Seit einem Jahr berichten Zeitungen und Magazine darüber, dass der „Öko-Gebärstreik“ doch keine politische Lösung sein könne. Wie #regretting motherhood steht er für ein Moment der Skepsis, der die Vorstellungen vom Glück der Familie, der biologischen Elternschaft und vom „Kind“ als Hoffnungsträger irritiert. Diese Krise von Privatem und Politischen untersucht eine Erzählung von Ingeborg Bachmann aus dem Jahr 1961, an dem verstörenden Beispiel einer bereuten Vaterschaft. Sie hinterfragt die bürgerlichen Begriffe von Kindheit, Männlichkeit und Mutterschaft in einer Komplexität – und mit einer Pointe – , wie nur die Literatur sie herstellen kann.
#Regretting Fatherhood
Dass es um „alles“ geht, das behauptet schon der Titel der Erzählung. Es geht um eine gescheiterte Ehe, um ein totes Kind und die Reue eines Mannes, überhaupt Vater geworden zu sein. Und um den Blick zurück in die Vergangenheit, die in dieser Nachkriegserzählung ein Blick auf Faschismus und Shoa ist. Am Beginn von „Alles“ – die 20-seitige Erzählung ist Teil der Sammlung Das dreißigste Jahr – stehen „zwei Versteinte“: ein Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat. Beide sind genau 30 Jahre alt und haben durch einen Unfall ihren Sohn verloren. Die Erzählung entfaltet sich im Rückblick, erzählt wird sie aus der Perspektive des Mannes, von dem schnell klar wird, dass er seinem Kind den Tod gewünscht hat.

Antonio López García, Notte; Quelle: wikimedia.com
„Versteint“ sind die beiden, weil sie, wie Lots Frau bei der Flucht aus Sodom, den Blick zurück auf Tod und Zerstörung gewendet haben. Es ist das erste in einer Reihe biblischer Motive. In schonungsloser Ehrlichkeit rekapituliert der Ich-Erzähler die Geschichte des Zusammenlebens und der bereuten Vaterschaft: Geheiratet hat er nur, weil seine Frau „das Kind“ erwartete und den Rest der Ehe versuchte er zu verhindern, dass weitere Kinder entstehen. Denn mit dem Kind stellt sich die Frage, was man tradieren und weitergeben möchte und ob ein Neuanfang, eine bessere Gesellschaft überhaupt möglich sind. Und obwohl der Vater sich bemüht, die Vorstellungen und Konventionen, die sein „beschädigtes Leben“ ausmachen, nicht zu reproduzieren, geht er am Ende doch „in die Falle“. Bachmanns Erzählung ist in mehr als einem Sinne eine Provokation – nicht zuletzt in ihrer Aktualität.
Pränatale Depression
Das Kind stört den Vater schon als Ungeborenes, „im Büro – obwohl ich mehr als genug zu tun hatte –“ und auf „Konferenzen“ lenkt es ihn ab. Nach und nach stürzt es ihn in eine Krise. Krisen von männlichen Erzählern und Figuren sind in der Literatur keine Seltenheit und werden ganz selbstverständlich als Hinweis auf eine höhere Bedeutung, auf die conditio humana gelesen. Alter, Impotenz, das melancholische Versenken in die eigene Vergänglichkeit stehen für die Konfrontation des selbstbewussten Geistes mit den Gesetzen des Körpers. „Der Mann“ scheint hierfür oftmals eine geeignetere Reflexionsfigur als „die Frau“; er ist der traurige Philosoph, an dem sich die Natur für seine Zugehörigkeit zur Kultur rächt. Die Wahl des Männlichen als Sinnbild des Gesellschaftlichen ist kein Wunder in einer Gesellschaft, die „die Frau“ immer noch häufig und einigermassen esoterisch dem Reich der Natur und einer zyklischen, kosmischen Zeit zuordnet. Literarische Beschreibungen des weiblichen Körpers und der Sexualität von „Frauen“ werden eher als peinlich-privat denn als universell gelesen. Dass eine „Frau“ genauso unversöhnt mit der Natur und Kultur sein und diese genauso krisenhaft erleben könnte – und damit ein literarisch genauso ergiebiges Kulturzeichen und Symbol des Allgemein-Menschlichen sein könnte, scheint immer noch weniger nahezuliegen.

