Am 14. Juni wird in der Schweiz gestreikt. Der zweite feministische Streik in der Geschichte des Landes richtet den Blick auf ganz verschiedene Formen der Diskriminierung von Frauen*: auf misogyne Gewalt, unsichtbare oder schlecht bezahlte Care-Arbeit sowie auf Ausbeutung aufgrund sozialer und kultureller Herkunft.

  • Nina Seiler

    Nina Seiler ist Polonistin und Postdoc an der UZH, wo sie sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit dem Umbruch von 1968 in Polen auseinandersetzt. Ihre Dissertation über feministische Kritik im postsozialistischen Polen ist 2018 bei transcript erschienen.

Angeb­lich aus der Mode gera­tene Begriffe wie ‚Femi­nismus‘ oder ‚Streik‘ stehen im Jahr 2019 wieder ganz oben auf der Agenda der poli­tisch Bewegten. Nachdem es lange geheissen hatte, dass in Sachen Gleich­stel­lung „bereits alles erreicht“ sei, hat spätes­tens die #MeToo-Debatte das öffent­liche Bewusst­sein dafür geschärft, dass dem nicht so ist. Auch wenn Gleich­be­rech­ti­gung auf dem Papier vieles – wenn auch nicht alles – theo­re­tisch regelt, steht die konkrete Umset­zung massiv zurück. Und zwar auf allen Ebenen. Poli­tisch: bei der Aner­ken­nung von Gewalt, die sich aus Frau­en­hass speist, bei der sozialen Absi­che­rung und Aner­ken­nung von Care-Arbeit und bei der verschleppten Revi­sion von Gesetzen und Steuern, die Frauen benach­tei­ligen. Wirt­schaft­lich: bei Lohn­un­gleich­heit und dem Unwillen einer etablierten Vettern­wirt­schaft gegen­zu­steuern, die Ämter in gesell­schaft­li­chen Führungs­po­si­tionen über­pro­por­tional an Männer vergibt. Und gesell­schaft­lich: im Fort­be­stehen einer struk­tu­rellen Miso­gynie (Kate Manne), in been­genden Klischee­vor­stel­lungen von „Geschlechts­cha­rakter“, Mutter­schaft und Nicht-Mutterschaft.

Frau­en­streik Zürich, 1991, Quelle: nzz.ch

Die Forde­rung nach der Gleich­stel­lung von Frauen* auf allen Ebenen der Gesell­schaft war schon das zentrale Postulat des Schweizer Frau­en­streiks von 1991, an den die zahl­rei­chen natio­nalen und lokalen Streik­ko­mi­tees anknüpfen, die für den 14. Juni zu einem landes­weiten Frauen*streik aufrufen. Die Mobi­li­sie­rung folgt jedoch nicht nur einer natio­nalen Logik, sie ist mit anderen Bewe­gungen und inter­na­tio­nalen Frauen*streiks verknüpft: dem Schwarzen Montag in Polen und Nord­ir­land, dem Women’s Strike for Equa­lity in USA, Spaniens Huelga Femi­nista, „Ni una menos“ in Argen­ti­nien. Bei all diesen Streiks steht das Strei­ken­können selbst zu Debatte, denn es geht hier nicht nur im tradi­tio­nellen Sinn um Arbeits­nie­der­le­gung und Proteste im Rahmen von Lohn­ar­beits­ver­hält­nissen. Frauen* streiken als Arbeiter*, deren (Care-)Arbeit tradi­tio­nell nicht als Arbeit aner­kannt ist, und sind zugleich Teil einer Bürger­rechts­be­we­gung: Sie streiken nicht einfach als Lohn­ab­hän­gige und Konsu­men­tinnen, sondern auch als Gattinnen, Töchter oder Mütter.

Arbeits­alltag – Alltagsarbeit

Frau­en­streik Leipzig, 8.3. 2019.

Die gerade in der Schweiz lange geschmähte Protest­form des Streiks erlebt gegen­wärtig welt­weit ein Revival unter gesell­schafts­po­li­ti­schen Vorzei­chen. Ähnlich wie beim Klima- oder Studie­ren­den­streik liegt auch dem Frau­en­streik ein erwei­tertes Verständnis von Streik zu Grunde, das diese tradi­tio­nel­ler­weise auf den Bereich der gere­gelten Lohn­ar­beit beschränkte Protest­form auf alle gesell­schaft­lich rele­vanten und den sozialen Zusam­men­halt über­haupt ermög­li­chenden Tätig­keits­be­reiche über­trägt. So verstanden hebt sich der Streik von seiner klas­si­schen Defi­ni­tion als „kollek­tiver Verwei­ge­rung von vertrag­lich verein­barter abhän­giger Arbeit zur Durch­set­zung bestimmter Arbeits­be­din­gungen“ ab. Die Streiks, die gegen­wärtig als solche bezeichnet werden, fallen juris­tisch gar nicht unter diesen Begriff. „Arbeits­ver­wei­ge­rungen“ etwa von Studie­renden werden im Histo­ri­schen Lexikon der Schweiz explizit aus der Streik­de­fi­ni­tion ausge­schlossen, weil sie sich nicht auf ein Lohn­ar­beits­ver­hältnis beziehen. Poli­ti­sche Streiks gelten gene­rell als „unzu­lässig“.

