Svenja Goltermann: Anna, Du hast viele Jahre über das Ghetto Theresienstadt geforscht; Dein Buch darüber ist jüngst unter dem Titel The Last Ghetto erschienen. Theresienstadt, das nördlich von Prag liegt, wurde von den Nationalsozialisten zwischen 1941 und 1945 als Ghetto genutzt. 1944 entstand hier ein Propagandafilm. Der Ruf des privilegierten „Altersghettos“ hält sich bis heute. Doch Theresienstadt war von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nicht ausgenommen: Von den über 140.000 Inhaftierten starben mehr als 33.000 im Ghetto selbst, mehr als 87.000 Menschen wurden aus diesem Transitlager in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten transportiert, von denen nur etwa 4.000 überlebten. Was hat Dich bewogen, ein Buch über Theresienstadt zu schreiben?
Anna Hájková: Ich würde zunächst einmal sagen, dass mich „Gesellschaft“ und was sie ist, generell fasziniert. Ich möchte immer verstehen, was Gesellschaft ausmacht, wie sich Gesellschaft konstituiert und wie Leute in Extremen ticken. Dazu gehört die Frage, was eigentlich „extrem“ ist, und wo „Normalität“ aufhört. Es gibt allerdings auch eine wichtige biografische Erfahrung: Als junge Studentin reiste ich nach Israel, und meine Großeltern väterlicherseits vermittelten mir Kontakte zu ihren Freunden aus der Kriegszeit. Meine Großeltern waren seinerzeit in einer kommunistischen Widerstandsgruppe und halfen jüdischen Genossinnen und Genossen, in den Untergrund zu gehen. Einige Freunde gingen allerdings nicht in den Untergrund, sie wurden deportiert – und manche von ihnen überlebten. Als ich dorthin reiste, bekam ich eine ganze Reihe von Telefonnummern, und diese Leute waren sehr herzlich und freundlich und lebendig. Sie sprachen immer noch hervorragend Tschechisch, und es war ganz eindeutig, dass das für sie wahnsinnig wichtig war. Durch sie erhielt ich einen ersten Blick auf dieses Leben in Theresienstadt, das so anders war als unser Leben: Wie man Fußball spielte, wie man in der Schlange zum Essen anstand, wie man sich gewaschen hat oder wie man sich nicht gewaschen hat, wie man Mädchen den Hof gemacht hat, usw. Ich dachte, mein Gott! Das habe ich so gar nicht geahnt. Denn ich hatte so eine ganz allgemeine Ahnung über das Leben im KZ: Dass man da irgendwo sitzt und leidet und eventuell selbstmörderisch den Widerstand vorbereitet. Und ich dachte mir, hier habe ich eine große Chance, etwas über Leben in Extremen zu erfahren. Mein Anliegen war, mich gründlich mit der Geschichte der Häftlingsgesellschaft auseinanderzusetzen – ohne sentimentale Erwartungen und ohne Blick von der Täterseite her.

Das Ghetto Theresienstadt, ca 1943; Copyright Albane Duvillier, Quelle: thelastghetto.org
SG: Eher ein Buch also über eine Gesellschaft von Gefangenen?
AH: Ich wollte in erster Linie eine Studie über Menschen in einer Extremsituation schreiben, und erst in zweiter Linie eine Geschichte Theresienstadts. Als ich noch am Anfang meiner Forschung war, hat mein Kollege Andrej Angrick mein Anliegen in hilfreicher Weise so kommentiert: Ich wolle nicht noch eine Pinnnadel auf die Karte des Grauens setzen. Ich wollte eine analytische und vor allem eine empathische Studie über diese Menschen schreiben. Ich wollte nicht kaltherzig über sie urteilen, sondern versuchen herauszufinden, was der extreme Stress mit Menschen macht; was unter diesen Bedingungen das Soziale ist, und wie es sich manifestiert.