Matthias Stomer (1615-49), Die Anbetung der Hirten; Quelle: wikimedia.org
Auch in Bachmanns Erzählung ist die (Midlife-)Krise männlich. Die Rollen sind klar verteilt: Während die Schwangere mit „nesting“ beschäftigt ist, kommt der werdende Vater auf Gedanken, die wie „Minen“ sind, Gedanken von gefährlicher Sprengkraft, die wörtlich an Friedrich Nietzsches Essay Über Wahrheit und Lüge erinnern. Dem werdenden Vater wird plötzlich „alles“ hinterfragbar: „Es erging mir wie einem Wilden, der plötzlich aufgeklärt wird, daß die Welt … einen nichtigen Platz unter vielen Sonnensystemen hat… und sich um die Sonne dreht.“ Mit der Ankunft des Kindes bricht eine alte Welt zusammen. Die Krise hat das Ausmass der kopernikanischen Wende. Sie macht dem Vater die absolute Relativität seiner Position und Perspektive ebenso plötzlich bewusst wie seine Vergänglichkeit. Die Vaterschaft wird als Aufklärung und narzisstische Kränkung zugleich erlebt.
Der Vater, dessen Skepsis sich immer weiter ausdehnt, erkennt, dass er weder die Gesellschaft noch die Kommunikation, in die er hineingeboren wurde, fortführen möchte. Die Krise wird zur Kritik (beide haben dieselbe Wurzel). Seine Überlegungen münden in eine Kulturkritik, die mit einer Kritik der Sprache einhergeht: Mit Nietzsche beginnt er zu ahnen, dass, was wir für wahr halten, „hundertjährige Gewöhnungen“ sind, die wir aus Eigennutz und Eitelkeit nicht weiter hinterfragen, Konventionen und Illusionen, „von denen man vergessen hat, daß sie welche sind“ (Nietzsche). Die Worte der Sprache bewahren die Konventionen, von denen der Erzähler sich lossagen möchte.
Pädagogische Obsession
Genau diese Worte und kulturellen Konventionen sieht sich der Vater nun aber mit Schrecken und gegen besseres Wissen an sein Kind weitergeben. Die Vaterrolle verlange es, das Kind Bezeichnungen wie „Tisch und Bett“ zu lehren, aber auch kompliziertere Worte wie „Gott“ und „Astronautik.“ Sie verträgt sich nicht mit dem gerade entdeckten Skeptizismus, und so beschliesst der Erzähler, das Gegenteil zu tun: Dem Kind die Namen der Dinge und den Gebrauch der Gegenstände zu verschweigen, die gesellschaftlichen Konventionen und die Unterscheidung von gut und böse. „Alles ist eine Frage der Sprache“ und da in der Sprache „schon all unser Unglück“ liegt, versucht er, das Kind vor der Sprache und dem, was sie tradiert, zu bewahren. Was der Vater plant, ist die „Befreiung“ des Kindes von der Kultur. Seine Kulturkritik wird zur pädagogischen Obsession.

Rembrandt, Die Heilige Familie; Quelle: sammlung.pinakothek.de
Die Pädagogik als „Verhinderung von Korruption und Verderbnis“ ist eine Erfindung des Bürgertums, ebenso wie die „Kindheit“, wie Philipp Ariès in seiner Geschichte der Kindheit (1960) eindrücklich gezeigt hat. Mit dem Aufkommen des Bürgertums werden die bis dahin „kleinen Erwachsenen“ umgedeutet: Das Kind wird zum Symbol der Unschuld, seine Kindheit wird immer weiter verlängert, es wird zum emotionalen Mittelpunkt der Kleinfamilie, aber auch zum Gegenstand der Disziplinierung, es erhält besondere Rechte, wird aber auch an spezielle Orte ausserhalb der Erwachsenengesellschaft gebannt (Schule). Die gesellschaftlichen Stilisierungen, die an dieser „Konstruktion“ des Kindes beteiligt sind, hinterfragt Bachmanns Erzählung. Sie rüttelt damit an etwas, das für uns tatsächlich eine „hundertjährige Gewöhnung“ ist. Dem Vater aus Bachmanns Erzählung ist das Kind von Beginn an etwas, das ihm zur Ausdeutung freigegeben ist. Als Ungeborenes ist es ihm ein Symbol der Freiheit. Als das Kind mit der Geburt die Unbestimmtheit und Omnipotenz verliert, die der Vater so verehrt, überlegt er, es im Schlaf zu ersticken.