Genau an einem derart engen Streik­be­griff und dem an ihn zurück­ge­bun­denen engen Begriff von Arbeit als Lohn­ar­beit ist von femi­nis­ti­scher Seite immer wieder Kritik geübt worden. Denn für viele Frauen* besteht Arbeit auch heute nicht – oder nicht nur – aus ausser­häus­li­cher Voll­zeit­ar­beit, sondern zu einem erheb­li­chen Teil aus unbe­zahlten Tätig­keiten im Haus­halt, in der Kinder­be­treuung und Pflege. Diesen „unsicht­baren“ Teil der geleis­teten gesell­schaft­li­chen Arbeit sichtbar zu machen und in Rech­nung zu stellen, gehört zu den wich­tigsten femi­nis­ti­schen Forde­rungen beider Frauen*streiks. Zwar ist die geschlechts­spe­zi­fi­sche Zwei­tei­lung von bezahlter Produktions- und unbe­zahlter Repro­duk­ti­ons­ar­beit in den letzten Jahr­zehnten flexi­bler geworden; seit den 1970er Jahren steigt die Erwerbs­quote der Frauen konti­nu­ier­lich an und liegt 2018 bei 58,9%, bei Frauen, die in einem Haus­halt mit mindes­tens einem Kind unter 7 Jahren leben, jedoch bei 42,5%. An der geschlechts­spe­zi­fi­schen Segre­ga­tion auf dem Arbeits­markt, der Vertei­lung der auf dem Arbeits­markt aner­kannten und beson­ders niedrig bezahlten Care-Arbeit und an den gesell­schaft­li­chen Struk­turen hat sich seither indes nur wenig verändert.

Frau­en­streik, Zürich 1991, Quelle: nzz.ch

Auch im 21. Jahr­hun­dert müssen viele Frauen* in der Schweiz zwischen Kind und Karriere entscheiden und mit markant tieferen Löhnen als Männer rechnen. Mit der zuneh­menden Ausla­ge­rung von Repro­duk­ti­ons­ar­beiten wie insti­tu­tio­na­li­sierter Kinder­be­treuung, Reini­gungs­ar­beiten oder Alten­pflege in den Bereich der Care-Arbeit wurden diese Probleme eher (an andere Frauen) verschoben als gelöst. „Care- oder Nanny-Chain“ nennt man die inter­na­tio­nale Fürsor­ge­kette, und damit die weithin über­se­henen Tatsache, dass welt­weit mehr als die Hälfte der Migrant*innen weib­lich sind und zu Dumping­preisen in Alten– und Kinder-Pflegeberufe einwandern.

Femi­nis­ti­sche Forde­rungen mit langem Atem

Bereits 1991 hatten Frauen* in der Schweiz den Streik­be­griff für sich und ihre Forde­rungen in Anspruch genommen. Mit dem ersten Frau­en­streik vom 14. Juni 1991 forderten sie die Umset­zung des Gleich­stel­lungs­ar­ti­kels, der seit 1981 in der Bundes­ver­fas­sung stand, aber seitdem ohne gesetz­liche Durch­set­zungs­kraft geblieben war. Nachdem zehn Jahre später kaum Verän­de­rungen spürbar waren und die gesell­schaft­li­chen, wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Struk­turen fast unver­än­dert fort­be­standen, traten rund eine halbe Million Frauen* unter dem Motto „Wenn Frau will, steht alles still!“ in den Streik. Das waren mehr als doppelt so viele Personen wie beim soge­nannten Landes­streik von 1918, bei dem Frauen* eben­falls aktive Rollen inne­hatten, was in der tradi­tio­nellen Geschichts­schrei­bung oft uner­wähnt bleibt. Obwohl der Frau­en­streik von 1991 den bislang grössten Streik der Schweizer Geschichte darstellt, wird er in der Streik­sta­tistik des Landes nicht als solcher erfasst.

Global Women Strike in den USA bei der Stop Trump Rally, Quelle: facebook.com

Der Frau­en­streik von 1991 war kein tradi­tio­nell wirt­schaft­li­cher, sondern ein dezi­diert gesell­schaft­li­cher Streik, der Gemein­schaft bilden und ein Bewusst­sein für geschlecht­liche Diskri­mi­nie­rungen schaffen wollte. Gegen­über der Öffent­lich­keit wollte er die unent­behr­liche Rolle der Frauen und ihrer – unbe­zahlten und unter­be­zahlten – Leis­tungen sichtbar machen. Die Medien berich­teten über den Streik indes fast durch­ge­hend mit Blick auf seinen „Fest“- und „Happen­ing­cha­rakter“, ohne dabei auf den eigent­li­chen Grund des Streikes einzu­gehen. Durch inhalts­ent­leerte und nicht selten direkt sexis­ti­sche Bericht­erstat­tungen, bei denen die am Streik betei­ligten Frauen kaum selbst zu Wort kommen durften, trugen die Medien entschei­dend zur Entpo­li­ti­sie­rung der Forde­rungen und Anliegen der Protes­tie­renden bei. Man könnte sagen, dass die Medien damals gleichsam als Teil des Problems in Erschei­nung traten.

