„Alles“ lautet der Titel einer - durchaus verstörenden - Erzählung von Ingeborg Bachmann. In ihr geht es um „regretting parenthood“, um die Frage, welche Konventionen man weitergeben will und um die Gewalt von Stilisierungen, die „alles“ erklären wollen.

  • Sabrina Habel

    Sabrina Habel ist Literatur- und Kultur­wis­sen­schaft­lerin und gerade mit einem Rosenzweig-Stipendium an der Hebrew University in Jerusalem. Sie hat in Tübingen studiert, arbeitete als wissen­schaft­liche Assis­tentin an der Universität Zürich, war Redakteurin beim Merkur und bei Geschichte der Gegenwart.

Seit einem Jahr berichten Zeitungen und Maga­zine darüber, dass der „Öko-Gebärstreik“ doch keine poli­ti­sche Lösung sein könne. Wie #regret­ting mother­hood steht er für ein Moment der Skepsis, der die Vorstel­lungen vom Glück der Familie, der biolo­gi­schen Eltern­schaft und vom „Kind“ als Hoff­nungs­träger irri­tiert. Diese Krise von Privatem und Poli­ti­schen unter­sucht eine Erzäh­lung von Inge­borg Bach­mann aus dem Jahr 1961, an dem verstö­renden Beispiel einer bereuten Vater­schaft. Sie hinter­fragt die bürger­li­chen Begriffe von Kind­heit, Männ­lich­keit und Mutter­schaft in einer Komple­xität – und mit einer Pointe – , wie nur die Lite­ratur sie herstellen kann.

#Regret­ting Fatherhood

Dass es um „alles“ geht, das behauptet schon der Titel der Erzäh­lung. Es geht um eine geschei­terte Ehe, um ein totes Kind und die Reue eines Mannes, über­haupt Vater geworden zu sein. Und um den Blick zurück in die Vergan­gen­heit, die in dieser Nach­kriegs­er­zäh­lung ein Blick auf Faschismus und Shoa ist. Am Beginn von „Alles“die 20-seitige Erzäh­lung ist Teil der Samm­lung Das drei­ßigste Jahr – stehen „zwei Versteinte“: ein Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat. Beide sind genau 30 Jahre alt und haben durch einen Unfall ihren Sohn verloren. Die Erzäh­lung entfaltet sich im Rück­blick, erzählt wird sie aus der Perspek­tive des Mannes, von dem schnell klar wird, dass er seinem Kind den Tod gewünscht hat.

Antonio López García, Notte; Quelle: wikimedia.com

„Versteint“ sind die beiden, weil sie, wie Lots Frau bei der Flucht aus Sodom, den Blick zurück auf Tod und Zerstö­rung gewendet haben. Es ist das erste in einer Reihe bibli­scher Motive. In scho­nungs­loser Ehrlich­keit reka­pi­tu­liert der Ich-Erzähler die Geschichte des Zusam­men­le­bens und der bereuten Vater­schaft: Gehei­ratet hat er nur, weil seine Frau „das Kind“ erwar­tete und den Rest der Ehe versuchte er zu verhin­dern, dass weitere Kinder entstehen. Denn mit dem Kind stellt sich die Frage, was man tradieren und weiter­geben möchte und ob ein Neuan­fang, eine bessere Gesell­schaft über­haupt möglich sind. Und obwohl der Vater sich bemüht, die Vorstel­lungen und Konven­tionen, die sein „beschä­digtes Leben“ ausma­chen, nicht zu repro­du­zieren, geht er am Ende doch „in die Falle“. Bach­manns Erzäh­lung ist in mehr als einem Sinne eine Provo­ka­tion – nicht zuletzt in ihrer Aktualität.

