Verfilmungen von geschichtlichen Ereignissen sagen etwas darüber aus, wie „Geschichte“ gedacht wird. Wird sie als eindeutige und lineare Entwicklung gedacht, von wichtigen Personen gemacht, mit denen man sich identifizieren kann, dann entsteht wie beim Schweizer Kinofilm „Zwingli“ – eidgenössisches Hollywood.

  • Francisca Loetz

    Francisca Loetz ist Professorin für Geschichte der Neuzeit mit Schwerpunkt Frühe Neuzeit und Sattelzeit an der Universität Zürich.
  • Jan-Friedrich Missfelder

    Jan-Friedrich Missfelder ist Förderungsprofessor des Schweizerischen Nationalfonds für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Basel.

„Tut um Gottes Willen etwas Tapferes,“ so prangt bis heute das Zwing­li­zitat in der Sakristei des Zürcher Gross­müns­ters. So wurde der Refor­mator während des seit mehr als zwei Jahren tobenden Refor­ma­ti­ons­ju­bi­läums immer wieder von Politiker*innen, Theolog*innen oder Medi­en­schaf­fenden zitiert. Zwingli aller­orten: Wer nicht schon mit eigens die Silhou­ette des Refor­ma­tors nach­zeich­nenden „Re-Förmchen“ Kekse backt, läuft ihm etwa in seiner Wirkungs­stätte Zürich in Form von über­le­bens­grossen, im ganzen Stadt­raum verteilten Statuen beständig über den Weg.

Zwingli auch als Guetzli-Ausstecher: Das „Re-Förmchen“; Quelle: wiler.ch

Am präsen­testen aber wurde Zwingli in der schwei­ze­ri­schen Öffent­lich­keit durch den erfolg­rei­chen, Anfang des Jahres pünkt­lich zum Refor­ma­ti­ons­ju­bi­läum produ­zierten Kino­film „Zwingli“ (CH 2019, Regie: Stephan Haupt). Genau der aber tut so gar nichts Tapferes. Zwar werden eine chro­no­lo­gisch erzählte Love­story (das Ehepaar Zwingli), ange­deu­tete action (die nicht gefilmte Schlacht bei Kappel), mora­li­sche Iden­ti­fi­ka­tion (die mutige Äbtissin des Frau­müns­ters), unver­hüllter Schauder (die Erträn­kung des Täufers Manz in Anleh­nung an die chro­ni­ka­li­sche Über­lie­fe­rung) mit präsen­tis­ti­schen Dialogen und musi­ka­li­schem Pathos (von einem hoch­ka­rä­tigen Orchester und welt­be­kannten Solisten einge­spielte Film­musik) gekonnt zu einem eidge­nös­si­schen Holly­wood Film kombi­niert, doch ist es aus geschichts­wis­sen­schaft­li­cher Perspek­tive ein Leichtes, die zahl­losen medialen und histo­ri­schen Klischees der an einen Heimat­film erin­nernden Produk­tion zu iden­ti­fi­zieren und zu kriti­sieren. Dies haben andere bereits getan, aller­dings ohne die Frage zu stellen, wie man die Zürcher Refor­ma­tion histo­risch ange­messen hätte filmisch erzählen können.

Histo­ri­sche Klischees

Im Film „Zwingli“ ist immer schon klar, wer auf der rich­tigen Seite der Geschichte steht. Zwingli, der Zürcher Rat und die Fraumünster-Äbtissin Katha­rina von Zimmern setzen sich als progres­sive Kräfte gegen den hoff­nungslos reak­tio­nären Chor­herrn Hoff­mann, den korrupten Bischof von Konstanz, und all jene durch, die sich, wie es im Film voll­kommen anachro­nis­tisch heisst, „nach den alten Gewiss­heiten sehnen.“ Der Film verharrt in teleo­lo­gi­schen Klischees einer Befreiung vom „dunklen Mittel­alter“ durch die erlö­sende Refor­ma­tion. Er provo­ziert keine Fragen, sondern bestä­tigt popu­läre, aber unzu­tref­fende, Vorstel­lungen von der Vergan­gen­heit. Mit seinen Kulissen, seiner Musik und Drama­turgie befrie­digt er die Erwar­tungen eines Publi­kums, das einen „schönen“ Film sehen und gleich­zeitig nebenbei eine eindeu­tige Geschichte der Refor­ma­tion mitnehmen möchte.