Plurale Ansätze und erwei­terter Blick

Es ist klar, dass der Protest nicht im Rahmen eines klas­si­schen wirt­schaft­li­chen Streiks ausge­tragen werden kann. Hinter den fest­ge­stellten Miss­ständen steht nicht (nur) ein konkretes Anstel­lungs­ver­hältnis, sondern ein komplexes System sozialer, kultu­reller und poli­ti­scher Bedingt­heiten. Dadurch wird auch unklar, an wen sich die Streik­for­de­rungen über­haupt richten sollten – an den Staat, an die Wirt­schaft, die Gesell­schaft oder an den eigenen Partner? Oder adres­siert der Streik auch die Frauen selbst, die über­pro­por­tional viel unbe­zahlte Repro­duk­ti­ons­ar­beit zu leisten willig sind oder sich mit schlecht bezahlten und gering geschätzten Berufen im Care-Sektor zufrieden geben?

Frau­en­streik 1991, Quelle: derfunke.ch

Die Forde­rungen des Frauen*streiks sind auch 2019 so komplex und viel­stimmig wie die Verhält­nisse, auf die sie reagieren. Es geht sowohl darum, neue Debatten um Lebens- und Wirt­schafts­mo­delle anzu­stossen, wie darum, konkret etwas zu bewegen – etwa Arbeit­ge­bende in die Pflicht zu nehmen, die Diskus­sion über die Vertei­lung der inner­fa­mi­liären Repro­duk­ti­ons­ar­beit aufzu­nehmen oder stereo­type Rollen­bilder und deren perma­nente Repro­duk­tion in der Erzie­hung und im Bildungs­system zu ändern.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Darüber hinaus lenkt der Frauen*streik von 2019 den Blick über die Geschlech­ter­ver­hält­nisse hinaus auch auf andere – inter­sek­tio­nale – Diskri­mi­nie­rungs­achsen. Die in die (Niedrig-)Lohnarbeit verla­gerte Repro­duk­ti­ons­ar­beit wird vor allem von Frauen* mit gerin­geren Bildungs­chancen, mit soge­nannten „Karrie­re­un­ter­brü­chen“, von Frauen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund – und solchen, die zur Über­nahme von Pfle­ge­ar­beiten zeit­weise „impor­tiert“ werden – über­nommen. Die beruf­liche Geschlech­ter­se­gre­ga­tion vermengt sich mit Klassen- und Herkunftsfragen. 

Frau­en­streik in Polen, Quelle: http://ost-passage-theater.de

In dieser inter­sek­tio­nalen Perspek­tive wird schnell klar, dass „Frau“ eben nicht gleich „Frau“ ist und die Forde­rungen nach glei­chen Rechten und Chancen sehr unter­schied­liche Schritte, aber auch eine Plura­li­sie­rung des Verständ­nisses von „Frau“ erfor­dern. Um dies zu verdeut­li­chen, operiert der jetzige Frauen*streik 2019 mit dem Aste­risk hinter „Frau“ (der in der Schweiz mal mehr, mal weniger liebe­voll „Frau­ens­ternli“ genannt wird): Der so gefasste Begriff „Frau*“ soll einer­seits Raum bieten für jene, die nicht seit Geburt als Frau gelten oder sich selbst nicht so defi­nieren: trans Frauen, nonbi­näre oder inter­ge­schlecht­liche Personen, aber beispiels­weise auch trans Männer, die weib­lich sozia­li­siert wurden. Er soll aber auch ganz grund­sätz­lich betonen, dass „Frau“ keine natür­liche, sondern eine konstru­ierte und natu­ra­li­sierte Kate­gorie ist, an der gesell­schaft­liche Diskri­mi­nie­rung ansetzt und die zur Folie für weitere Diskri­mi­nie­rungen anhand anderer Grenz­zie­hungen (Haut­farbe, sozialer Status, etc.) wird.

Der Schweizer Frauen*streik ist so auch ein Aufruf, mehr­fache Diskri­mi­nie­rungen wahr­zu­nehmen und mit einer Vernet­zung über soziale und andere Grenzen hinweg dage­gen­zu­halten. Mit einer Vernet­zung, die Frauen* nicht, wie es im diskri­mi­nie­renden Akt geschieht, zu einer homo­genen Gruppe macht, sondern unter­schied­liche Selbst­ent­würfe und gesell­schaft­liche Ausgangs­si­tua­tionen aner­kennt und sichtbar macht.