Wie entstehen Zugehörigkeiten, Ethnizität und soziale Machtverhältnisse? Die Historikerin Anna Hájková hat ein Buch über die Inhaftierten in Theresienstadt geschrieben, das uns mehr und anderes über Gesellschaft erzählt, als man vermuten würde. Svenja Goltermann hat mit ihr gesprochen.

Svenja Golter­mann: Anna, Du hast viele Jahre über das Ghetto There­si­en­stadt geforscht; Dein Buch darüber ist jüngst unter dem Titel The Last Ghetto erschienen. There­si­en­stadt, das nörd­lich von Prag liegt, wurde von den Natio­nal­so­zia­listen zwischen 1941 und 1945 als Ghetto genutzt. 1944 entstand hier ein Propa­gan­da­film. Der Ruf des privi­le­gierten „Alters­ghettos“ hält sich bis heute. Doch There­si­en­stadt war von der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Vernich­tungs­po­litik nicht ausge­nommen: Von den über 140.000 Inhaf­tierten starben mehr als 33.000 im Ghetto selbst, mehr als 87.000 Menschen wurden aus diesem Tran­sit­lager in die Konzentrations- und Vernich­tungs­lager im Osten trans­por­tiert, von denen nur etwa 4.000 über­lebten. Was hat Dich bewogen, ein Buch über There­si­en­stadt zu schreiben?

Anna Hájková: Ich würde zunächst einmal sagen, dass mich „Gesell­schaft“ und was sie ist, gene­rell faszi­niert. Ich möchte immer verstehen, was Gesell­schaft ausmacht, wie sich Gesell­schaft konsti­tu­iert und wie Leute in Extremen ticken. Dazu gehört die Frage, was eigent­lich „extrem“ ist, und wo „Norma­lität“ aufhört. Es gibt aller­dings auch eine wich­tige biogra­fi­sche Erfah­rung: Als junge Studentin reiste ich nach Israel, und meine Groß­el­tern väter­li­cher­seits vermit­telten mir Kontakte zu ihren Freunden aus der Kriegs­zeit. Meine Groß­el­tern waren seiner­zeit in einer kommu­nis­ti­schen Wider­stands­gruppe und halfen jüdi­schen Genos­sinnen und Genossen, in den Unter­grund zu gehen. Einige Freunde gingen aller­dings nicht in den Unter­grund, sie wurden depor­tiert – und manche von ihnen über­lebten. Als ich dorthin reiste, bekam ich eine ganze Reihe von Tele­fon­num­mern, und diese Leute waren sehr herz­lich und freund­lich und lebendig. Sie spra­chen immer noch hervor­ra­gend Tsche­chisch, und es war ganz eindeutig, dass das für sie wahn­sinnig wichtig war. Durch sie erhielt ich einen ersten Blick auf dieses Leben in There­si­en­stadt, das so anders war als unser Leben: Wie man Fußball spielte, wie man in der Schlange zum Essen anstand, wie man sich gewa­schen hat oder wie man sich nicht gewa­schen hat, wie man Mädchen den Hof gemacht hat, usw. Ich dachte, mein Gott! Das habe ich so gar nicht geahnt. Denn ich hatte so eine ganz allge­meine Ahnung über das Leben im KZ: Dass man da irgendwo sitzt und leidet und even­tuell selbst­mör­de­risch den Wider­stand vorbe­reitet. Und ich dachte mir, hier habe ich eine große Chance, etwas über Leben in Extremen zu erfahren. Mein Anliegen war, mich gründ­lich mit der Geschichte der Häft­lings­ge­sell­schaft ausein­an­der­zu­setzen – ohne senti­men­tale Erwar­tungen und ohne Blick von der Täter­seite her.

Das Ghetto There­si­en­stadt, ca 1943; Copy­right Albane Duvil­lier, Quelle: thelastghetto.org

SG: Eher ein Buch also über eine Gesell­schaft von Gefangenen?