Beset­zung des Zwingli-Films; Quelle: watson.ch

„Zwingli“ ist nicht ledig­lich ein harm­loser mit grossen Mitteln gross insze­nierter histo­ri­scher Unter­hal­tungs­film. Wenn Schul­klassen der zweiten Sekun­dar­stufe scha­ren­weise ins Kino geführt werden oder die jüngst erschie­nene DVD im Unter­richt vorge­führt wird, dann hat der Film unmit­tel­baren Einfluss auf gesell­schaft­liche Geschichts­bilder. Wenn wiederum im eigens zum Film entwi­ckelten Lehr­ma­te­rial Geschichte zu etwas macht wird, bei dem man ledig­lich die Lebens­daten von Persön­lich­keiten zusam­men­trägt, geht das auch die Geschichts­wis­sen­schaft unbe­dingt etwas an. Denn: Wie der Kino­film „Zwingli“ die Zürcher Refor­ma­ti­ons­ge­schichte präsen­tiert und was Schul­ma­te­ria­lien daraus machen, ist sympto­ma­tisch für einen allzu beliebten und doch proble­ma­ti­schen Zugang zur Geschichte. Geschichte wird auf Chro­no­logie redu­ziert. Geschichte erscheint als eine eindeu­tige lineare Entwick­lung, die Selbst­iden­ti­fi­ka­tion anbietet. Mit dieser über­holten Vorstel­lung von „Geschichte“ verfehlt der Kino­film „Zwingli“ die Komple­xität der histo­ri­schen Konstel­la­tion „Refor­ma­tion“. Aber wie lässt sich geschicht­liche Komple­xität erfolg­reich verfilmen?

Multi­per­spek­ti­vität

Das Phänomen Zwingli histo­risch ernst zu nehmen, hiesse, die Refor­ma­tion als eine offene geschicht­liche Konstel­la­tion zu präsen­tieren. Ein solcher Ansatz wäre nicht nur deshalb im besten Sinne histo­risch, weil er ohne Kate­go­rien wie Fort­schritt und Rück­stän­dig­keit auskäme, sondern auch weil er die Chance böte, Zwingli und das Zürich des frühen 16. Jahr­hun­derts als fern und fremd vorzu­führen. Vor allem aber würden die Hand­lungs­mo­tive, Beweg­gründe und Wahr­neh­mungen verschie­dener Betei­ligter zu ihrem Recht kommen und als in sich plau­sibel und sinn­haft verständ­lich werden. Der Komple­xität der Refor­ma­ti­ons­zeit, wie sie die Geschichts­wis­sen­schaft seit Jahr­zehnten heraus­streicht, könnte durch konse­quente Multi­per­spek­ti­vität Rech­nung getragen werden.

Film­szene aus „Rashomon“; Quelle: theater-unikum.de

Um dies in bewegten Bildern umzu­setzen, muss man nicht einmal etwas wirk­lich Tapferes tun. Es ist ja nicht so, als würde die Film­ge­schichte keine Vorbilder für die Reprä­sen­ta­tion von Multi­per­spek­ti­vität und Komple­xität bereit­stellen. Der sicher­lich bekann­teste Fall ist Akira Kuro­sawas Klas­siker „Rashomon“ von 1951. Der Film erzählt die Geschichte eines Mordes an einem Samurai im mittel­al­ter­li­chen Japan aus vier verschie­denen Perspek­tiven, ohne dass eine davon als plau­si­bler oder gar als endgültig wahr privi­le­giert würde. Im Gegen­teil: Alle Versionen, die des Täters, des Opfers, seiner Frau und eines unbe­tei­ligten Augen­zeugen werden einander gleich­wertig gegen­über­ge­stellt, keine kann grös­sere Glaub­wür­dig­keit für sich bean­spru­chen als eine andere. Der Film insze­niert Multi­per­spek­ti­vität nicht nur als Darstel­lungs­prinzip, sondern auch als Modus der Welt­wahr­neh­mung. Auf diese Weise ist er radikal histo­risch, indem er jedes gerad­li­nige und eindeu­tige Narrativ dessen, was vermeint­lich eigent­lich gewesen sei, radikal verab­schiedet. „Rashomon“ wurde in der Folge weit über das Kino oder die Film­wis­sen­schaft hinaus zum Para­digma von Komplexität.