SG: Man kann Dein Buch als ein Plädoyer dafür lesen, Gesellschaft nicht so zu behandeln, als sei sie einfach da, sondern überhaupt erst danach zu fragen, was „Gesellschaft“ konstituiert und immer wieder neu hervorbringt und ausmacht. Das macht Dein Buch auch für Leser:innen interessant, die nicht ein Buch über Theresienstadt im engeren Sinne lesen wollen, sondern sich viel grundlegender dafür interessieren, wie Gesellschaft an konkreten Orten und in historisch spezifischen Situationen entsteht und funktioniert.
AH: Dein Argument, dass es Gesellschaft nicht a priori gibt, sondern dass sie erst einmal gemacht wird, war für mich absolut zentral. Genauso wie es ja „Geschlecht“ nicht einfach gibt oder „Klasse“ – auch sie werden gemacht. Und in Theresienstadt kann man diesem Vorgang wirklich zuschauen, wie in Zeitlupe: von den ersten zwei Aufbaukommandos, die dort im November und Dezember 1941 ankamen, um die Ankunft Tausender jüdischer Deportierter vorzubereiten, bis zu einer Szene im April 1945, als Rolf Grabower, ein ehemals hochrangiger preußischer Beamter, sich vor einem tschechischen Friseur, der ihn nicht bedienen wollte, damit aufspielte, länger im Ghetto gewesen zu sein als er.
SG: Das heißt, Seniorität war in Theresienstadt eine wichtige Kategorie?
AH: Ja, sehr wichtig. Aber auch Geschlecht war wichtig, ebenso Ethnizität, beziehungsweise die Frage, von woher man deportiert worden war. Das „Jüdische“ hingegen war kein verbindender Faktor. Es war vielmehr immer etwas, woran man Unterschiede verhandelte, das heißt das „Jüdische“ war immer ein Attribut des Anderen. Auch die alte Klassenzugehörigkeit spielte selten eine Rolle, es sei denn, der Mensch hatte besondere Fähigkeiten, als Bäcker oder Fleischer beispielsweise. Doch das ist im Grunde ja nicht Klassenzugehörigkeit, sondern soziales Kapital.
Für die vielen mitteleuropäischen Juden hingegen, die in ihrem bisherigen zivilen Leben z.B. Professoren gewesen waren, übersetzte sich das große kulturelle Kapital, das ihnen in ihrem früheren Leben zugeschrieben wurde, in Theresienstadt fast in nichts. Beziehungsweise fanden diese Leute zwar Mittel und Wege, wie es für sie selbst wichtig blieb, aber in der sozialen Hierarchie des Ghettos spielte es nur eine sehr sekundäre Rolle. Der große „Macher“ hingegen war zum Beispiel der achtzehnjährige Edgar Krása, der aus einer ganz einfachen Familie aus Prag kam. Aber weil seine Eltern ihn als Koch ausbilden ließen, wurde er mit 18 Jahren in Theresienstadt auf dem Aufbaukommando der Leiter einer Küche, und damit war er sozusagen der große Macher.
SG: Und „das Jüdische“ war nicht das verbindende Element, sagst Du?
AH: Genau. Ich hatte das selber ein wenig anders erwartet, als ich mit meiner Forschung anfing. Doch dem war gar nicht so. Theresienstadt bestätigt die Studien der konstruktivistischen Anthropologen, dass sich Unterschiede immer wieder neu und anders herstellen, und auch „Ethnizität“ entsteht immer wieder neu. In Theresienstadt kann man sehr gut anhand der Zuschreibungen sehen, wie unterschiedlich die Leute angeblich sind beziehungsweise gemacht werden: Wie die tschechischen Juden angeblich „sind“, oder die alten deutschen Juden, die als frustriert und preußisch galten oder denen nachgesagt wurde, „zu jüdisch“ und zu Hitler-anhänglich zu sein.

