Unabhängig davon, ob positiv oder negativ über Afrika geschrieben wird, finden sich in unzähligen Texten über den Kontinent immer wieder bemerkenswerte Gemeinsamkeiten, die sich über 150 Jahre ziehen und die mit ihren diskursiven Mustern die Kolonialzeit und die Zeit nach der Dekolonisierung verbinden. An Afrika kleben Begriffe wie „Stamm“, „Häuptling“, „Eingeborene“, und zudem bestimmte, immer wiederkehrende rhetorische Figuren. Dazu gehören Vereinfachung, Mangel und fehlende Normalität. Der kenianische Dichter Binyavanga Wainaina schreibt in einer kleinen bissigen Gebrauchsanweisung „Wie man über Afrika schreiben soll“:
Tabu-Themen sind: Alltag; Liebe zwischen Afrikanern und Afrikanerinnen (es sei denn, der Tod spielt mit); alles, was darauf hinweist, dass es afrikanische SchriftstellerInnen und Intellektuelle gibt; Schulkinder, die nicht unter Ebola oder weiblicher Genitalverstümmelung leiden.
Aussagen über Afrika sind, um damit zu beginnen, häufig deshalb falsch, weil völlig unklar bleibt, worum es genau geht: Welches Land, welche Stadt, welche soziale Gruppierung ist betroffen, was sagt die jeweilige Opposition im Land, was sagen Künstlerinnen und Intellektuelle…? Die Verallgemeinerungen führen zum diffusen Bild eines einheitlichen Kontinents, der vor allem vor Problemen steht. Begleitet werden diese Vereinfachung und Vereinheitlichung von einem Zuviel: Es gibt nicht eine Oberschicht, sondern eine indigene Oberschicht, nicht Bewohner von, sondern die dem soundso Stamm angehörende Bevölkerung, nicht Feste, sondern indigene Feste – wobei gerade der beständige Hinweis auf das „Indigene“ jede Form von Normalität bzw. Selbstverständlichkeit verhindert.
Geschichtslosigkeit und Mangel
Es gehört zum guten Ton – sei es in aktivistischen Kreisen, sei es in Medienberichten – Kommentare über die Geschichtslosigkeit Afrikas spöttisch oder empört zurückzuweisen. Allerdings folgen dann selten kenntnisreiche historische Belege für das Gegenteil, sondern eine Umwertung von Begriffen und Konzepten. „Stämme“, „Häuptlinge“ und „Naturvölker“ sind dann nicht Beleg für Rückständigkeit, sondern etwa für ökologische Weisheit oder schützenswerte Lebensformen – Stichwort „bedrohte Völker“. So wird eine grundsätzliche Statik afrikanischer Gesellschaften reproduziert, die ja mit der Zurückweisung der Geschichtslosigkeit eigentlich in der Kritik steht (das gilt übrigens auch für die momentan mit Verve geführten Restitutionsdebatte). Ohne Kenntnis der afrikanischen Geschichte bleibt Europa der Maßstab und Afrika der imaginäre Ort, an dem es nicht wie bei uns ist, keine Staaten, keine Städte, keine Industrialisierung. Es herrscht Mangel: an Medizin, Frauenrechten, Technologien.
Diese Vereinfachungen und imaginierte Geschichtslosigkeit wird ergänzt durch das angebliche Fehlen von Normalität. Es gibt in Texten zu Afrika selten einen Alltag, jenseits von Schilderungen, wie schwer der Alltag (besonders von Frauen) durch Krisensituationen getroffen ist. Die Vorstellung, dass die meisten Menschen in den meisten afrikanischen Ländern einfach ihren alltäglichen Verrichtungen nachgehen, und nicht vor Krieg, Hunger und Krankheiten fliehen, ist nur schwer zu denken und wird als Beschönigung empfunden.
Afrika, so schreiben Aïssatou Bouba und Detlev Quintern, ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts
im Wissenschaftsdiskurs weitestgehend marginalisiert. Afrika wurde zu einem ‚vergessenen‘ Kontinent, dem angelastet wurde, nicht über die Dynamik zu verfügen, einer ‚auf- oder nachholenden Entwicklung‘ folgen und den dementsprechenden Status ‚Modernität‘ in einer globalisierten Welt erlangen zu können.