His Majesty the Father
Die Erzählung liefert verschiedene Erklärungen für die Grausamkeit des Vaters, das Kind um jeden Preis vor dem korrumpierenden Einfluss des Gesellschaftlichen fernzuhalten zu wollen. Sie alle haben mit den Vorstellungen und Klischees von Kindheit zu tun, die in der Erzählung entfaltet werden. Die Kindheit wird zur Projektionsfläche der Kulturkritik des Vaters. Einerseits steht sie für eine „Unschuld“ und messianische Hoffnung – der Vater erwartet von seinem Sohn nichts Geringeres als dass „dieses Kind, weil es ein Kind war, die Welt erlöse“ und eine neue Gesellschaft gründe. Andererseits wird das Kind zum Symbol des „Sündenfalls“, es wird zum Erwachsenen. Als es die masslosen Erwartungen des Vaters nicht erfüllt, sieht er in ihm einen Beweis für die gesellschaftliche Determiniertheit des Menschen und das Böse, das in ihm angelegt sei – und wünscht dem Kind den Tod. Kindheit in diesen widersprechenden Zuschreibungen ist hier nicht mehr als ein Spiegel des väterlichen Narzissmus, der aber durchaus für ein gesellschaftliches Allgemeines, die „Konstruktion“ des Kindes steht.
Freud, der schonungslose Beobachter der bürgerlichen Familie, hatte in der Einstellung der Eltern gegen ihre Kinder dieses „Wiederaufleben und [die] Reproduktion des eigenen, längst aufgegebenen Narzissmus“ erkannt. Er beschreibt zwei Arten, die sich hier vermischen: Die Überschätzung und Verklärung des Kindes, aber auch die
Neigung, alle kulturellen Erwerbungen, deren Anerkennung man seinem Narzißmus abgezwungen hat, vor dem Kind zu suspendieren und die Ansprüche auf längst aufgegebene Vorrechte bei ihm zu erneuern. Das Kind soll es besser haben als seine Eltern, es soll den Notwendigkeiten, die man als im Leben herrschend erkannt hat, nicht unterworfen sein. Krankheit, Tod, Verzicht auf Genuß, Einschränkung des eigenen Willens sollen für das Kind nicht gelten, die Gesetze der Natur wie der Gesellschaft vor ihm haltmachen, es soll wirklich wieder Mittelpunkt und Kern der Schöpfung sein. His Majesty the Baby, wie man sich einst selbst dünkte.

Hans Hohlbein der Jüngere, Edward VI als Kleinkind; Quelle: wikipedia.org
Das Kind, indem man es „Kind“ sein lässt, soll die unausgeführten Wunschträume der Eltern leben. Im Fall von Bachmanns Erzähler die absolute Freiheit von der Gesellschaft, die zuerst als „Neuanfang“ und, als das nicht gelingt, als „Tod“ imaginiert wird.
Vom Privaten zum Politischen
Denn diese absolute Freiheit von der Gesellschaft ist im Leben unmöglich. Obwohl der Ich-Erzähler seinen Sohn nur stumm spazieren trägt und von der Welt abschirmt, geschieht das Unvermeidliche: Das Kind lernt Sätze bilden, Wünsche äussern und Befehle sprechen. Als der Vater es im Spiel mit Gleichaltrigen sieht, sieht er bereits einen „kleinen Mann“, einen „Ingenieur“, der „die Welt weiterbringen“ wird. Er verstösst ihn. Anders als bei Freud ist die kindliche Freiheit, die der Vater für den Sohn wünscht, hier nicht als Rückgang hinter den Gewaltverzicht zu verstehen. Im Gegenteil. Die Welt der Erwachsenen, so heisst es, ist die „schlechteste aller Welten“. Als der Sohn, der nun nicht mehr als Kindliches, sondern als Männliches betrachtet wird, beginnt, Insekten zu töten und in der Grundschule mit dem Messer auf einen Mitschüler losgeht, beweist das dem Vater die Anteckungskraft des Bösen. Das Gesellschaftliche deutet er bis in ihre kleinsten Einrichtungen hinein als einen Schuldzusammenhang:
Ich ging herum, und dehnte meinen Hass auf alles aus, was von den Menschen kam, die Straßenbahnlinien, die Hausnummern, die Titel, die Zeiteinteilung, diesen ganzen verfilzten ausgeklügelten Wust, der sich Ordnung nennt, gegen die Müllabfuhr, die Vorlesungsverzeichnisse, Standesämter… Ich schrie das Einwohneramt und die Schulen und die Kasernen an: Gebt meinem Kind eine Chance!

