
Ein großes Land mit mächtigen Streitkräften, angeführt von einem brutalen und skrupellosen Diktator, überfällt ein kleineres demokratisches Land. Man fühlt sich in die 1930er und 1940er Jahre zurückversetzt. Tatsächlich aber schreiben wir das Jahr 2022.
Wie sollten demokratische Länder auf solche Ereignisse reagieren? Diese Frage stellten die Diktaturen der Zwischenkriegszeit ganz direkt an die Demokratien jener Zeit. Man kann folglich eine Menge lernen, wenn man mit klarem Blick untersucht, wie die demokratische Antwort auf die faschistische und nazistische Aggression der Zwischenkriegszeit tatsächlich aussah. Betrachten wir dazu drei verschiedene führende Politiker, die auf je unterschiedliche Weise auf die Bedrohung durch Nazi-Deutschland (aber auch durch das faschistische Italien und das imperiale Japan) reagierten. Es handelt sich um zwei britische Premierminister, Neville Chamberlain und Winston Churchill, und den amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt.
Chamberlains resoluter Realismus

Neville Chamberlain trifft Adolf Hitler 1938 in München; Quelle: faz.net
Neville Chamberlain ist jemand, der in der populären Vorstellung stets spektakulär falsch eingeschätzt wird. Nach landläufiger Meinung war Chamberlain dumm, feige und schwach in seiner Reaktion auf die von Hitler ausgehende Gefahr, vor allem in seiner berüchtigten „Appeasement“- bzw. „Beschwichtigungspolitik“, die in der Abtretung des Sudetenlandes an Deutschland im Jahr 1938 gipfelte. In Wirklichkeit aber war Chamberlain das genaue Gegenteil seines Stereotyps: Er war hart und mutig, dazu auch arrogant und diktatorisch in seinem Regierungsstil, und in vielerlei Hinsicht ein äußerst kompetenter und weitsichtiger Politiker.
Chamberlains Politik stützte sich auf drei wesentliche Impulse. Der erste war die weit verbreitete Abscheu, die fast alle Europäer:innen angesichts der Schrecken des Ersten Weltkriegs empfanden. Chamberlain war entschlossen, eine Wiederholung dieser Schrecken zu vermeiden, zumal er (wie die meisten Menschen in den 1930er Jahren) davon ausging, dass der nächste Krieg angesichts der zerstörerischen Kraft der neuen strategischen Bomber noch schlimmer sein würde.
Der zweite Impuls war der Wunsch, die Ressourcen der britischen Regierung für höhere Sozialausgaben zu nutzen. In den 1920er Jahren war Chamberlain ein reformorientierter Gesundheitsminister; daher wollte er auch jetzt, dass die Regierung mehr für die Verbesserung des Lebens der einfachen Menschen tat. Dies war jedoch nicht möglich, wenn sie einen großen Teil ihrer Mittel für Militärausgaben bereitstellen musste. Chamberlains Ziel war es daher, die militärischen Bedrohungen zu reduzieren, damit die Ausgaben für soziale Programme steigen konnten.
