Zwischen Juni und September 1743 starb die Hälfte der Bevölkerung der sizilianischen Hafenstadt Messina an der Pest. Die von der französischen und englischen Marine betriebene Containment-Strategie im Mittelmeerraum zwang dabei auch ein Schiff, auf dem sich Jean-Jacques Rousseau befand, zu einer Zwangspause in Genua.
Vor die Wahl gestellt, ob sie die dreiwöchige Quarantäne an Bord der Feluke oder in einem Hafenlazarett verbringen wollten, entschieden sich die Passagiere für das Schiff – mit einer Ausnahme: Rousseau beschloss als Einziger, sich in dem gerade erst eingerichteten, noch vollkommen leeren Gebäude niederzulassen. Dabei fühlte er sich, so lesen wir in seinen Confessions, in der Hafenquarantäne „comme un nouveau Robinson“ – „wie ein neuer Robinson“: In der Isolation imaginierte sich Rousseau als Robinson Crusoe, also als jene Zentralfigur der liberalen Mythologie, die Daniel Defoe keine dreißig Jahre zuvor beschrieben hatte und von der Rousseau geradezu besessen war.

Robinson Crusoe, hier einsam und dreifach bewaffnet, aus: Daniel Defoe: The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, etc. (1719); Quelle: wikimedia.org (Scan: The British Library)
Vermutlich fühlen sich dieser Tage nicht viele derer, die in der Lage sind, der Forderung nach Selbstisolation nachzukommen, an Defoes Romanheld erinnert. Dass in Situationen der Krise ein Rückgriff auf Fiktionen stattfindet, ist allerdings kein nur historischer Umstand und lässt sich an der gegenwärtigen Konjunktur von Pandemie-Blockbustern zwischen Giovanni Boccaccios Decamerone, Albert Camus’ La Peste und Steven Soderberghs Contagion ablesen. Deren Anziehungskraft liegt nicht allein in ihrem Unterhaltungswert. Vielmehr wird an ihnen deutlich, dass sich Kunstwerke in besonderer Weise auf den Umgang mit einer ungewissen oder offenen Zukunft verstehen. Außerdem sind sie unter Umständen in der Lage, wie Robinson Crusoe für Rousseau, die Bedingungen eines gelingenden Lebens vorzuführen; beides Fähigkeiten, die unter gegenwärtigen Bedingungen von einigem Interesse sind.
Bereits in den ersten Tagen der gegenwärtigen Pandemie wurde vielfach erklärt, dass es geboten sei, den aufgezwungenen Rückzug ins Private als Gelegenheit zur self care zu verstehen, aus der wir erfrischt und leistungsfähig hervorgehen könnten; ein Retreat, der großen Teilen der Bevölkerung freilich nicht zur Verfügung steht.Wie ein Abwehrzauber, oder als gelte es, einen strafenden Gott durch Einsicht zu beschwichtigen, wird Selbstverbesserung gelobt, bisweilen verbunden mit der Feststellung, nun sogar auch zu erkennen, wer – in den Worten Angela Merkels – „den Laden am Laufen“ halte, nämlich die Angestellten der Supermärkte und der Stadtreinigungen, die Pflegekräfte und Ärztinnen.
Bei derart eingeleiteten Bekenntnissen zu neu- oder wiederentdeckter Solidarität, die als wenig mehr als eine Zugabe zu personal growth daherkommt, ist Skepsis geboten. Denn wenn sich bereits jetzt abzuzeichnen scheint, dass die Welt nach COVID-19 wohl eine ganz andere werden wird, dann auch, weil die Krise auch das Ende einer Epoche bedeuten könnte, in der zunehmend atomisierte Einzelpersonen einander zunehmend ratlos begegnet sind. Noch der Letzte realisiert heute, dass die Bedingungen individuellen Wohls an öffentlichen, gemeinsamen Infrastrukturen hängen, die in großen Teilen Südeuropas, aber auch in Deutschland mancherorts bereits seit geraumer Zeit am Rand des Zusammenbruchs operieren oder in einigen Kommunen schon aufgegeben worden sind.