Lotka Burešová: „Klid, rozvahu – z hluboka dýchat! (Calm and prudence – breathe deeply!)“, watercolor; Quelle: Leo Baeck Institute
Das sagt allerdings wenig über die deutschen Jüdinnen und Juden aus. Aus Sicht der „Ausländer“ wiederum manifestiert sich der Machtstatus der tschechischen Juden in ihrer angeblich äußeren Schönheit: Sie beschrieben sie als große, stramme, blonde und rotwangigen Menschen (wie auf der Zeichnung von Lotka Burešová). Nun, ich bin Nachkomme von tschechischen Juden und ich freue mich, wenn uns jemand als groß und stramm und rotwangig und athletisch beschreibt, aber das ist natürlich vor allem eine soziale Konstruktion der Machtzuschreibung.
Die in Theresienstadt entstehende Gesellschaft operierte letztlich aber vor allem mit Binaritäten. Sie unterschied nicht strikt, das ist ein dänischer Jude, das ist ein slowakischer Jude, das ist ein Wiener Jude, sondern sie dachte im Wesentlichen in den Kategorien „Einheimische“ und „Ausländer“. Und das Interessante ist: Die „Ausländer“ schrieben an diesem Narrativ mit. Sie unterschieden ebenfalls zwischen „den Protektoratsjuden“ und „wir sind die von außen“. Das sagt sehr viel über das ethnische Sehen und darüber, wie eine neu entstehende Gesellschaft sofort ethnische Unterschiede herstellt.
SG: Wie wurde darüber in Theresienstadt gesprochen? Die zeitgenössische Sprache war schon diejenige der „rassischen“ Unterschiede, oder?
AH: Oh ja, die Tschechen, so hieß es, seien eine „schöne Rasse“, oder eben die Deutschen. Das ist wirklich die Sprache der „Volksgemeinschaft“. Selbstverständlich findest Du eine Idee von der „Volksgemeinschaft“ nicht nur im Deutschland der 1930er Jahre, die Narrative der Volksgemeinschaft gab es in vielen europäischen Ländern: wie sie die Gesichtszüge, den Gang, die Sexualität, den Sport essentialisierten und vom Äußeren auf irgendwelche inneren Charakteristika schlossen – und umgekehrt. Für ein Ghetto, in dem alle Gefangenen als „Juden“ verfolgt wurden, ist das absolut frappierend. Meines Erachtens ist es ein Manko der Geschichtsschreibung über den Holocaust, dass man sich um eine solche Geschichte der Ethnizität und des Rassismus herumdrückt. Und ich hoffe unter anderem, dass mein Buch andere inspirieren wird, sich mit Nationalitäten in Konzentrationslagern und mit der Transnationalität dieser Gesellschaft auseinanderzusetzen.
SG: Du sagst über Dein Buch, es sei eine transnationale Geschichte. Konzentrationslager werden selten so analysiert, doch liegt es eigentlich nahe. Nach Theresienstadt kamen die Menschen ja aus diversen Ländern: aus der Tschechoslowakei, aus Deutschland, aus Österreich, aber auch aus Ungarn, den Niederlanden und aus Dänemark. Es handelte sich also um verschiedenste Nationalitäten, die etwas aus ihrer Geschichte, aus dem was sie geworden sind, mitbrachten. Was hieß das vor Ort in Theresienstadt? Und was passierte dann? Was brachten sie mit, und was veränderte sich?
