästhe­ti­schen als Lebens­form ohne Telos: Gerade hier ist etwas zu lernen.