AH: Ich wollte in erster Linie eine Studie über Menschen in einer Extrem­si­tua­tion schreiben, und erst in zweiter Linie eine Geschichte There­si­en­stadts. Als ich noch am Anfang meiner Forschung war, hat mein Kollege Andrej Angrick mein Anliegen in hilf­rei­cher Weise so kommen­tiert: Ich wolle nicht noch eine Pinn­nadel auf die Karte des Grauens setzen. Ich wollte eine analy­ti­sche und vor allem eine empa­thi­sche Studie über diese Menschen schreiben. Ich wollte nicht kalt­herzig über sie urteilen, sondern versu­chen heraus­zu­finden, was der extreme Stress mit Menschen macht; was unter diesen Bedin­gungen das Soziale ist, und wie es sich manifestiert.

SG: Man kann Dein Buch als ein Plädoyer dafür lesen, Gesell­schaft nicht so zu behan­deln, als sei sie einfach da, sondern über­haupt erst danach zu fragen, was „Gesell­schaft“ konsti­tu­iert und immer wieder neu hervor­bringt und ausmacht. Das macht Dein Buch auch für Leser:innen inter­es­sant, die nicht ein Buch über There­si­en­stadt im engeren Sinne lesen wollen, sondern sich viel grund­le­gender dafür inter­es­sieren, wie Gesell­schaft an konkreten Orten und in histo­risch spezi­fi­schen Situa­tionen entsteht und funktioniert.

AH: Dein Argu­ment, dass es Gesell­schaft nicht a priori gibt, sondern dass sie erst einmal gemacht wird, war für mich absolut zentral. Genauso wie es ja „Geschlecht“ nicht einfach gibt oder „Klasse“ – auch sie werden gemacht. Und in There­si­en­stadt kann man diesem Vorgang wirk­lich zuschauen, wie in Zeit­lupe: von den ersten zwei Aufbau­kom­mandos, die dort im November und Dezember 1941 ankamen, um die Ankunft Tausender jüdi­scher Depor­tierter vorzu­be­reiten, bis zu einer Szene im April 1945, als Rolf Grabower, ein ehemals hoch­ran­giger preu­ßi­scher Beamter, sich vor einem tsche­chi­schen Friseur, der ihn nicht bedienen wollte, damit aufspielte, länger im Ghetto gewesen zu sein als er.

SG: Das heißt, Senio­rität war in There­si­en­stadt eine wich­tige Kategorie?

AH: Ja, sehr wichtig. Aber auch Geschlecht war wichtig, ebenso Ethni­zität, bezie­hungs­weise die Frage, von woher man depor­tiert worden war. Das „Jüdi­sche“ hingegen war kein verbin­dender Faktor. Es war viel­mehr immer etwas, woran man Unter­schiede verhan­delte, das heißt das „Jüdi­sche“ war immer ein Attribut des Anderen. Auch die alte Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit spielte selten eine Rolle, es sei denn, der Mensch hatte beson­dere Fähig­keiten, als Bäcker oder Flei­scher beispiels­weise. Doch das ist im Grunde ja nicht Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit, sondern soziales Kapital.

Für die vielen mittel­eu­ro­päi­schen Juden hingegen, die in ihrem bishe­rigen zivilen Leben z.B. Profes­soren gewesen waren, über­setzte sich das große kultu­relle Kapital, das ihnen in ihrem früheren Leben zuge­schrieben wurde, in There­si­en­stadt fast in nichts. Bezie­hungs­weise fanden diese Leute zwar Mittel und Wege, wie es für sie selbst wichtig blieb, aber in der sozialen Hier­ar­chie des Ghettos spielte es nur eine sehr sekun­däre Rolle. Der große „Macher“ hingegen war zum Beispiel der acht­zehn­jäh­rige Edgar Krása, der aus einer ganz einfa­chen Familie aus Prag kam. Aber weil seine Eltern ihn als Koch ausbilden ließen, wurde er mit 18 Jahren in There­si­en­stadt auf dem Aufbau­kom­mando der Leiter einer Küche, und damit war er sozu­sagen der große Macher.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

SG: Und „das Jüdi­sche“ war nicht das verbin­dende Element, sagst Du?