Empirisch lässt sich diese Aussage vermutlich nicht halten, denn in den unterschiedlichsten Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften, in der Medizin und Ökonomie, selbst im Recht, lässt sich eher von einem zunehmenden Interesse an Afrika sprechen, wenn auch oft verengt auf die Epoche von Kolonialismus und Postkolonialismus. Allerdings sind Vorstellungen eines ökonomisch und politisch abgehängten Afrikas, eines kaum entwicklungsfähigen und „problematischen“ Kontinents in populärwissenschaftlichen Diskursen und der Medienberichterstattung weiterhin virulent und schleichen sich auch in universitäre Texte. Diese „Zukunftsunfähigkeit“ korrespondiert mit der „Geschichtslosigkeit“ früherer Wahrnehmungen, notorisch ist etwa das Zitat des großen britischen Historikers Hugh Trevor-Roper, der in den 1960er Jahren mehrfach proklamierte, dass die Geschichte Afrikas nichts anderes als „unnütze Kreisbewegungen von wilden Stämmen“ in einer „unbedeutenden Weltregion“ sei.
Die ethnographische Tradition
Ganz anders sahen das bedeutende und wegweisende Ethnologen wie Leo Frobenius (1873-1938) und Felix von Luschan (1854-1924), die allerdings ebenfalls bestimmte Muster im Sprechen über Afrika reproduzierten, wenn nicht begründeten. Afrika war für sie ein Kontinent mit einer reichen und sogar bewundernswürdigen Geschichte, jedoch von der Moderne bedroht, von den gefährlichen „Sturzwellen europäischer Zivilisation“, die in Afrika das Alte zerstören würden, und die nur zu Kulturverfall, billiger Imitation und Verlust führen konnten – ein positiver, kreativer Wandel fand nicht statt. Sie dachten afrikanische Gesellschaften paradoxerweise als geschichtlich und essentialisierten sie zugleich. Während Frobenius mit Wärme und Bewunderung über die intellektuell-philosophischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Errungenschaften des alten Afrikas schrieb, war die Gegenwart für ihn versinnbildlicht im „europäisch“ gekleideten Geck mit roter Weste und Zylinder. Auch Felix von Luschan wandte sich etwa in seinem Vortrag beim Deutschen Kolonialkongress 1910 gegen „den primitiven Vorstellungsreigen der Wildvölker“, er schildert historische Veränderungen und die Bedeutung Afrikas für die Menschheitsgeschichte wie namentlich die Eisenverarbeitung. Zu den in den gegenwärtigen Debatten über die Restitution afrikanischer Kunst und Kulturgüter emblematischen Benin-Bronzen schrieb er zum Beispiel, dass sie
auf der höchsten Höhe der europäischen Gußtechnik [stehen]. Benvenuto Cellini hätte sie nicht besser gießen können und niemand weder vor ihm noch nach ihm, bis auf den heutigen Tag. Diese Bronzen stehen technisch auf der höchsten Höhe des überhaupt Erreichbaren.
Doch wiederum, trotz dieser Hochschätzung des Vergangenen äußert sich von Luschan überaus abfällig über junge, städtische und moderne Afrikaner, wenn sie „Europa“ nacheiferten.
Gerade weil Frobenius und von Luschan afrikanische Kultur so schätzen, sahen sie mit Sorge deren „Kontamination“. In Luschans 1904 publizierter Anleitung für ethnographische Beobachtungen und Sammlungen in Afrika und Oceanien ist die Angst vor dem Verlust authentischer Zeugnisse der alten afrikanischen Kultur zu spüren, denn die
Verhältnisse und Einrichtungen, die sich im Laufe von Jahrhunderten eigenartig entwickelt haben, ändern sich unter dem Einflusse des weißen Mannes fast von einem Tag zum anderen: da heißt es rasch zugreifen, ehe es hierzu für immer zu spät sein wird.
Natürlich standen dahinter auch z.T. richtige Beobachtungen darüber, wie rasant Kolonialismus und Kapitalismus afrikanische Gesellschaften transformierten und im Zuge der afrikanischen Moderne auch ein städtisches und ländliches Proletariat hervorbrachten. Eine Erbschaft dieser Kritik ist aber auch die problematische Denkfigur, dass in Europa die Übernahmen fremder Einflüsse eine Kulturleistung darstellt, in Afrika hingegen bloße Imitation sei.