Die paradoxe Situation, dass wir uns isolieren müssen, um unsere Gemeinschaft zu erhalten, stellt die multiplen Privatisierungen des öffentlichen Raums in ein neues Licht. Eine solche mit existenzieller Dringlichkeit erworbene Einsicht in ein Leben in Gemeinschaft, aber auch der vielleicht etwas ungelenke Applaus von den Balkonen oder die zahlreichen anderen merkwürdigen Änderungen unserer Lebensweisen frappieren vielerorts deshalb so sehr, weil es sich um zaghafte Einübungen in soziale Relationen handelt, die der scheinbaren Naturwüchsigkeit des Menschen in Totalkonkurrenz widersprechen.
Einzeln oder individuell
Was sich mit dem Corona-Frühjahr 2020 daher mit Nachdruck als intellektuelle Aufgabe gestellt haben dürfte, ist die Revision unseres Verständnisses des Individuums. Nicht als der Auftrag einer Nachjustierung jener politischen Basiseinheit des Liberalismus, sondern als Anlass, die anstehenden Umbauten unserer sozialen und politischen Wirklichkeiten mit einer neuen Figurenlehre auszustatten.
Das Leben der Einzelnen und seine Voraussetzungen neu zu verstehen, wird die Bedingung sein für eine Solidarität, die dem Virus in dessen globaler Diffusion folgen muss: Solidarität mit den Schwächsten muss die Vulnerabelsten in der eigenen Nachbarschaft ebenso meinen wie die Menschen, die in den Lagern auf den griechischen Inseln eingepfercht sind, oder die weltweit 60% informell Arbeitenden, die erst in den kommenden Wochen und Monaten die volle wirtschaftliche Wucht der Pandemie zu spüren bekommen werden.

Überraschend aktuell. Filmplakat von Ondi Timoners WE LIVE IN PUBLIC (2009); Quelle: amazon.com
Ein solcher Versuch, den Einzelmenschen anders denn als sich selbst genügendes, unteilbares Individuum zu denken, würde davon profitieren, die Beschränkungen unserer historischen Einbildungskraft zu lockern, und das bedeutet: die neuzeitliche Geschichte von Individuum und Individualität auf vernachlässigte oder abgedrängte Alternativen zum Robinson’schen Modell der Lebens-, Geschäfts- und Menschenführung zu prüfen. Denn das von Kosmos und Gesellschaft abgekapselte ‚insulare‘ Einzelwesen, das spätestens seit dem 18. Jahrhundert die westliche Vorstellung einer Freiheit, Wohlstand und Ordnung garantierenden Einrichtung der Welt weitgehend exklusiv informiert hat, ist faktisch nicht allein: es hat Geschwister.
In der Tat existiert eine umfangreiche Literatur, die sich auf theoretischer Ebene mit der Frage befasst, wie ein Leben unter der Voraussetzung gedacht werden kann, dass der einzelne Mensch zwar als ganzer handlungs- und reaktionsfähig ist, dabei aber selbst aus verschiedenen Individuen zusammengesetzt ist. Das je spezifische Verhältnis dieser Individuen zueinander wäre es dann, das den einzelnen Menschen wesentlich ausmacht, so wie er selbst auch stets in Verhältnissen mit anderen steht: Was das bedeuten kann, ist nachzulesen bei Spinoza und Marx, aber auch, mit unterschiedlicher Zuspitzung, bei Alexandra Kollontai, Gilbert Simondon oder Elena Pulcini.
Die Beschäftigung mit einer Gegengeschichte dieser Art betrifft in verstärktem Maße wiederum die Kunst – und darunter besonders die Höchstbegabte in Sachen Möglichkeitssinn: die Literatur. Denn mehr noch als andere erzählerische Formen ist Literatur nicht auf geronnene Subjekte angewiesen, sondern in der Lage, Prozesse der Individuierung und die damit verbundenen offenen, unfesten Konfigurationen von Einzelnem und Gemeinschaft gleichermaßen zu entwerfen wie zu untersuchen.