AH: Genau. Ich hatte das selber ein wenig anders erwartet, als ich mit meiner Forschung anfing. Doch dem war gar nicht so. There­si­en­stadt bestä­tigt die Studien der konstruk­ti­vis­ti­schen Anthro­po­logen, dass sich Unter­schiede immer wieder neu und anders herstellen, und auch „Ethni­zität“ entsteht immer wieder neu. In There­si­en­stadt kann man sehr gut anhand der Zuschrei­bungen sehen, wie unter­schied­lich die Leute angeb­lich sind bezie­hungs­weise gemacht werden: Wie die tsche­chi­schen Juden angeb­lich „sind“, oder die alten deut­schen Juden, die als frus­triert und preu­ßisch galten oder denen nach­ge­sagt wurde, „zu jüdisch“ und zu Hitler-anhänglich zu sein.

Lotka Burešová: „Klid, rozvahu – z hluboka dýchat! (Calm and prudence – breathe deeply!)“, water­color; Quelle: Leo Baeck Institute

Das sagt aller­dings wenig über die deut­schen Jüdinnen und Juden aus. Aus Sicht der „Ausländer“ wiederum mani­fes­tiert sich der Macht­status der tsche­chi­schen Juden in ihrer angeb­lich äußeren Schön­heit: Sie beschrieben sie als große, stramme, blonde und rotwan­gigen Menschen (wie auf der Zeich­nung von Lotka Burešová). Nun, ich bin Nach­komme von tsche­chi­schen Juden und ich freue mich, wenn uns jemand als groß und stramm und rotwangig und athle­tisch beschreibt, aber das ist natür­lich vor allem eine soziale Konstruk­tion der Machtzuschreibung.

Die in There­si­en­stadt entste­hende Gesell­schaft operierte letzt­lich aber vor allem mit Bina­ri­täten. Sie unter­schied nicht strikt, das ist ein däni­scher Jude, das ist ein slowa­ki­scher Jude, das ist ein Wiener Jude, sondern sie dachte im Wesent­li­chen in den Kate­go­rien „Einhei­mi­sche“ und „Ausländer“. Und das Inter­es­sante ist: Die „Ausländer“ schrieben an diesem Narrativ mit. Sie unter­schieden eben­falls zwischen „den Protek­to­rats­juden“ und „wir sind die von außen“. Das sagt sehr viel über das ethni­sche Sehen und darüber, wie eine neu entste­hende Gesell­schaft sofort ethni­sche Unter­schiede herstellt.

SG: Wie wurde darüber in There­si­en­stadt gespro­chen? Die zeit­ge­nös­si­sche Sprache war schon dieje­nige der „rassi­schen“ Unter­schiede, oder?

AH: Oh ja, die Tsche­chen, so hieß es, seien eine „schöne Rasse“, oder eben die Deut­schen. Das ist wirk­lich die Sprache der „Volks­ge­mein­schaft“. Selbst­ver­ständ­lich findest Du eine Idee von der „Volks­ge­mein­schaft“ nicht nur im Deutsch­land der 1930er Jahre, die Narra­tive der Volks­ge­mein­schaft gab es in vielen euro­päi­schen Ländern: wie sie die Gesichts­züge, den Gang, die Sexua­lität, den Sport essen­tia­li­sierten und vom Äußeren auf irgend­welche inneren Charak­te­ris­tika schlossen – und umge­kehrt. Für ein Ghetto, in dem alle Gefan­genen als „Juden“ verfolgt wurden, ist das absolut frap­pie­rend. Meines Erach­tens ist es ein Manko der Geschichts­schrei­bung über den Holo­caust, dass man sich um eine solche Geschichte der Ethni­zität und des Rassismus herum­drückt. Und ich hoffe unter anderem, dass mein Buch andere inspi­rieren wird, sich mit Natio­na­li­täten in Konzen­tra­ti­ons­la­gern und mit der Trans­na­tio­na­lität dieser Gesell­schaft auseinanderzusetzen.