Präna­tale Depression

Das Kind stört den Vater schon als Unge­bo­renes, „im Büro – obwohl ich mehr als genug zu tun hatte –“ und auf „Konfe­renzen“ lenkt es ihn ab. Nach und nach stürzt es ihn in eine Krise. Krisen von männ­li­chen Erzäh­lern und Figuren sind in der Lite­ratur keine Selten­heit und werden ganz selbst­ver­ständ­lich als Hinweis auf eine höhere Bedeu­tung, auf die conditio humana gelesen. Alter, Impo­tenz, das melan­cho­li­sche Versenken in die eigene Vergäng­lich­keit stehen für die Konfron­ta­tion des selbst­be­wussten Geistes mit den Gesetzen des Körpers. „Der Mann“ scheint hierfür oftmals eine geeig­ne­tere Refle­xi­ons­figur als „die Frau“; er ist der trau­rige Philo­soph, an dem sich die Natur für seine Zuge­hö­rig­keit zur Kultur rächt. Die Wahl des Männ­li­chen als Sinn­bild des Gesell­schaft­li­chen ist kein Wunder in einer Gesell­schaft, die „die Frau“ immer noch häufig und eini­ger­massen esote­risch dem Reich der Natur und einer zykli­schen, kosmi­schen Zeit zuordnet. Lite­ra­ri­sche Beschrei­bungen des weib­li­chen Körpers und der Sexua­lität von „Frauen“ werden eher als peinlich-privat denn als univer­sell gelesen. Dass eine „Frau“ genauso unver­söhnt mit der Natur und Kultur sein und diese genauso krisen­haft erleben könnte – und damit ein lite­ra­risch genauso ergie­biges Kultur­zei­chen und Symbol des Allgemein-Menschlichen sein könnte, scheint immer noch weniger nahezuliegen.

Matthias Stomer (1615-49), Die Anbe­tung der Hirten; Quelle: wikimedia.org

Auch in Bach­manns Erzäh­lung ist die (Midlife-)Krise männ­lich. Die Rollen sind klar verteilt: Während die Schwan­gere mit „nesting“ beschäf­tigt ist, kommt der werdende Vater auf Gedanken, die wie „Minen“ sind, Gedanken von gefähr­li­cher Spreng­kraft, die wört­lich an Fried­rich Nietz­sches Essay Über Wahr­heit und Lüge erin­nern. Dem werdenden Vater wird plötz­lich „alles“ hinter­fragbar: „Es erging mir wie einem Wilden, der plötz­lich aufge­klärt wird, daß die Welt … einen nich­tigen Platz unter vielen Sonnen­sys­temen hat… und sich um die Sonne dreht.“ Mit der Ankunft des Kindes bricht eine alte Welt zusammen. Die Krise hat das Ausmass der koper­ni­ka­ni­schen Wende. Sie macht dem Vater die abso­lute Rela­ti­vität seiner Posi­tion und Perspek­tive ebenso plötz­lich bewusst wie seine Vergäng­lich­keit. Die Vater­schaft wird als Aufklä­rung und narziss­ti­sche Krän­kung zugleich erlebt.

Der Vater, dessen Skepsis sich immer weiter ausdehnt, erkennt, dass er weder die Gesell­schaft noch die Kommu­ni­ka­tion, in die er hinein­ge­boren wurde, fort­führen möchte. Die Krise wird zur Kritik (beide haben dieselbe Wurzel). Seine Über­le­gungen münden in eine Kultur­kritik, die mit einer Kritik der Sprache einher­geht: Mit Nietz­sche beginnt er zu ahnen, dass, was wir für wahr halten, „hundert­jäh­rige Gewöh­nungen“ sind, die wir aus Eigen­nutz und Eitel­keit nicht weiter hinter­fragen, Konven­tionen und Illu­sionen, „von denen man vergessen hat, daß sie welche sind“ (Nietz­sche). Die Worte der Sprache bewahren die Konven­tionen, von denen der Erzähler sich lossagen möchte.

Pädago­gi­sche Obsession

Genau diese Worte und kultu­rellen Konven­tionen sieht sich der Vater nun aber mit Schre­cken und gegen besseres Wissen an sein Kind weiter­geben. Die Vater­rolle verlange es, das Kind Bezeich­nungen wie „Tisch und Bett“ zu lehren, aber auch kompli­zier­tere Worte wie „Gott“ und „Astro­nautik.“ Sie verträgt sich nicht mit dem gerade entdeckten Skep­ti­zismus, und so beschliesst der Erzähler, das Gegen­teil zu tun: Dem Kind die Namen der Dinge und den Gebrauch der Gegen­stände zu verschweigen, die gesell­schaft­li­chen Konven­tionen und die Unter­schei­dung von gut und böse. „Alles ist eine Frage der Sprache“ und da in der Sprache „schon all unser Unglück“ liegt, versucht er, das Kind vor der Sprache und dem, was sie tradiert, zu bewahren. Was der Vater plant, ist die „Befreiung“ des Kindes von der Kultur. Seine Kultur­kritik wird zur pädago­gi­schen Obsession.