Antonio López García, Día, Quelle: wikimedia.com
Der Marsch durch die Institutionen, der dem Sohn vorbestimmt ist, bestimmt sein Leben: Einmal beim Einwohneramt registriert, folgen Schulpflicht und Militärdienst. Dass mit dem neuen Leben eigentlich ein neuer Soldat entsteht, erinnert an die Kritik, den die sozialdemokratischen Arbeiterinnen Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem „Gebärstreik“ formulierten. Der „Zeugungsstreik“ des Erzählers steht im Kontext der Shoa, Bachmanns Erzählung ist eine literarische Aufarbeitung, die vor einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, ihren Institutionen und Konzepten, und damit auch: der „Familie“, der „Kindheit“ und „Männlichkeit“ nicht haltmacht. Das ist bei dem birthstrike im Kontext der Klimabewegung anders. Er formuliert keine Kritik der gesellschaftlichen Strukturen, weil er sich allein auf das abstrakte Mass des Ressourcenverbrauchs bezieht.
Den Beobachter beobachten
Der unglückliche Vater in Bachmanns Erzählung kritisiert die strukturelle Gewalt der Nachkriegsgesellschaft aber nicht nur, er verkörpert sie auch. Das wird nicht nur in den Tötungsphantasien deutlich, die Erzählung handelt auch von der Gewalt, die mit den Stilisierungen von Kindheit und Elternschaft einhergeht. „Ich weiß nicht, ob ein Mann sein eigenes Kind so beobachten darf. Wie ein Forscher einen ’Fall‘“, fragt sich der Ich-Erzähler. Für die Leser*innen der Erzählung besteht die Aufgabe darin, den Beobachter zu beobachten, das heisst die Interpretationen von Kindheit, Mutterschaft und Männlichkeit, die von dem Protagonisten beliehen und gerade nicht hinterfragt werden, kritisch zu reflektieren. In der Figur des skeptischen Erzählers, der seine eigene Perspektive als einzige nicht relativiert, entfaltet Bachmanns Erzählung ihre volle Ambivalenz. Sie ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie literarische Texte ein gesellschaftliches Problem aufgreifen und das strukturierte und tiefenscharfe Bild eines grossen und ambivalenten Ganzen entstehen lassen.
Das genauere Hinsehen zeigt, dass der Skeptizismus des Vaters gerade nicht radikal ist: Indem das Kind zum Symbol wahlweise des gesellschaftlich Unschuldigen oder gesellschaftliche Bösen wird, reproduziert er Klischees, die in der Erzählung in Gewalt umschlagen. Statt selbst zu handeln, wird die politische Erlösung der Gesellschaft dem Kind aufgebürdet, dessen Kommen – oder Ausbleiben die Lösung sein soll. Auch die Einsamkeit des „traurigen Philosophen“ ist ein Konstrukt. In den Ausführungen des Erzählers wird auch die Ehefrau zum Klischee. Sie hat keine Eigenschaften, hinterfragt nichts, ist „unerschöpflich im Erfinden und Kombinieren von sinnlosen Silben“ und damit selbst infantil (vom Lateinischen „nicht sprechend).
Perspektivwechsel

Plakat „Birthstrike“; Quelle: castbox.fm
Dass die stumme Ehefrau vielleicht die eigentliche Erzählerin der Geschichte sein könnte, ist die letzte Provokation und Pointe von Bachmanns Erzählung. Ihr Name ist Hanna und verweist auf eine biblische Figur. Die biblische Hanna hatte sich einen Sohn gewünscht und ihn dann im Kindesalter an Gott „zurückgegeben“. Eine vermeintlich harmlose Passage, deren metaphorische Schichten Bachmann hier aktiviert: das Motiv des im Judentum ausgesetzten Menschenopfers, „regretting motherhood“ und die Verweigerung, das Kind für die Gesellschaft zu erziehen. Mit der Überblendung der Krise des Erzählers mit der – in der Literatur viel unerhörteren – Krise einer Erzählerin hinterfragt Bachmann eine weitere unserer „hundertjährigen Gewöhnungen“: die Trennung der Geschlechter in der Literatur. Dieselbe Erzählung, die so selbstverständlich von einer männlichen Figur handelt, lässt sich als Stimme einer weiblichen Erzählerin und „Gebärstreikenden“ noch einmal ganz neu lesen. In dem Moment, in dem die Geschlechter austauschbar und die Erzählungen aufeinander hin durchlässig werden, wird die Verständigung des Paares, das sich so klischeehaft nichts zu sagen hat, gerade möglich. Der heutige Leser ist dann eingeladen, seine Lesegewohnheit zu hinterfragen, die Stimme der „Frau“ als das Allgemeine zu lesen und die Stilisierungen von Kindheit, Elternschaft und „Geschlecht“ als gesellschaftliche Probleme zu verstehen.