AH: Du hast es eigentlich schon angedeutet: Diese Menschen erlebten zu Hause Marginalisierung und Ausschluss und viele hörten in Deutschland, in Österreich, in Dänemark oder auch in den Niederlanden, dass sie nicht dazugehören, und seit September 1941 mussten sie im Deutschen Reich den Judenstern tragen. Das war wahnsinnig verletzend. Sie erlebten an ihrem Herkunftsort Denunziation, sie erlebten Anspucken, sie erlebten, wie Freunde und Verwandte, die bei jemandem aneckten, oft gleich nach Auschwitz oder Buchenwald deportiert wurden. Aus diesem Grund war insbesondere für die tschechischen Jüdinnen und Juden – sie machten mehr als die Hälfte aller Gefangenen aus – die Deportation nach Theresienstadt schon fast eine Erleichterung, weil sie diese immense Schikane los waren. Sie waren zwar an diesem schrecklichen Ort, aber sie konnten dort erst einmal etwas aufbauen, und diese Angst, ob sie ein Nachbar denunzieren würde, war jetzt vorbei. Gerade jüngere Leute, die etwas bessere Bedingungen hatten, lebten in Theresienstadt schon fast glücklich. Denn das war die ‚Blase‘, in der sie lebten. Gleichzeitig hatte dies eine fast ‚ver-rückte‘ Kehrseite: Indem diese Marginalisierung „du bist nicht Deutsche“, „du bist nicht Tscheche“ wegfiel, wurde der Ort, von dem sie herkamen, auf unterschiedliche Art und Weise emotional betont. Die Tschechinnen und Tschechen hatten ständig Heimweh, und es gab diverse Momente, in denen sie sich emotional auf ihr Zuhause bezogen. Sie sangen Volkslieder, führten bestimmte Theaterstücke auf, die besonders tschechisch besetzt waren oder in Theresienstadt tschechisch besetzt wurden. Auch die Sprache wurde in anderer Weise wichtig. Es gab viele bisher deutschsprachige Tschechoslowaken, die in Theresienstadt überhaupt erst Tschechisch lernten, weil es für sie auch emotional wichtig war, Tschechisch zu sprechen und nicht Deutsch. Deshalb war es auch wichtig, dass man Deutsch mit einem Brünner und nicht etwa mit einem Berliner Akzent sprach: So war man als Tscheche klassifiziert.
Bei den deutschen Jüdinnen und Juden wiederum entstand der Bezug zu Deutschland auf eine andere Art und Weise, weil sie sich schon viel mehr damit auseinandergesetzt hatten, dass sie nicht dazugehören sollten. „Kultur“ und Zugehörigkeit zum Deutschtum waren allerdings ganz wichtige Begriffe. Sie entwickelten auch eine Idee davon, was „Deutschland“ für sie bedeutete, etwas, was sie immer noch bewahren konnten, daher waren bestimmte kulturelle Klassiker von Schiller zu Kleist, auch das Berliner Tageblatt und anderes für sie wahnsinnig wichtig. Aber gleichzeitig trafen eben diese Gruppen aufeinander, und du hast ständig diese Ausgrenzung über die Fragen: Von woher kommen diese Leute, und was macht sie aus?
SG: Es gab nichts, was sie einte?
AH: Doch, aber diese Ausgrenzung erweckte nicht unbedingt eine positive Identität. Vor allem macht es sehr deutlich, dass diese Menschen nicht eine gemeinsame Identität als Juden hatten, auch wenn es den Versuch immer wieder gab, eine gemeinsame Identität herzustellen, besonders als Theresienstädter. Das war eine Identität, auf die fast alle einstiegen. Diese Identität als Theresienstädter war explizit transnational. Sie schloss auch Leute ein, die sich nicht als jüdisch verstanden oder es auch nicht waren. Denn Theresienstadt hatte eine große christliche Gemeinde, die protestantische und die katholische, und ziemlich viele Atheisten. Letztlich hatten viele Leute sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was für sie Jüdisch-Sein hieß und warum sie nach Theresienstadt gebracht worden waren. Und die Einsicht, dass diese Identitäten und Ideen extrem heterogen waren, das bleibt, so hoffe ich, mein Beitrag zu der Diskussion: Was ist jüdische Geschichte und wie heterogen sollte sie sein? Denn es gibt nicht die jüdische Geschichte und nicht das Jüdische. Und das zeigt Theresienstadt.
SG: Du hast vorhin von Prestige gesprochen, und daran würde ich gerne noch einmal anknüpfen, um auf Machtasymmetrien zu sprechen zu kommen. Wie an allen anderen Orten gab es sie auch in Theresienstadt. Doch was heißt dort Machtasymmetrie, und wie kamen solche Asymmetrien zustande?