SG: Du sagst über Dein Buch, es sei eine trans­na­tio­nale Geschichte. Konzen­tra­ti­ons­lager werden selten so analy­siert, doch liegt es eigent­lich nahe. Nach There­si­en­stadt kamen die Menschen ja aus diversen Ländern: aus der Tsche­cho­slo­wakei, aus Deutsch­land, aus Öster­reich, aber auch aus Ungarn, den Nieder­landen und aus Däne­mark. Es handelte sich also um verschie­denste Natio­na­li­täten, die etwas aus ihrer Geschichte, aus dem was sie geworden sind, mitbrachten. Was hieß das vor Ort in There­si­en­stadt? Und was passierte dann? Was brachten sie mit, und was verän­derte sich?

AH: Du hast es eigent­lich schon ange­deutet: Diese Menschen erlebten zu Hause Margi­na­li­sie­rung und Ausschluss und viele hörten in Deutsch­land, in Öster­reich, in Däne­mark oder auch in den Nieder­landen, dass sie nicht dazu­ge­hören, und seit September 1941 mussten sie im Deut­schen Reich den Juden­stern tragen. Das war wahn­sinnig verlet­zend. Sie erlebten an ihrem Herkunftsort Denun­zia­tion, sie erlebten Anspu­cken, sie erlebten, wie Freunde und Verwandte, die bei jemandem aneckten, oft gleich nach Ausch­witz oder Buchen­wald depor­tiert wurden. Aus diesem Grund war insbe­son­dere für die tsche­chi­schen Jüdinnen und Juden – sie machten mehr als die Hälfte aller Gefan­genen aus – die Depor­ta­tion nach There­si­en­stadt schon fast eine Erleich­te­rung, weil sie diese immense Schi­kane los waren. Sie waren zwar an diesem schreck­li­chen Ort, aber sie konnten dort erst einmal etwas aufbauen, und diese Angst, ob sie ein Nachbar denun­zieren würde, war jetzt vorbei. Gerade jüngere Leute, die etwas bessere Bedin­gungen hatten, lebten in There­si­en­stadt schon fast glück­lich. Denn das war die ‚Blase‘, in der sie lebten. Gleich­zeitig hatte dies eine fast ‚ver-rückte‘ Kehr­seite: Indem diese Margi­na­li­sie­rung „du bist nicht Deut­sche“, „du bist nicht Tscheche“ wegfiel, wurde der Ort, von dem sie herkamen, auf unter­schied­liche Art und Weise emotional betont. Die Tsche­chinnen und Tsche­chen hatten ständig Heimweh, und es gab diverse Momente, in denen sie sich emotional auf ihr Zuhause bezogen. Sie sangen Volks­lieder, führten bestimmte Thea­ter­stücke auf, die beson­ders tsche­chisch besetzt waren oder in There­si­en­stadt tsche­chisch besetzt wurden. Auch die Sprache wurde in anderer Weise wichtig. Es gab viele bisher deutsch­spra­chige Tsche­cho­slo­waken, die in There­si­en­stadt über­haupt erst Tsche­chisch lernten, weil es für sie auch emotional wichtig war, Tsche­chisch zu spre­chen und nicht Deutsch. Deshalb war es auch wichtig, dass man Deutsch mit einem Brünner und nicht etwa mit einem Berliner Akzent sprach: So war man als Tscheche klassifiziert.