Als die Autorin Rachel Cusk 2018 im Interview mit dem New Yorker erklärte, sie sei nicht interessiert an der Idee des Charakters, denn sie glaube, dieser existiere als Kategorie heutigen Lebens ohnehin nicht mehr, beschrieb sie nicht nur die Anlage ihres aus Outline (2014, dt. 2016), In Transit (2016, dt. 2017) und Kudos (2018) bestehenden Romantriptychons. Was sie beschrieb, war vielmehr der Tenor einer bereits seit Jahren wachsenden Gruppe von Texten, in denen gesellschaftliche Zwänge im persönlichen Begehren, Leiden oder Wahrnehmen nicht einfach als Resultate eines Eindringens verstanden werden, sondern als der Basismechanismus zeitgenössischer Selbstwerdung.
Wie das autofiktionale Projekt Cusks (oder etwa diejenigen Deborah Levys oder Annie Ernauxs) organisiert sich auch Olivia Laings Romandebüt Crudo (2018) um eine Subjektivität, deren Porosität in deutlichem Kontrast zu der Robustheit des Ichs steht, das z.B. in Karl Ove Knausgårds Min Kamp-Zyklus die unablässige Protokollierung von Erlebtem verbürgt.
„Changing“
Die Britin Laing hatte zuvor mit The Lonely City: Adventures in the Art of Being Alone (2016) eine autobiographisch angereicherte Geschichte des Verhältnisses von Einsamkeit und künstlerischem Schaffen im 20. Jahrhundert vorgelegt. In Crudo begleiten wir die Protagonistin Kathy durch den Sommer 2017 bei der Vorbereitung ihrer Hochzeit sowie in ihren umfangreichen Kommentaren des Zeitgeschehens, etwa in Sorge über Donald Trumps Drohgebärden gegenüber Kim Jong-Un oder schockiert über die mörderische „Unite the Right“-Demonstration in Charlottesville. Die Figur Kathy basiert einerseits – bis in umfangreiche, im Anhang nachgewiesene Textübernahmen – auf Figur und Werk der 1997 verstorbenen Autorin Kathy Acker.

Olivia Laing, „Crudo“ (2018), Buchcover (Ausschnitt); Quelle: amazon.com
Andererseits aber auch auf Laing selbst, die zum Beispiel, wie die Kathy des Romans, am 18. August 2017 den um einiges älteren Lyriker Ian (Patterson) heiratete. Crudo beginnt mit dem Satz: „Kathy, by which I mean I, was getting married.“ Bereits dieser Formel, die sich im weiteren Verlauf des Romans wiederholt, ist abzulesen, dass die Selbstformierung im Medium des Romans einiger Anstrengung bedarf, aber, auf einer noch grundsätzlicheren Ebene, zunächst als Möglichkeit behauptet wird.
Die Wegstrecke zwischen Rousseaus Genueser Quarantäne und Laings Erfahrungsbericht zwischen London und der Toskana erscheint weniger weit, wenn man bedenkt, dass uns erstere Episode in Rousseaus Confessions vorliegt, und damit dem Text, der häufig als Gründungsurkunde der modernen Autobiographie begriffen wird. Wie bereits Rousseau konstatiert, ist die Gattung der Autobiographie weit davon entfernt, einem naiven Authentizismus die Bühne zu bereiten. Die Autobiographie, die etwas auf sich hält, zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass sie die grundlegenden Komplikationen, die sich aus der Verbindung von Erinnerungsprozess, Schreibakt und Schrift ergeben, an die Individualität des Zeugen rückbindet.

„I think we all have a desire not to feel alone and to feel connected and that’s a basic desire“: Screenshot aus Ondi Timoners WE LIVE IN PUBLIC (2009); Quelle: youtube.com
Laings Roman operiert unter anderen Voraussetzungen. An Crudo – wie an einigen anderen der unter dem Label „Autofiktion“ subsumierten Texte – ist nämlich nicht der Umstand einschlägig, dass sich Erzählerin und Autorin mehr oder weniger restlos durch einander teilen lassen; sondern der Sachverhalt, dass es von einem einzelnen Menschen handelt, der sich dadurch auszeichnet, nicht unteilbar zu sein.