Rembrandt, Die Heilige Familie; Quelle: sammlung.pinakothek.de

Die Pädagogik als „Verhin­de­rung von Korrup­tion und Verderbnis“ ist eine Erfin­dung des Bürger­tums, ebenso wie die „Kind­heit“, wie Philipp Ariès in seiner Geschichte der Kind­heit (1960) eindrück­lich gezeigt hat. Mit dem Aufkommen des Bürger­tums werden die bis dahin „kleinen Erwach­senen“ umge­deutet: Das Kind wird  zum Symbol der Unschuld, seine Kind­heit wird immer weiter verlän­gert, es wird zum emotio­nalen Mittel­punkt der Klein­fa­milie, aber auch zum Gegen­stand der Diszi­pli­nie­rung, es erhält beson­dere Rechte, wird aber auch an spezi­elle Orte ausser­halb der Erwach­se­nen­ge­sell­schaft gebannt (Schule). Die gesell­schaft­li­chen Stili­sie­rungen, die an dieser „Konstruk­tion“ des Kindes betei­ligt sind, hinter­fragt Bach­manns Erzäh­lung. Sie rüttelt damit an etwas, das für uns tatsäch­lich eine „hundert­jäh­rige Gewöh­nung“ ist. Dem Vater aus Bach­manns Erzäh­lung ist das Kind von Beginn an etwas, das ihm zur Ausdeu­tung frei­ge­geben ist. Als Unge­bo­renes ist es ihm ein Symbol der Frei­heit. Als das Kind mit der Geburt die Unbe­stimmt­heit und Omni­po­tenz verliert, die der Vater so verehrt, über­legt er, es im Schlaf zu ersticken.

His Majesty the Father

Die Erzäh­lung liefert verschie­dene Erklä­rungen für die Grau­sam­keit des Vaters, das Kind um jeden Preis vor dem korrum­pie­renden Einfluss des Gesell­schaft­li­chen fern­zu­halten zu wollen. Sie alle haben mit den Vorstel­lungen und Klischees von Kind­heit zu tun, die in der Erzäh­lung entfaltet werden. Die Kind­heit wird zur Projek­ti­ons­fläche der Kultur­kritik des Vaters. Einer­seits steht sie für eine „Unschuld“ und messia­ni­sche Hoff­nung – der Vater erwartet von seinem Sohn nichts Gerin­geres als dass „dieses Kind, weil es ein Kind war, die Welt erlöse“ und eine neue Gesell­schaft gründe. Ande­rer­seits wird das Kind zum Symbol des „Sünden­falls“, es wird zum Erwach­senen. Als es die mass­losen Erwar­tungen des Vaters nicht erfüllt, sieht er in ihm einen Beweis für die gesell­schaft­liche Deter­mi­niert­heit des Menschen und das Böse, das in ihm ange­legt sei – und wünscht dem Kind den Tod. Kind­heit in diesen wider­spre­chenden Zuschrei­bungen ist hier nicht mehr als ein Spiegel des väter­li­chen Narzissmus, der aber durchaus für ein gesell­schaft­li­ches Allge­meines, die „Konstruk­tion“ des Kindes steht.

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Freud, der scho­nungs­lose Beob­achter der bürger­li­chen Familie, hatte in der Einstel­lung der Eltern gegen ihre Kinder dieses „Wieder­auf­leben und [die] Repro­duk­tion des eigenen, längst aufge­ge­benen Narzissmus“ erkannt. Er beschreibt zwei Arten, die sich hier vermi­schen: Die Über­schät­zung und Verklä­rung des Kindes, aber auch die

Neigung, alle kultu­rellen Erwer­bungen, deren Aner­ken­nung man seinem Narzißmus abge­zwungen hat, vor dem Kind zu suspen­dieren und die Ansprüche auf längst aufge­ge­bene Vorrechte bei ihm zu erneuern. Das Kind soll es besser haben als seine Eltern, es soll den Notwen­dig­keiten, die man als im Leben herr­schend erkannt hat, nicht unter­worfen sein. Krank­heit, Tod, Verzicht auf Genuß, Einschrän­kung des eigenen Willens sollen für das Kind nicht gelten, die Gesetze der Natur wie der Gesell­schaft vor ihm halt­ma­chen, es soll wirk­lich wieder Mittel­punkt und Kern der Schöp­fung sein. His Majesty the Baby, wie man sich einst selbst dünkte.