Bei den deut­schen Jüdinnen und Juden wiederum entstand der Bezug zu Deutsch­land auf eine andere Art und Weise, weil sie sich schon viel mehr damit ausein­an­der­ge­setzt hatten, dass sie nicht dazu­ge­hören sollten. „Kultur“ und Zuge­hö­rig­keit zum Deutschtum waren aller­dings ganz wich­tige Begriffe. Sie entwi­ckelten auch eine Idee davon, was „Deutsch­land“ für sie bedeu­tete, etwas, was sie immer noch bewahren konnten, daher waren bestimmte kultu­relle Klas­siker von Schiller zu Kleist, auch das Berliner Tage­blatt und anderes für sie wahn­sinnig wichtig. Aber gleich­zeitig trafen eben diese Gruppen aufein­ander, und du hast ständig diese Ausgren­zung über die Fragen: Von woher kommen diese Leute, und was macht sie aus?

SG: Es gab nichts, was sie einte?

AH: Doch, aber diese Ausgren­zung erweckte nicht unbe­dingt eine posi­tive Iden­tität. Vor allem macht es sehr deut­lich, dass diese Menschen nicht eine gemein­same Iden­tität als Juden hatten, auch wenn es den Versuch immer wieder gab, eine gemein­same Iden­tität herzu­stellen, beson­ders als There­si­en­städter. Das war eine Iden­tität, auf die fast alle einstiegen. Diese Iden­tität als There­si­en­städter war explizit trans­na­tional. Sie schloss auch Leute ein, die sich nicht als jüdisch verstanden oder es auch nicht waren. Denn There­si­en­stadt hatte eine große christ­liche Gemeinde, die protes­tan­ti­sche und die katho­li­sche, und ziem­lich viele Athe­isten. Letzt­lich hatten viele Leute sehr unter­schied­liche Vorstel­lungen davon, was für sie Jüdisch-Sein hieß und warum sie nach There­si­en­stadt gebracht worden waren. Und die Einsicht, dass diese Iden­ti­täten und Ideen extrem hete­rogen waren, das bleibt, so hoffe ich, mein Beitrag zu der Diskus­sion: Was ist jüdi­sche Geschichte und wie hete­rogen sollte sie sein? Denn es gibt nicht die jüdi­sche Geschichte und nicht das Jüdi­sche. Und das zeigt Theresienstadt.

SG: Du hast vorhin von Pres­tige gespro­chen, und daran würde ich gerne noch einmal anknüpfen, um auf Macht­asym­me­trien zu spre­chen zu kommen. Wie an allen anderen Orten gab es sie auch in There­si­en­stadt. Doch was heißt dort Macht­asym­me­trie, und wie kamen solche Asym­me­trien zustande?

Leo Haas: „Schlan­ge­stehen vor einem Lebens­mit­tel­ge­schäft“, o.J.; Quelle: folkedrab.dk

AH: Es gab einige Faktoren, die ins Gewicht fielen: das Alter, die Ethni­zität, auch der Zeit­punkt, zu dem man in There­si­en­stadt einge­troffen war. Und eben die Arbeit, die man dort ausübte. Das soziale Kapital der Bäcker beispiels­weise war beträcht­lich, da sie durch ihre Arbeit Zugang zu Essen hatten. Darüber hinaus waren sie aufgrund ihres Jobs oft von Trans­porten in die Vernich­tungs­lager ausge­nommen. Alle Leute vom Aufbau­kom­mando –über­wie­gend Hand­werker – waren bis zum September 1943 vor diesen Trans­porten geschützt. Und ebenso ihre Partner. Denn in There­si­en­stadt achtete die jüdi­sche Selbst­ver­wal­tung darauf, dass Fami­lien nicht zerrissen wurden. Das heißt, der Koch, der Bäcker oder auch der Flei­scher vom Aufbau­kom­mando konnte die Menschen, die mit ihm auf der Karte einge­tragen waren, beschützen. Auch wenn sie nicht verhei­ratet waren, konnten sie ihre Part­nerin schützen. Genau deswegen waren sie sehr begehrte Partner. Und weil sie Zugang zu mehr Essen hatten.