In der Außenpolitik schließlich war Chamberlain das, was wir heute einen „Realisten“ nennen, d.h. ein Politiker, der versucht, das, was er als nationales Interesse ansieht, an erste Stelle zu setzen, während er moralische Erwägungen völlig außer Acht lässt. Chamberlain betrachtete es nicht als britisches Interesse, in einen großen Krieg zur Verteidigung kleiner Nationen in Mittel- oder Osteuropa verwickelt zu werden. So erklärte er dem britischen Volk in seiner berühmt gewordenen Rundfunkansprache am Vorabend der Münchner Konferenz: „Wie schrecklich, fantastisch, unglaublich wäre es doch, dass wir hier Schützengräben ausheben und Gasmasken anprobieren sollten wegen eines Streits in einem weit entfernten Land zwischen Menschen, von denen wir nichts wissen.“
Der kommende Krieg

Chamberlain verkündet am Radio die britische Kriegserklärung an Deutschland, 3.9.1939; Quelle: bbc.com
Chamberlain rechnete damit, dass weder Italien noch Japan es im Alleingang wagen würden, die britischen Interessen zu bedrohen, sobald die Bedrohung durch Nazi-Deutschland gebannt sei. Daher suchte er nach einer Möglichkeit, Hitler mit den bestehenden internationalen Vereinbarungen zu versöhnen. Chamberlain zog es vor, dies auf dem Verhandlungsweg zu erreichen; doch falls die Verhandlungen scheitern sollten, hatte er ein kluges, realistisches Gespür dafür, wie Großbritannien einen Krieg führen sollte und welche Art von Krieg sein Land gegen Deutschland gewinnen konnte. Er bezog sich dabei auf die Ideen des Strategen Basil Liddell Hart, um einen Krieg zu planen, der auf die wirtschaftliche Stärke Großbritanniens, seine schlagkräftige Marine und seine zunehmend aufgerüstete Luftwaffe gestützt sein sollte und so einen ruinösen Bodenkrieg in der Art des Ersten Weltkriegs vermeiden würde. Chamberlain war der Ansicht, dass Großbritannien, wenn es in der Defensive bliebe und sich zwei oder drei Jahre lang auf seine See- und Luftstreitkräfte verlassen würde, die deutsche Wirtschaft durch Sanktionen und Blockaden soweit schwächen könnte, dass Hitlers Regime zusammenbrechen würde. Er wollte keine schwere und verfrühte Aufrüstung betreiben, da dies die Wirtschaft, die eine der Hauptquellen der britischen Stärke war, schädigen könnte.
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, führte Großbritannien vor allem einen Luft- und Seekrieg, und einer der Hauptgründe für ein mögliches Scheiterns Großbritanniens wäre die mangelnde finanzielle Unterstützung durch die Vereinigten Staaten gewesen. Man kann also kaum sagen, dass Chamberlains strategische Einschätzung der Lage in den Jahren 1938 und 1939 grundsätzlich falsch war. Bis auf eines allerdings: Er erkannte die systemischen Implikationen von Hitlers zunehmendem Angriff auf die demokratische Ordnung der Welt nach dem Ersten Weltkrieg nicht. Dies war ein wesentlicher Bestandteil seiner realistischen Sichtweise, die solche Überlegungen ganz hinter rein machtpolitische zurückstellte. Sein konservativer Rivale Winston Churchill allerdings verstand 1938 dieses Problem sehr gut.
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Churchills klarer Blick
Auch über Winston Churchill existieren viele populäre Mythen. Churchill war nie ein so konsequenter Gegner des Nationalsozialismus, wie er später gern von sich behauptete, und seine Einschätzung der strategischen Lage Großbritanniens war nicht annähernd so scharf wie die von Chamberlain. Aber es gab eine Sache, die Churchill als fast einziger der Politiker des britischen Establishments sehr gut verstand. Die meisten hochrangigen britischen Politiker sahen in der Bedrohung durch Nazi-Deutschland eine Bedrohung, die ihnen mit jener aus dem Deutschen Kaiserreich oder dem Frankreich Napoleons oder gar dem Absolutismus von Ludwig XIV vergleichbar erschien. Analogien zu diesen vergangenen Konflikten füllen seitenweise die britischen Kabinettsprotokolle jener Zeit. Churchill hingegen begriff, dass die Situation in den 1930er Jahren eine völlig andere war. Natürlich ist er für seine Kriegsrhetorik berühmt, vor allem für die wortgewaltigen und kraftvollen Reden, mit welchen er die britische Gesellschaft im Sommer 1940 zur Verteidigung seiner Insel aufrief. Ich würde jedoch behaupten, dass die kraftvollste und wichtigste Rede, die er je gehalten hat, seine Ansprache im Anschluss an die Münchner Konferenz war, in der er klar darlegte, wie ein demokratischer Staat auf eine autoritäre Bedrohung reagieren sollte.