Leo Haas: „Schlangestehen vor einem Lebensmittelgeschäft“, o.J.; Quelle: folkedrab.dk
AH: Es gab einige Faktoren, die ins Gewicht fielen: das Alter, die Ethnizität, auch der Zeitpunkt, zu dem man in Theresienstadt eingetroffen war. Und eben die Arbeit, die man dort ausübte. Das soziale Kapital der Bäcker beispielsweise war beträchtlich, da sie durch ihre Arbeit Zugang zu Essen hatten. Darüber hinaus waren sie aufgrund ihres Jobs oft von Transporten in die Vernichtungslager ausgenommen. Alle Leute vom Aufbaukommando –überwiegend Handwerker – waren bis zum September 1943 vor diesen Transporten geschützt. Und ebenso ihre Partner. Denn in Theresienstadt achtete die jüdische Selbstverwaltung darauf, dass Familien nicht zerrissen wurden. Das heißt, der Koch, der Bäcker oder auch der Fleischer vom Aufbaukommando konnte die Menschen, die mit ihm auf der Karte eingetragen waren, beschützen. Auch wenn sie nicht verheiratet waren, konnten sie ihre Partnerin schützen. Genau deswegen waren sie sehr begehrte Partner. Und weil sie Zugang zu mehr Essen hatten.
Ein Verwandter erzählte mir, wie Frauen auf die Bäcker am Ende der Schicht warteten, um ihnen Sex als Dienstleistung im Austausch für Brot anzubieten. Das zeigt deutlich, wie eng Privilegien und Macht zusammenhingen. Aufgrund ihrer Privilegien war es für diese Leute außerdem vergleichsweise einfach, das sozusagen ultimative Privilegium in Theresienstadt zu ergattern: nämlich einem kleinen Raum für sich alleine, einen Kumbál, eine Art kleine Abstellkammer. Sie entstanden oft auf den Dachböden der Kasernen, in denen zuvor die alten Leute untergebracht waren. Doch nachdem diese entweder gestorben oder nach Treblinka deportiert worden waren, bauten sich die jungen tschechischen Männer hier ihre Kumbáls. Kumbál war so ein Wort, das alle in Theresienstadt kannten. Es war eines dieser tschechischen Wörter, die Eingang in dänische, niederländische und alle möglichen Wortschätze fanden – ein Hinweis von vielen, welche Bedeutung das Tschechische hatte, auch wenn Deutsch die lingua franca blieb. Tschechisch hingegen wurde an diesem Ort eine Machtsprache. Status und Macht wurde auf so vielen Ebenen hergestellt.
SG: Auch wenn es nicht dein Hauptanliegen war, über Gewaltausübung zu schreiben, beschreibst Du in Deinem Buch ja durchaus Extremsituationen. Zu diesen Situationen gehörte auch die Ankunft im Ghetto, für viele ein traumatisches Erlebnis, wie Du schreibst. Manche brachen zusammen, manche nahmen sich sogar das Leben. Doch andere schafften es irgendwie weiterzumachen, durchzuhalten, ich weiß nicht genau, was eigentlich das richtige Wort dafür ist…
AH: Weitermachen, durchhalten, das sind schon gute Begriffe dafür. Man kann bei Tagebuchschreibenden, in Theresienstadt oder in anderen Ghettos und Konzentrationslagern, sehen, wie die Menschen am Anfang noch erfassen können, was alles anders ist – und wie sie sich dann, nach einer nicht sehr langen Zeit, daran gewöhnen und es nicht mehr sehen. Man gewöhnt sich an vieles.
SG: Würdest Du sagen, es wird „Normalität“? Sodass auch in dieser Extremsituation eine Normalität entsteht; dass es vielleicht sogar eine Normalität gibt, die wichtig ist?