Ein Verwandter erzählte mir, wie Frauen auf die Bäcker am Ende der Schicht warteten, um ihnen Sex als Dienst­leis­tung im Austausch für Brot anzu­bieten. Das zeigt deut­lich, wie eng Privi­le­gien und Macht zusam­men­hingen. Aufgrund ihrer Privi­le­gien war es für diese Leute außerdem vergleichs­weise einfach, das sozu­sagen ulti­ma­tive Privi­le­gium in There­si­en­stadt zu ergat­tern: nämlich einem kleinen Raum für sich alleine, einen Kumbál, eine Art kleine Abstell­kammer. Sie entstanden oft auf den Dach­böden der Kasernen, in denen zuvor die alten Leute unter­ge­bracht waren. Doch nachdem diese entweder gestorben oder nach Treb­linka depor­tiert worden waren, bauten sich die jungen tsche­chi­schen Männer hier ihre Kumbáls. Kumbál war so ein Wort, das alle in There­si­en­stadt kannten. Es war eines dieser tsche­chi­schen Wörter, die Eingang in däni­sche, nieder­län­di­sche und alle mögli­chen Wort­schätze fanden – ein Hinweis von vielen, welche Bedeu­tung das Tsche­chi­sche hatte, auch wenn Deutsch die lingua franca blieb. Tsche­chisch hingegen wurde an diesem Ort eine Macht­sprache. Status und Macht wurde auf so vielen Ebenen hergestellt.

SG: Auch wenn es nicht dein Haupt­an­liegen war, über Gewalt­aus­übung zu schreiben, beschreibst Du in Deinem Buch ja durchaus Extrem­si­tua­tionen. Zu diesen Situa­tionen gehörte auch die Ankunft im Ghetto, für viele ein trau­ma­ti­sches Erlebnis, wie Du schreibst. Manche brachen zusammen, manche nahmen sich sogar das Leben. Doch andere schafften es irgendwie weiter­zu­ma­chen, durch­zu­halten, ich weiß nicht genau, was eigent­lich das rich­tige Wort dafür ist…

AH: Weiter­ma­chen, durch­halten, das sind schon gute Begriffe dafür. Man kann bei Tage­buch­schrei­benden, in There­si­en­stadt oder in anderen Ghettos und Konzen­tra­ti­ons­la­gern, sehen, wie die Menschen am Anfang noch erfassen können, was alles anders ist – und wie sie sich dann, nach einer nicht sehr langen Zeit,  daran gewöhnen und es nicht mehr sehen. Man gewöhnt sich an vieles.

SG: Würdest Du sagen, es wird „Norma­lität“? Sodass auch in dieser Extrem­si­tua­tion eine Norma­lität entsteht; dass es viel­leicht sogar eine Norma­lität gibt, die wichtig ist?

AH: Ja, genau. Was mich inspi­rierte, war der auto­bio­gra­fisch grun­dierte Roman eines Schick­sal­losen von Imre Kertész, in dem er über einen Tag in einem Buchen­walder Außen­lager erzählt, und der Junge am Abend, als er ein biss­chen Ruhe und ein wenig gegessen hat, „glück­lich“ ist. Er erzählt darin, wie sich die Leute in dem KZ einrichten. Jede, fast jede Gesell­schaft entwi­ckelt ihre Norma­lität und die Leute passen sich daran immer wieder an. Ich glaube, wir sind der Geschichte des Holo­caust mit einer Senti­men­ta­li­sie­rung und einer Exzep­tio­na­li­sie­rung nicht dien­lich. Denn wir verstehen die Leute dann nicht: Was ihre letzten Monate und Wochen und ihre Anpas­sung und ihren Über­le­bens­willen und ihre Agency ausge­macht hat. Deswegen haben diese Leute die vielen Tage­bü­cher mit sich getragen und geschrieben, damit sie bezeugen, was es für sie ausge­macht hat, dort zu sein. Wenn wir an diesen vielen, vielen tausenden Zeug­nissen vorbei­gehen und statt­dessen nach dem Motto verfahren „Das ist unsere Vorstel­lung vom Holo­caust“ – dann erweisen wir der Erin­ne­rung an den Genozid an den euro­päi­schen Juden und an die letzten Momente von Millionen von Menschen einen schlechten Dienst.