Der „Rashomon-Effekt“

Der ameri­ka­ni­sche Anthro­po­loge Karl Heider sprach 1988 vom „Rashomon effect“ als der Heraus­for­de­rung, ethno­lo­gi­sche (aber natür­lich ebenso histo­ri­sche) Komple­xität ange­messen zu reprä­sen­tieren. Dabei geht es nicht nur um das schlichte Neben­ein­ander von verschie­denen Versionen derselben Geschichte, sondern auch um das Aushan­deln und Aushalten von konf­li­gie­renden Plau­si­bi­li­täts­an­sprü­chen. In diesem Sinne präzi­siert der kana­di­sche Kommu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaftler Robert Anderson, was mit dem „Rashomon effect“ gemeint ist: „[T]he Rashomon effect is a combi­na­tion of a diffe­rence of perspec­tive and equally plau­sible accounts, with the absence of evidence to elevate one above others, with the inabi­lity to disqua­lify any parti­cular version of the truth, all surrounded by the social pres­sure for closure on the ques­tion.“ Das wahr­haft Beun­ru­hi­gende und zugleich Inter­es­sante am „Rashomon effect“ liegt also in der Gleich­zei­tig­keit von Unsi­cher­heit und dem gesell­schaft­li­chen Bedürfnis nach Eindeu­tig­keit. Ein Mord will schliess­lich aufge­klärt und gesühnt werden. Eben diese Inte­gra­tion von verschie­denen Wahr­neh­mungen in eine grosse Meis­ter­er­zäh­lung verwei­gert „Rashomon“ konse­quent.

Wie sähe ein solches Reformations-Rashomon konkret aus? Der Rashomon effect würde es ermög­li­chen, den Refor­mator als jemand zu präsen­tieren, der ein reli­giöses und poli­ti­sches Angebot zu machen hatte, das viele begeis­tert annahmen, andere aber ebenso mit guten Gründen ablehnten. Als das Heils­mo­nopol der römi­schen Kirche bröckelte, eröff­neten sich mehrere „windows of oppor­tu­nity“, die nicht von vorn­herein und ex post nach ihrem histo­ri­schen „Erfolg“ bewertet werden dürfen. Ein solches stellte etwa auch die radi­kale Refor­ma­tion der Täufer um den Patri­zi­er­sohn Konrad Grebel dar, der vor dem zeit­ge­nös­si­schen Hori­zont eine ganz und gar plau­sible reli­giöse und gesell­schaft­liche Posi­tion vertrat, neben der Zwinglis Weg keines­wegs als einzig sinn­voller bleiben muss. Auch der spät­mit­tel­al­ter­liche Katho­li­zismus und die römi­sche Kirche dürfen nicht einfach als marode und korrupt darge­stellt werden, sondern im Einklang mit der refor­ma­ti­ons­ge­schicht­li­chen Forschung der letzten 50 Jahre als viel­fäl­tige, durchaus leben­dige und effi­zi­ente Kultur der Heils­ver­mitt­lung. Ihre Vertreter erschienen dann als reflek­tierte und reform­fä­hige Ange­hö­rige einer ehrwür­digen Insti­tu­tion. Der Konstanzer Bischof Hugo von Hohen­lan­den­berg etwa träte auf als der huma­nis­tisch gebil­dete und kommu­ni­kativ begabte Kirchen­ma­nager, als der er in den Quellen erscheint. Den Wider­stand gegen Zwinglis Refor­ma­ti­ons­an­stren­gungen könnten Zuschauer*innen als wohl­durch­dachte und in der Geschichte der Kirche bewährte Bemü­hung verstehen, die reli­giöse Einheit in der Viel­falt zu bewahren. Vor allem träte Zwingli nicht als allei­niger Prot­ago­nist auf. Daneben stünde das Reden über Zwingli, die unter­schied­li­chen Wahr­neh­mungen der Ereig­nisse und die sich wandelnden Stand­punkte der Zeit­ge­nossen im Mittel­punkt der Handlung.