Wie fremd ist Afrika?
Viele Aspekte afrikanischer Geschichte und Gegenwart erscheinen gar nicht so fremd, wenn man sich seiner eigenen Geschichte vergewissert. So schreibt der Afrikahistoriker Helmut Bley, dass „die Befangenheit in der eigenen Gegenwart […] die übrige Welt fremder“ macht, als sie ist. Das heißt, die Verdrängung oder das mangelnde Wissen insbesondere über die agrarische, nicht-säkularisierte Vergangenheit der eigenen Gesellschaft mit ihren noch ganz anderen Bezügen und Abhängigkeiten führt beim Blick auf Afrika zu einem eigentümlichen, die Verhältnisse auf den Kopf stellenden “othering“. Denn in vielerlei Hinsicht ist Afrika gerade nicht „anders“: Viele der Kategorien, mit denen Afrika beschrieben werden, sind aus unserer eigenen Geschichte und deren Interpretation im 19. Jahrhundert entlehnt: Die Vorstellung von Stammesverbänden mit einheitlicher Sprache, Religion und Kultur, von Völkerwanderungen und dem Zusammenfall von Ethnizität und Nation bzw. Nationalstaat sind allesamt europäische und im Hinblick auf die Geschichte Europas geprägte Vorstellungen und Begriffe.
Jenseits der Beschreibungskategorien gibt es zudem tatsächlich viele Ähnlichkeiten afrikanischer Agrargesellschaften – einerseits mit den Agrargesellschaften unserer eigenen europäischen Vergangenheit, andrerseits über sehr große Gebiete in Afrika hinweg. Doch diese Ähnlichkeiten haben weniger mit etwas genuin ‚Afrikanischem‘ zu tun, sondern mit der Ähnlichkeit von Wirtschaftssystemen weltweit. Zu den Besonderheiten des afrikanischen Kontinents und der afrikanischen Geschichte gehört allerdings die Frage nach der Staatenbildung. Zwar lassen sich auch im von Europäern wahrgenommenen und dokumentierten Zeitraum zwischen 1750 und 1860 vielfältigste Staatsgründungs- und Staatausweitungsprozesse auf dem Kontinent finden, doch diese fanden in einer besonders destruktiven Periode statt, denn 1750 bis 1890 waren zugleich die Boom-Jahre des Sklavenhandels.
Ausblick
Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Adichie spricht in einem viel rezipierten TED Talk von 2009 über The Danger of a Single Story. Aufgewachsen auf dem Campus der Universität von Nsukka, wo ihr Vater Professor für Mathematik war, lebte sie mit ihren geliebten englischen und amerikanischen Kinderbuchklassikern mit weißen, blonden und blauäugigen Kindern. Diese Bücher regten ihre Fantasie an und eröffneten dem kleinen Mädchen neue Welten, doch sie wusste nicht, dass auch Mädchen wie sie selbst in der Literatur existieren könnten. Erst die Entdeckung der afrikanischen Literatur „saved me from having a single story what books are”.
Adichie produzierte auch ihre eigenen single stories. So bedauerte sie den Hausangestellten Fide zutiefst aufgrund seiner Armut und war sehr erstaunt, als sie in dessen Heimatdorf eine andere Form des Reichtums, etwa in Form von Handwerkskunst und einem guten Leben, antraf. „Poverty was my single story of him“. Und so, wie sie Fide bedauert hatte, wurde sie später an ihrer amerikanischen Universität von Mitstudierenden bedauert, die bereits wusste, dass jemand aus Afrika nur arm sein kann, nicht weiß, wie ein Herd funktioniert und Hilfe braucht – „pity“ ist deren single story. Der TED Talk von Adichie ist deshalb so lehrreich, weil er nicht nur von negativen Gefühlen den anderen gegenüber ausgeht. Vielmehr zeigt sie, dass auch Mitleid und Empathie eindimensional sein können.
Adichie spricht nicht von Schuld, sondern von einer Gefahr (danger): nämlich der Undenkbarkeit von Vielfalt und einem gleichwertigen Anderssein, wenn sich eine Perspektive auf eine single story verengt. Es geht nicht darum, existierende Probleme und Konflikte in afrikanischen Gesellschaften, in der Geschichte und Gegenwart, zu beschönigen, sondern darum, zu fragen: “Woher weiß ich das?“