SG: Inter­es­sant, dass Du Kertész erwähnst, ich musste tatsäch­lich an ihn denken, als ich Dein Buch las. Ich hatte nämlich den Eindruck, dass es für Dich wichtig war, das Leben der Gefan­genen von There­si­en­stadt recht streng als das zu erfassen, was gerade Gegen­wart für sie war – ohne eben bereits Kenntnis über den weiteren Verlauf der Geschichte zu haben.

AH: Ja, ich wollten nicht ahis­to­risch darüber schreiben, dass sie alle sterben, als ob die Geschichte dieser Menschen bereits mit ihrer Depor­ta­tion nach There­si­en­stadt endete. Ich wollte die Zeit in There­si­en­stadt, die dreckig und schreck­lich und belas­tend und hungrig und unwürdig war, genauer betrachten, und zeigen, wie sich die Menschen an diesem Ort verhielten, an was sie sich auch gewöhnten.

Ein großes Thema unter den Gefan­genen von There­si­en­stadt war beispiels­weise die vorehe­liche Sexua­lität. Für die Gene­ra­tion „1860“ war vorehe­liche Sexua­lität ein Tabu, abge­sehen von Männern, die ins Bordell gingen oder ein Arbei­ter­mäd­chen als Geliebte hatten. Und dann waren sie in There­si­en­stadt, umgeben von jungen tsche­chi­schen und auch einigen jungen deut­schen und öster­rei­chi­schen etc. Leuten, und diese lebten ihre Sexua­lität durchaus aus, insbe­son­dere dieje­nigen mit ihren Kumbáls. Die Frauen liefen geschminkt herum, sie hatten selbst­ge­bas­telte Bade­an­züge und sonnten sich. Und anstatt zu sagen „Gott, das ist Sodom und Gomorrha“, sagten sie „neue Länder, neue Sitten“. Für diese jungen Leute waren das die Möglich­keiten, Spaß zu haben. Das fand ich schon sehr beein­dru­ckend, wie sich Menschen ändern können, ihre Sitten und Werte.

SG: Du hast zu Beginn Deines Buches geschrieben, dass es Dein Anliegen ist, den Menschen aus There­si­en­stadt eine Stimme zu geben. Mein Eindruck ist, dass dies mehr für Dich bedeutet, als sie durch Zitate zu Wort kommen zu lassen. Dass Du dies viel­leicht eher als eine Meta­pher verwen­dest für Dein Anliegen, die Inhaf­tierten in There­si­en­stadt in ihrem Mensch­sein mit all seinen unter­schied­li­chen Facetten zu zeigen. Und sie nicht so zu behan­deln, als wären sie Menschen, die man in ihrem Verhalten ohnehin nicht begreifen kann. Du verwehrst dich ja auch gegen die Rede­wen­dung von Lawrence Langer, der von „choice­less choices“ gespro­chen hat.

AH: Nun, ich finde, dass diese Formu­lie­rung aus gut nach­voll­zieh­baren Gründen eine viel­zi­tierte Redensart geworden ist. Denn ja, es ist wichtig, sich zu verdeut­li­chen, dass es so etwas wie eine gänz­lich freie Wahl nicht gab. Aber ich glaube, wenn wir diese Menschen als passiv beschreiben oder man ihre Entschei­dungen, die sie fällten und die für sie so wahn­sinnig wichtig waren, nicht zur Kenntnis nehmen, dann werden wir nicht verstehen, wie diese Menschen getickt haben und was für sie wichtig war. Was ich auch enteh­rend finde.

Für mich war es sehr Augen öffnend, das Schluss­ka­pitel über den Trans­port von There­si­en­stadt in den Osten zu schreiben. Man kann beispiels­weise anhand der Ausnah­me­an­träge und Memoiren sehen, wie unglaub­lich wichtig es für diese Leute war, zu entscheiden, mit wem sie auf den Trans­port gingen. Ebenso wichtig war für sie die Frage, mit wem werde ich unter­ge­bracht sein.