Auf diese Weise findet statt, was der französische Autor Édouard Louis – in seiner Mosse-Lecture an der Humboldt-Universität 2019 – als „Changing“ bezeichnet hat: eine befreiende, vielfach aber auch von Gewalterfahrungen geprägte und entsprechend fordernde Arbeit an sich selbst, die indes einer radikal anderen Grundrechenart folgt als die Therapeutik des liberalen Individuums. Es ist daher kein Zufall, dass sich unter den Autor*innen, deren Werk bereits ‚vor Corona‘ ein verstärktes Interesse an den Fragen einer komplizierten Individualität auszeichnete, in großer Mehrheit solche finden, für deren persönliche Formation z.B. in besonderer Weise sexistische und rassistische Determinierungen eine Rolle spielen: für die also die Einsicht, dass das eigene Sein ein gesellschaftliches ist, immer schon nicht-optional war.
Ähnliches gilt für die in den vergangenen Jahren vermehrt auch wieder thematisierte Kategorie der Klasse, die bei Édouard Louis ebenso prominent ist wie in Sally Rooneys Roman Normal People (2018), der das Aufeinanderbezogensein von Menschen unter der Bedingung durchdenkt, dass sich manche Menschen „eben anders in der Welt bewegen“. Der Verdinglichung dieser Ungleichheit stellt Rooney die Möglichkeit einer Zuneigung entgegen, die nichts zudeckt oder beschönigt – und dabei doch der Struktur der Zumutung noch einen utopischen Rest einträgt.
Es überrascht indes nicht, dass die in besonderer Weise seismische Form des Romans das Medium dieser neuen Versuche des Selbst-Schreibens ist. Das Ideal der individuellen Autonomie war seit dem 18. Jahrhundert eng an den Roman und das Modell der zurückgezogenen, individualisierenden Lektüre gebunden. Die neuen, von immer bereits multiplen Individuen handelnden Autofiktionen fordern und modellieren einen entsprechenden Rezeptionsmodus auf der Höhe ihrer Zeit. So ist Laings Thema – sowohl in Crudo und The Lonely City als auch in ihrer soeben veröffentlichten Sammlung von FRIEZE-Kolumnen, Funny Weather: Art in an Emergency – auch das Leben in, von, vor allem aber mit Kunst. Die Kritikerin Laing interessiert sich für „art that longs for connection, or that finds a way to make it possible“. Gemeint ist damit eine doppelachsige Struktur: Trost und Sozialität, den Einzelnen und die Vielen betreffend.
Wie Claude Haas jüngst in einem Texte zur Kunst-Aufsatz nachgewiesen hat, zeichnet sich gerade autofiktionales Schreiben durch einen besonderen Glauben an die Realität aus, die in die Struktur der Texte eingeht. Was in den Texten aber mit gleicher Vehemenz zum Ausdruck kommt, ist der Glaube an die Realität und Verbindlichkeit ihrer selbst.

Screenshot aus Ondi Timoners WE LIVE IN PUBLIC (2009); Quelle: youtube.com
Nicht ein fiktions- oder zeichentheoretisch informierter, spielerischer Umgang mit Identität steht damit im Zentrum von Laings Texten. Vielmehr gehen sie von einem Primat der Begegnung zwischen unfertigen, selbstlosen und aufeinander angewiesenen Einzelnen aus, das auch an Kunst und ihrer Rezeption modelliert wird. Begegnungen, die nicht den scheinbar universalen und exklusiven Sozialprinzipien der Konkurrenz und des Eigeninteresses folgen, sondern Verhältnisse der Wechselseitigkeit und Teilhabe hervorbringen. Wie die Literatur, die auch kein letztes Wort kennt, ist ihre Folge unabschließbar. Das Modell des Ästhetischen als Lebensform ohne Telos: Gerade hier ist etwas zu lernen.