Hans Hohl­bein der Jüngere, Edward VI als Klein­kind; Quelle: wikipedia.org

Das Kind, indem man es „Kind“ sein lässt, soll die unaus­ge­führten Wunsch­träume der Eltern leben. Im Fall von Bach­manns Erzähler die abso­lute Frei­heit von der Gesell­schaft, die zuerst als „Neuan­fang“ und, als das nicht gelingt, als „Tod“ imagi­niert wird.

Vom Privaten zum Politischen

Denn diese abso­lute Frei­heit von der Gesell­schaft ist im Leben unmög­lich. Obwohl der Ich-Erzähler seinen Sohn nur stumm spazieren trägt und von der Welt abschirmt, geschieht das Unver­meid­liche: Das Kind lernt Sätze bilden, Wünsche äussern und Befehle spre­chen. Als der Vater es im Spiel mit Gleich­alt­rigen sieht, sieht er bereits einen „kleinen Mann“, einen „Inge­nieur“, der „die Welt weiter­bringen“ wird. Er verstösst ihn. Anders als bei Freud ist die kind­liche Frei­heit, die der Vater für den Sohn wünscht, hier nicht als Rück­gang hinter den Gewalt­ver­zicht zu verstehen. Im Gegen­teil. Die Welt der Erwach­senen, so heisst es, ist die „schlech­teste aller Welten“. Als der Sohn, der nun nicht mehr als Kind­li­ches, sondern als Männ­li­ches betrachtet wird, beginnt, Insekten zu töten und in der Grund­schule mit dem Messer auf einen Mitschüler losgeht, beweist das dem Vater die Ante­ckungs­kraft des Bösen. Das Gesell­schaft­liche deutet er bis in ihre kleinsten Einrich­tungen hinein als einen Schuldzusammenhang:

Ich ging herum, und dehnte meinen Hass auf alles aus, was von den Menschen kam, die Stra­ßen­bahn­li­nien, die Haus­num­mern, die Titel, die Zeit­ein­tei­lung, diesen ganzen verfilzten ausge­klü­gelten Wust, der sich Ordnung nennt, gegen die Müll­ab­fuhr, die Vorle­sungs­ver­zeich­nisse, Stan­des­ämter… Ich schrie das Einwoh­neramt und die Schulen und die Kasernen an: Gebt meinem Kind eine Chance!

Antonio López García, Día, Quelle: wikimedia.com

Der Marsch durch die Insti­tu­tionen, der dem Sohn vorbe­stimmt ist, bestimmt sein Leben: Einmal beim Einwoh­neramt regis­triert, folgen Schul­pflicht und Mili­tär­dienst. Dass mit dem neuen Leben eigent­lich ein neuer Soldat entsteht, erin­nert an die Kritik, den die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Arbei­te­rinnen Anfang des 20. Jahr­hun­derts mit dem „Gebär­streik“ formu­lierten. Der „Zeugungs­streik“ des Erzäh­lers steht im Kontext der Shoa, Bach­manns Erzäh­lung ist eine lite­ra­ri­sche Aufar­bei­tung, die vor einer Kritik der bürger­li­chen Gesell­schaft, ihren Insti­tu­tionen und Konzepten, und damit auch: der „Familie“, der „Kind­heit“ und „Männ­lich­keit“ nicht halt­macht. Das ist bei dem birthstrike im Kontext der Klima­be­we­gung anders. Er formu­liert keine Kritik der gesell­schaft­li­chen Struk­turen, weil er sich allein auf das abstrakte Mass des Ressour­cen­ver­brauchs bezieht.