AH: Ja, genau. Was mich inspirierte, war der autobiografisch grundierte Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész, in dem er über einen Tag in einem Buchenwalder Außenlager erzählt, und der Junge am Abend, als er ein bisschen Ruhe und ein wenig gegessen hat, „glücklich“ ist. Er erzählt darin, wie sich die Leute in dem KZ einrichten. Jede, fast jede Gesellschaft entwickelt ihre Normalität und die Leute passen sich daran immer wieder an. Ich glaube, wir sind der Geschichte des Holocaust mit einer Sentimentalisierung und einer Exzeptionalisierung nicht dienlich. Denn wir verstehen die Leute dann nicht: Was ihre letzten Monate und Wochen und ihre Anpassung und ihren Überlebenswillen und ihre Agency ausgemacht hat. Deswegen haben diese Leute die vielen Tagebücher mit sich getragen und geschrieben, damit sie bezeugen, was es für sie ausgemacht hat, dort zu sein. Wenn wir an diesen vielen, vielen tausenden Zeugnissen vorbeigehen und stattdessen nach dem Motto verfahren „Das ist unsere Vorstellung vom Holocaust“ – dann erweisen wir der Erinnerung an den Genozid an den europäischen Juden und an die letzten Momente von Millionen von Menschen einen schlechten Dienst.
SG: Interessant, dass Du Kertész erwähnst, ich musste tatsächlich an ihn denken, als ich Dein Buch las. Ich hatte nämlich den Eindruck, dass es für Dich wichtig war, das Leben der Gefangenen von Theresienstadt recht streng als das zu erfassen, was gerade Gegenwart für sie war – ohne eben bereits Kenntnis über den weiteren Verlauf der Geschichte zu haben.
AH: Ja, ich wollten nicht ahistorisch darüber schreiben, dass sie alle sterben, als ob die Geschichte dieser Menschen bereits mit ihrer Deportation nach Theresienstadt endete. Ich wollte die Zeit in Theresienstadt, die dreckig und schrecklich und belastend und hungrig und unwürdig war, genauer betrachten, und zeigen, wie sich die Menschen an diesem Ort verhielten, an was sie sich auch gewöhnten.
Ein großes Thema unter den Gefangenen von Theresienstadt war beispielsweise die voreheliche Sexualität. Für die Generation „1860“ war voreheliche Sexualität ein Tabu, abgesehen von Männern, die ins Bordell gingen oder ein Arbeitermädchen als Geliebte hatten. Und dann waren sie in Theresienstadt, umgeben von jungen tschechischen und auch einigen jungen deutschen und österreichischen etc. Leuten, und diese lebten ihre Sexualität durchaus aus, insbesondere diejenigen mit ihren Kumbáls. Die Frauen liefen geschminkt herum, sie hatten selbstgebastelte Badeanzüge und sonnten sich. Und anstatt zu sagen „Gott, das ist Sodom und Gomorrha“, sagten sie „neue Länder, neue Sitten“. Für diese jungen Leute waren das die Möglichkeiten, Spaß zu haben. Das fand ich schon sehr beeindruckend, wie sich Menschen ändern können, ihre Sitten und Werte.
SG: Du hast zu Beginn Deines Buches geschrieben, dass es Dein Anliegen ist, den Menschen aus Theresienstadt eine Stimme zu geben. Mein Eindruck ist, dass dies mehr für Dich bedeutet, als sie durch Zitate zu Wort kommen zu lassen. Dass Du dies vielleicht eher als eine Metapher verwendest für Dein Anliegen, die Inhaftierten in Theresienstadt in ihrem Menschsein mit all seinen unterschiedlichen Facetten zu zeigen. Und sie nicht so zu behandeln, als wären sie Menschen, die man in ihrem Verhalten ohnehin nicht begreifen kann. Du verwehrst dich ja auch gegen die Redewendung von Lawrence Langer, der von „choiceless choices“ gesprochen hat.
AH: Nun, ich finde, dass diese Formulierung aus gut nachvollziehbaren Gründen eine vielzitierte Redensart geworden ist. Denn ja, es ist wichtig, sich zu verdeutlichen, dass es so etwas wie eine gänzlich freie Wahl nicht gab. Aber ich glaube, wenn wir diese Menschen als passiv beschreiben oder man ihre Entscheidungen, die sie fällten und die für sie so wahnsinnig wichtig waren, nicht zur Kenntnis nehmen, dann werden wir nicht verstehen, wie diese Menschen getickt haben und was für sie wichtig war. Was ich auch entehrend finde.