Churchill kritisiert im Unterhaus Chamberlain, 5. Oktober 1938; Quelle: legallegacy.wordpress.com
In einer Rede vor dem Unterhaus am 5. Oktober 1938 warnte Churchill: „Viele Leute glauben, zweifellos ehrlich, dass sie nur die Interessen der Tschechoslowakei aufgeben, während ich fürchte, dass wir feststellen werden, dass wir die Sicherheit und sogar die Unabhängigkeit Großbritanniens und Frankreichs zutiefst gefährdet und vielleicht sogar tödlich bedroht haben.“ Churchill hielt es für unerlässlich, „den Charakter der Nazi-Bewegung und die Herrschaft, die sie mit sich bringt, zu berücksichtigen“. Es sei eine Sache, „herzliche Beziehungen“ zum deutschen Volk zu wollen – „unser Herz schlägt für sie“. Doch zu ihrer Regierung „muss man diplomatische und korrekte Beziehungen haben, aber es kann niemals Freundschaft zwischen der britischen Demokratie und der Nazi-Macht geben, dieser Macht, die die christliche Ethik verschmäht, die ihren Vormarsch durch ein barbarisches Heidentum anfeuert, die sich des Geistes der Aggression und der Eroberung rühmt, die aus der Verfolgung Kraft und perverses Vergnügen schöpft und, wie wir gesehen haben, mit erbarmungsloser Brutalität von der Androhung mörderischer Gewalt Gebrauch macht. Diese Macht kann niemals der vertrauenswürdige Freund der britischen Demokratie sein.“ Eine demokratische Regierung müsse in ihrem eigenen Interesse, aber auch im Interesse der Aufrechterhaltung einer demokratischen Welt, die systemischen Auswirkungen des Angriffs eines großen Landes auf eine kleine Demokratie bedenken – und entsprechend reagieren.
Roosevelts Angst um die Demokratie
Franklin Delano Roosevelt oder „FDR“ war der rätselhafteste und zugleich der faszinierendste amerikanische Präsident. Er führte kein Tagebuch, schrieb keine Memoiren und sagte immer viele verschiedene Dinge zu vielen verschiedenen Menschen, so dass es fast unmöglich ist, zu rekonstruieren, was er wirklich dachte. Es gibt jedoch eindeutige Belege dafür, dass er in einem Maß, das selten anerkannt wird, ein äußerst scharfsinniger strategischer Denker war, der genau wusste, wie sich die Welt der 1930er und frühen 1940er Jahre verändert hatte – und was diese Veränderungen für die Verteidigung der Demokratie bedeuteten. Und wie Winston Churchill verstand auch Roosevelt die weltpolitischen Implikationen der von einer aggressiven Diktatur ausgehenden Bedrohungen.
In den späten 1930er Jahren begann der amerikanische Politikwissenschaftler Harold Lasswell, das Konzept des „Garnisonsstaates“ zu entwickeln – das heißt, ein stark reglementierter Staat mit Wehrpflicht, wenig individueller Freiheit, und einer Militärindustrie, die die zivile Industrie verdrängt. Es ist nicht klar, ob Roosevelt Lasswells Werk jemals gelesen hat, aber er sah das gleiche Problem: Das Problem nämlich, dass die Vereinigten Staaten nicht in der Lage sein würden, in einer von faschistischen Diktaturen beherrschten Welt eine Demokratie zu bleiben. Als demokratische Insel in einer faschistischen Welt müssten sie aufrüsten und ihre Freiheit einschränken, so dass auch die Demokratie im eigenen Land gefährdet oder gar zerstört würde. Anders ausgedrückt: Die amerikanische Freiheit war untrennbar mit der Freiheit Europas verbunden (und zu seinem großen Verdienst war Roosevelt auch ein entschiedener Antiimperialist, ein Punkt, an dem es zwischen ihm und Winston Churchill häufig zu Reibereien kam).

F.D. Roosevelt, State of the Union Address, 4.1.1939; Quelle: sutori.com
Roosevelt machte dieses Problem zum Hauptthema seiner Rede zur Lage der Nation 1939: „Wenn eine andere Regierungsform bei ihrem Angriff auf die Demokratie eine geschlossene Front bilden kann“, sagte er vor dem Kongress, „dann muss dieser Angriff von einer geeinten Demokratie beantwortet werden“. Könnten die USA, fragte Roosevelt, mit den Diktaturen konkurrieren und gleichzeitig „in unserer amerikanischen Lebensart [bleiben], im Rahmen der Bill of Rights und innerhalb der Grenzen dessen, was aus unserer Sicht die Zivilisation selbst ausmacht“? Könnte eine Demokratie der Bedrohung durch die Nazis und möglicherweise einem totalen Krieg gegen diese Bedrohung standhalten – und dennoch eine Demokratie bleiben?