Den Beob­achter beobachten

Der unglück­liche Vater in Bach­manns Erzäh­lung kriti­siert die struk­tu­relle Gewalt der Nach­kriegs­ge­sell­schaft aber nicht nur, er verkör­pert sie auch. Das wird nicht nur in den Tötungs­phan­ta­sien deut­lich, die Erzäh­lung handelt auch von der Gewalt, die mit den Stili­sie­rungen von Kind­heit und Eltern­schaft einher­geht. „Ich weiß nicht, ob ein Mann sein eigenes Kind so beob­achten darf. Wie ein Forscher einen ’Fall‘“, fragt sich der Ich-Erzähler. Für die Leser*innen der Erzäh­lung besteht die Aufgabe darin, den Beob­achter zu beob­achten, das heisst die Inter­pre­ta­tionen von Kind­heit, Mutter­schaft und Männ­lich­keit, die von dem Prot­ago­nisten beliehen und gerade nicht hinter­fragt werden, kritisch zu reflek­tieren. In der Figur des skep­ti­schen Erzäh­lers, der seine eigene Perspek­tive als einzige nicht rela­ti­viert, entfaltet Bach­manns Erzäh­lung ihre volle Ambi­va­lenz. Sie ist ein beein­dru­ckendes Beispiel dafür, wie lite­ra­ri­sche Texte ein gesell­schaft­li­ches Problem aufgreifen und das struk­tu­rierte und tiefen­scharfe Bild eines grossen und ambi­va­lenten Ganzen entstehen lassen.

Das genauere Hinsehen zeigt, dass der Skep­ti­zismus des Vaters gerade nicht radikal ist: Indem das Kind zum Symbol wahl­weise des gesell­schaft­lich Unschul­digen oder gesell­schaft­liche Bösen wird, repro­du­ziert er Klischees, die in der Erzäh­lung in Gewalt umschlagen. Statt selbst zu handeln, wird die poli­ti­sche Erlö­sung der Gesell­schaft dem Kind aufge­bürdet, dessen Kommen – oder Ausbleiben die Lösung sein soll. Auch die Einsam­keit des „trau­rigen Philo­so­phen“ ist ein Konstrukt. In den Ausfüh­rungen des Erzäh­lers wird auch die Ehefrau zum Klischee. Sie hat keine Eigen­schaften, hinter­fragt nichts, ist „uner­schöpf­lich im Erfinden und Kombi­nieren von sinn­losen Silben“ und damit selbst infantil (vom Latei­ni­schen „nicht sprechend).

Perspek­tiv­wechsel

Plakat „Birthstrike“; Quelle: castbox.fm

Dass die stumme Ehefrau viel­leicht die eigent­liche Erzäh­lerin der Geschichte sein könnte, ist die letzte Provo­ka­tion und Pointe von Bach­manns Erzäh­lung. Ihr Name ist Hanna und verweist auf eine bibli­sche Figur. Die bibli­sche Hanna hatte sich einen Sohn gewünscht und ihn dann im Kindes­alter an Gott „zurück­ge­geben“. Eine vermeint­lich harm­lose Passage, deren meta­pho­ri­sche Schichten Bach­mann hier akti­viert: das Motiv des im Judentum ausge­setzten Menschen­op­fers, „regret­ting mother­hood“ und die Verwei­ge­rung, das Kind für die Gesell­schaft zu erziehen. Mit der Über­blen­dung der Krise des Erzäh­lers mit der – in der Lite­ratur viel uner­hör­teren – Krise einer Erzäh­lerin hinter­fragt Bach­mann eine weitere unserer „hundert­jäh­rigen Gewöh­nungen“: die Tren­nung der Geschlechter in der Lite­ratur. Dieselbe Erzäh­lung, die so selbst­ver­ständ­lich von einer männ­li­chen Figur handelt, lässt sich als Stimme einer weib­li­chen Erzäh­lerin und „Gebär­strei­kenden“ noch einmal ganz neu lesen. In dem Moment, in dem die Geschlechter austauschbar und die Erzäh­lungen aufein­ander hin durch­lässig werden, wird die Verstän­di­gung des Paares, das sich so klischee­haft nichts zu sagen hat, gerade möglich. Der heutige Leser ist dann einge­laden, seine Lese­ge­wohn­heit zu hinter­fragen, die Stimme der „Frau“ als das Allge­meine zu lesen und die Stili­sie­rungen von Kind­heit, Eltern­schaft und „Geschlecht“ als gesell­schaft­liche Probleme zu verstehen.