Für mich war es sehr Augen öffnend, das Schlusskapitel über den Transport von Theresienstadt in den Osten zu schreiben. Man kann beispielsweise anhand der Ausnahmeanträge und Memoiren sehen, wie unglaublich wichtig es für diese Leute war, zu entscheiden, mit wem sie auf den Transport gingen. Ebenso wichtig war für sie die Frage, mit wem werde ich untergebracht sein.

Wandmalerei in einer vermutlich vorübergehend als Kinderzimmer genutzten Dachkammer; alle Wandmalereien sind auf Augenhöhe eines Kleinkindes angebracht; Quelle: ghettospuren.de
Aufgrund der Art und Weise, wie die Tage in Theresienstadt geregelt waren, hatten die Menschen eigentlich nur abends Zeit, mit dem Kind beziehungsweise mit der Familie zu essen, mit der Wahlfamilie oder mit der biologischen Familie oder mit den Freunden. Und das war etwas, worüber immer wieder sehr viel nachgedacht wurde und was immer wieder verhandelt wurde: Schnappt man den neuen Geliebten und bringt ihn zu den Eltern, oder trifft man sich mit den Freunden aus der zionistischen Gruppe, oder hat man so tolle Freunde auf seinem Zimmer, dass man jetzt mit ihnen rumhängt. Wird man mit der Mutter untergebracht oder mit der besten Freundin? Und vielleicht hat man in Theresienstadt jemand kennengelernt, in den man wahnsinnig verliebt ist – und dann kommen die Alten auf den Transport. Geht man mit ihnen oder versucht man, mit dem Geliebten zu bleiben? Das waren echte Entscheidungen und wenn wir diese missachten, weil sie erzwungen waren, geht wir an dem Leben und dem Alltag und dem Verständnis von der Häftlingsgesellschaft komplett vorbei.
SG: Eine letzte Frage: Du hast zu Beginn unseres Gesprächs erwähnt, dass Du in Israel warst, bevor Du mit dem Buch begonnen hast, und dass Dich die Erzählungen der ehemaligen Theresienstädter sehr beeindruckt hätten. Erzählst Du eine andere Geschichte von Theresienstadt als sie?
AH: Wir haben aus Theresienstadt ein Masternarrativ, eine „Meister Erzählung“ darüber, was Theresienstadt bedeutet. Diese ist schon während des Holocaust entstanden und sie war vor allem für die Theresienstädter Häftlinge wichtig. Das ist diese Geschichte über Kultur und über Kinder und über die Juden, die im Angesicht des Schrecklichen zeigen, dass sie nicht nur Anwälte und Professoren sind, sondern auch als „Muskeljuden“ eine Stadt von klein auf aufbauen können. Und über die menschliche Solidarität – allerdings wird es da ein bisschen schwammig.
Ich wollte dem keine neue Meistererzählung entgegensetzen. Ich wollte eine analytische Geschichte von Menschen im Angesicht von Extremen schreiben: über Solidarität und ihre Grenzen, über familiäre Netzwerke, über soziale Karrieren im Ghetto und darüber, was eine Gesellschaft ausmacht. Als ich 2008, ein paar Jahre vor dem Tod meines Großvaters, in Yad Vashem ganz zufällig den Ausreihungsantrag meines Urgroßvaters fand, der allerdings kein erfolgreicher gewesen war, war dieser eine letzte Spur für meinen Großvater, und für uns alle sehr wichtig. Für mich war es eine besondere Erinnerung an all die Menschen, die nicht überlebt haben. Das trifft auf die allermeisten zu. Deshalb war es für mich wichtig, meinen Blick nicht von den Narrativen der Überlebenden beeinflussen zu lassen. Und deswegen ist das Buch auch denjenigen gewidmet, die nicht zurückgekehrt sind.
SG: Ich danke Dir sehr für dieses Gespräch.
Anna Hájková, The Last Ghetto. An Everyday History of Theresienstadt, Oxford 2020.