Dieser Punkt wurde im Sommer 1940 besonders akut, nachdem der deutsche Sieg über Frankreich das Schreckgespenst einer Invasion und Unterwerfung Großbritanniens und damit der Auslöschung aller Demokratie auf dem europäischen Kontinent aufkommen ließ. Roosevelt erkannte, welche Bedrohung dieses Szenario für die Vereinigten Staaten und die Welt darstellen würde. Aber er führte auch ein sehr isolationistisches Land, dessen öffentliche Meinung ein bewaffnetes Eingreifen in den europäischen Krieg nicht unterstützen würde. Roosevelt erkannte, dass seine Herausforderung darin bestand, Großbritannien in einem Krieg gegen Deutschland zu halten, ohne direkt militärisch in den Krieg einzutreten.
Die politischen Ergebnisse seiner Schlussfolgerung sind berühmt. Im Sommer 1940 kam es zu einem Abkommen, durch das die US-Marine 50 alte Zerstörer an Großbritannien schickte und im Gegenzug britische Marinestützpunkte in der westlichen Hemisphäre für 99 Jahre pachtete. Im Dezember 1940, als Großbritannien vor dem finanziellen Zusammenbruch stand und nicht mehr in der Lage war, die Lieferungen aus den Vereinigten Staaten zu bezahlen, schlug Roosevelt das Lend-Lease-Programm vor, in dessen Rahmen die Vereinigten Staaten Großbritannien kostenlos eine breite Palette von Waffen und anderen Gütern liefern sollten. Das Gesetz zum Lend-Lease-Programm wurde im März 1941 vom Kongress mit komfortabler Mehrheit verabschiedet, und die US-Marine begann sogar, Handelsschiffe auf halber Strecke über den Ozean nach Großbritannien zu eskortieren, um sie vor deutschen U-Booten zu schützen. Hitler und die nationalsozialistische Führung waren sich also durchaus bewusst – zweifellos bewusster als die meisten Amerikaner –, wie nahe die Vereinigten Staaten dem offiziellen Kriegseintritt standen. Hitler rechnete spätestens 1942 mit einer direkten militärischen Beteiligung der USA. In Wirklichkeit hat er den Prozess kurzgeschlossen, indem er den Vereinigten Staaten nach Pearl Harbor den Krieg erklärt hat.
Von der Zwischenkriegszeit in die Gegenwart
Diese drei Ansätze – der von Chamberlain, Churchill und Roosevelt – können uns helfen, über unsere derzeitige Reaktion auf die Krise in der Ukraine nachzudenken. Aus menschlicher Sicht spricht viel für Chamberlains minimalistischen und graduellen Ansatz, seine Bereitschaft zu verhandeln, statt zu kämpfen, sowie für seine scharfe Einschätzung der strategischen Realitäten. Aber wir müssen uns vor Augen halten, was Churchill und Roosevelt in Nazideutschland sahen. Putins Regime stellt ebenso wie Hitlers Regime eine Bedrohung für die gesamte globale demokratische (oder erhoffte demokratische) Ordnung dar. Da wir in weiten Teilen der Welt, nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten, mit hausgemachten autoritären Herausforderungen konfrontiert sind, wäre eine Niederlage in der Ukraine ein ähnliches Desaster, wie eine Niederlage in der Tschechoslowakei vor über achtzig Jahren ein Desaster war. Wenn wir einen direkten militärischen Konflikt mit Russland vermeiden, aber dennoch die ukrainische (und weltweite) Demokratie retten wollen, dann besteht die einzig mögliche Antwort in Sanktionen, um Russlands kriegstreibende Kraft zu schwächen (à la Chamberlain), und Lend-Lease für die Ukraine à la Roosevelt: Demokratien in Europa, Amerika und anderswo müssen ihr Möglichstes tun, um den Ukrainern militärische und andere Hilfe zukommen zu lassen, damit sie die Linie halten können, wie es Großbritannien 1940 getan hat. Ein Zusammenbruch der Ukraine würde, wie FDR das genau sah, das Schreckgespenst eines von militärischer Aufrüstung dominierten, quasi-autoritären „Garnisonsstaates“ für den Rest von uns heraufbeschwören.