Wand­ma­lerei in einer vermut­lich vorüber­ge­hend als Kinder­zimmer genutzten Dach­kammer; alle Wand­ma­le­reien sind auf Augen­höhe eines Klein­kindes ange­bracht; Quelle: ghettospuren.de

Aufgrund der Art und Weise, wie die Tage in There­si­en­stadt gere­gelt waren, hatten die Menschen eigent­lich nur abends Zeit, mit dem Kind bezie­hungs­weise mit der Familie zu essen, mit der Wahl­fa­milie oder mit der biolo­gi­schen Familie oder mit den Freunden. Und das war etwas, worüber immer wieder sehr viel nach­ge­dacht wurde und was immer wieder verhan­delt wurde: Schnappt man den neuen Geliebten und bringt ihn zu den Eltern, oder trifft man sich mit den Freunden aus der zionis­ti­schen Gruppe, oder hat man so tolle Freunde auf seinem Zimmer, dass man jetzt mit ihnen rumhängt. Wird man mit der Mutter unter­ge­bracht oder mit der besten Freundin? Und viel­leicht hat man in There­si­en­stadt jemand kennen­ge­lernt, in den man wahn­sinnig verliebt ist – und dann kommen die Alten auf den Trans­port. Geht man mit ihnen oder versucht man, mit dem Geliebten zu bleiben? Das waren echte Entschei­dungen und wenn wir diese miss­achten, weil sie erzwungen waren, geht wir an dem Leben und dem Alltag und dem Verständnis von der Häft­lings­ge­sell­schaft komplett vorbei.

SG: Eine letzte Frage: Du hast zu Beginn unseres Gesprächs erwähnt, dass Du in Israel warst, bevor Du mit dem Buch begonnen hast, und dass Dich die Erzäh­lungen der ehema­ligen There­si­en­städter sehr beein­druckt hätten. Erzählst Du eine andere Geschichte von There­si­en­stadt als sie?

AH: Wir haben aus There­si­en­stadt ein Master­n­ar­rativ, eine „Meister Erzäh­lung“ darüber, was There­si­en­stadt bedeutet. Diese ist schon während des Holo­caust entstanden und sie war vor allem für die There­si­en­städter Häft­linge wichtig. Das ist diese Geschichte über Kultur und über Kinder und über die Juden, die im Ange­sicht des Schreck­li­chen zeigen, dass sie nicht nur Anwälte und Profes­soren sind, sondern auch als „Muskel­juden“ eine Stadt von klein auf aufbauen können. Und über die mensch­liche Soli­da­rität – aller­dings wird es da ein biss­chen schwammig.

Ich wollte dem keine neue Meis­ter­er­zäh­lung entge­gen­setzen. Ich wollte eine analy­ti­sche Geschichte von Menschen im Ange­sicht von Extremen schreiben: über Soli­da­rität und ihre Grenzen, über fami­liäre Netz­werke, über soziale Karrieren im Ghetto und darüber, was eine Gesell­schaft ausmacht. Als ich 2008, ein paar Jahre vor dem Tod meines Groß­va­ters, in Yad Vashem ganz zufällig den Ausrei­hungs­an­trag meines Urgroß­va­ters fand, der aller­dings kein erfolg­rei­cher gewesen war, war dieser eine letzte Spur für meinen Groß­vater, und für uns alle sehr wichtig. Für mich war es eine beson­dere Erin­ne­rung an all die Menschen, die nicht über­lebt haben. Das trifft auf die aller­meisten zu. Deshalb war es für mich wichtig, meinen Blick nicht von den Narra­tiven der Über­le­benden beein­flussen zu lassen. Und deswegen ist das Buch auch denje­nigen gewidmet, die nicht zurück­ge­kehrt sind.

SG: Ich danke Dir sehr für dieses Gespräch.

 

Anna Hájková, The Last Ghetto. An Ever­yday History of There­si­en­stadt, Oxford 2020.