Eine neue Protagonistin

Mittel der Provo­ka­tion: Wurst­essen in der Fasten­zeit; Quelle: bringmeister.de

Ein Reformations-Rashomon böte ausserdem die Möglich­keit, zusätz­lich zur Haltung der Gebil­deten die Viel­falt der reli­giösen Erfah­rungen der Zürcher Bevöl­ke­rung zu zeigen. Jene Magd, die das kollek­tive Wurst­essen zur Fasten­zeit 1522, das die refor­ma­to­ri­schen Konflikte in der Stadt eska­lieren liess, dem Rat anzeigte: Wäre sie nicht geeignet, eine weitere konkur­rie­rende Perspek­tive auf die Ereig­nisse zur Anschauung zu bringen? Spielen wir das Szenario einmal durch: Die Magd hat einen Namen, als Elsi Flammer ist sie in den Quellen über­lie­fert. Was sie dem Rat zur Anzeige brachte, war aus der Sicht einer frommen Christin des frühen 16. Jahr­hun­derts kein harm­loses, fleisch­se­liges Beisam­men­sein, sondern die Profa­nie­rung des Christ­li­chen über­haupt. Christ sein hiess im Mittel­alter, so die ameri­ka­ni­sche Medi­ävistin Caro­line Walker Bynum schon 1984, die Eucha­ristie zu empfangen und frei­tags sowie in der Fasten­zeit kein Fleisch zu verzehren. Im Zürcher Wurst­essen, an dem nicht zufällig zwölf Teil­nehmer das Abend­mahl mit der Wurst­scheibe als Hostie verspot­teten, sah Elsi Flammer ihre ganze christ­liche Lebens­weise in Frage gestellt. Diese zentrale Episode der Zürcher Refor­ma­tion aus der Sicht der Magd zu zeigen, würde das viel­schich­tige Bild spät­mit­tel­al­ter­li­cher Fröm­mig­keit ergänzen und zusätz­lich die Chance bieten, die Quellen der Refor­ma­ti­ons­ge­schichte selbst ins Spiel zu bringen. Warum nicht die Verhör­pro­to­kolle des Zürcher Rates ins Szene setzen, die über Elsi Flammer über­lie­fert sind und sich für drama­tur­gisch anspre­chende Dialoge gera­dezu aufdrängen? Anstatt das Wurst­essen anachro­nis­tisch ausschliess­lich als provo­kante Perfor­mance gegen absurde Reli­gi­ons­vor­schriften zu insze­nieren, liesse sich aus der Perspek­tive der Magd und der Vertreter des Rats­ge­richts das Wurst­essen als ein drama­ti­scher Verstoss gegen die gott­ge­wollte Ordnung historisieren.

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Ein Reformations-Rashomon, in dem verschie­dene Stimmen zu Wort kämen, würde nicht nur für mehr histo­risch ange­mes­sene Komple­xität und Mehr­deu­tig­keit sorgen, sondern könnten auch verdeut­li­chen, wie fremd uns heute die Refor­ma­tion geworden ist, wie wenig wir uns daher mit ihr iden­ti­fi­zieren können. Wie konnte man sich nur buch­stäb­lich bis aufs Blut darum streiten, ob ein Stück Brot der mate­ri­elle, essen­ti­elle oder spiri­tu­elle Leib Christi ist, der Wein zum allein dem Priester vorbe­hal­tenen Blut Christi gewan­delt wird oder das Abend­mahl ledig­lich eine symbo­li­sche Erin­ne­rungs­hand­lung ist, an der alle Gläu­bigen Brot und Wein mitein­ander teilen? Statt beru­hi­gend eindeu­tige Antworten auf die Ereig­nisse um Zwingli zu liefern, würde ein Reformations-Rashomon weiter­füh­rende, offene Fragen über den Prozess der Refor­ma­tion aufwerfen. Ob ein solcher Zugriff wirk­lich zu „tapfer“ wäre – eine unpo­pu­läre Zumu­tung für das brei­tere Publikum, das angeb­lich immer nur in seinen Geschichts­bil­dern bestä­tigt werden will? Dies ist solange offen, solange das Risiko der Inno­va­tion gescheut wird.