Welche Zusammenhänge gibt es zwischen dem Ende der DDR und dem Aufstieg der AfD? Was haben das Kohl‘sche Versprechen der „blühenden Landschaften“, die wirtschaftliche Misere und die Skepsis gegenüber den etablierten Medien miteinander zu tun? Ein scharf beobachtender „Ossi“ gibt Auskunft.

  • Jörg Scheller

    Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste. Er schreibt regelmäßig Beiträge unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT, frieze magazine und ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Bereits als 14-Jähriger stand er mit einer Metalband auf der Bühne. Heute betreibt er einen Heavy Metal Lieferservice mit dem Metal-Duo Malmzeit. Nebenbei ist Scheller zertifizierter Fitnesstrainer. www.joergscheller.de
  • Andreas Müller

    Dr. Andreas Müller ist Body­builder und zwei­fach promo­vierter Sport­wis­sen­schaftler.

Jörg Scheller: Andreas, Du bist Body­builder, zwei­fach promo­vierter Sport­wis­sen­schaftler und stammst aus der säch­si­schen Klein­stadt Werdau, wo Du bis heute lebst. In Deiner Biogra­phie hast Du viele Stationen durch­laufen, vom Möbel­pa­cker über den Wett­kampf­sportler bis hin zum Selb­stän­digen in der Erwach­se­nen­bil­dung. Wir sind seit vielen Jahren in Kontakt und haben unseren Austausch unter anderem in einem Inter­view über Natural Body­buil­ding publi­ziert. Vor einigen Jahren spra­chen wir am Rande einer sport­wis­sen­schaft­li­chen Konfe­renz über Poli­ti­sches, unter anderem über die Span­nungen zwischen West­deut­schen und Ostdeut­schen, vor allem aber über den Rechts­ruck in Ostdeutschland.

Andreas Müller: Die freund­schaft­li­chen Bande, die uns seit Jahren verknüpfen, spre­chen ja dafür, dass die Kommu­ni­ka­tion zwischen „Ossis“ und „Wessis“ durchaus funk­tio­nieren kann. Aber selbst­ver­ständ­lich ist das auch ein Vier­tel­jahr­hun­dert nach dem Mauer­fall noch längst nicht, zumin­dest bei der Gene­ra­tion 50 plus. Gerade diese Gene­ra­tion ist aber nicht zu unter­schätzen, sie hat Kinder groß- und erzogen, das heißt ihnen ihre Inter­pre­ta­tion der Welt vermit­telt. Sie steht zu einem beträcht­li­chen Teil noch im Berufs­leben – falls sie Arbeit hat, muss man hinzu­fügen. Und da geht’s schon los! Einer der bösesten Witze in den soge­nannten Neuen Bundes­län­dern lautet: „Treffen sich zwei Ossis auf Arbeit.“ Schluss, das war’s, das ist der Witz. Man kann die rasante Entwick­lung rechten Gedan­ken­guts im deut­schen Osten aus meiner Sicht nur verstehen, wenn man sich seine Entwick­lung nach dem Mauer­fall ansieht. Dass da Faktoren aus der 28 Jahre währenden Abschir­mung in einer kommu­nis­ti­schen Diktatur mit hinein­spielen, ist aus meiner Sicht unstrittig, aber auch diese wurden wohl erst nach dem Mauer­fall voll wirksam.

Mili­tär­pa­rade am 7. Oktober 1989 in Ost-Berlin zum 40. Jahrestag der Grün­dung der DDR; Quelle: ghi-dc.org

JS: Die Alter­na­tive für Deutsch­land (AfD) hat sich auf das Narrativ verlegt, dass die Erfah­rungen der ostdeut­schen Bevöl­ke­rung mit einer Diktatur frischer seien als im Westen, weshalb Ostdeut­sche über ein feineres Senso­rium für die dikta­to­ri­schen Züge des „Systems Merkel“ verfügten als West­deut­sche. Als bevor­mun­dend wahr­ge­nommen wird die west­lich domi­nierte Bundes­re­gie­rung ebenso wie die als abstrakt empfun­dene Euro­päi­sche Union. Die entge­gen­ge­setzte Lesart besagt, dass in Ostdeutsch­land die Diktatur in den Köpfen genau umge­kehrt nach­wirke; dass die Menschen nicht aus den Mustern von Freund und Feind heraus­kämen; dass sie sich in einer plura­lis­ti­schen Demo­kratie nicht zurecht­fänden. Beide Thesen sind letzt­lich speku­lativ und tenden­ziös. Wie erlebst Du den Rechts­ruck und das Erstarken der AfD in Ostdeutsch­land aus Deiner Alltags­er­fah­rung und wie deutest Du sie?

Arbeits­suche

AM: Da muss ich etwas ausholen. Ich erin­nere mich an einem Auftritt des damals gerade neu ins Amt gewählten SED-PDS-Vorsitzenden Dr. Gregor Gysi in Gera, in dessen Verlauf er dem ungläubig erstar­renden Publikum prophe­zeite, dass im Falle einer vom dama­ligen Bundes­kanzler Dr. Helmut Kohl favo­ri­sierten möglichst baldigen „Wieder­ver­ei­ni­gung“ die Arbeits­lo­sig­keit im Osten epide­mi­sche Ausmaße annehmen werde, weil die ostdeut­schen Betriebe mehr­heit­lich nicht konkur­renz­fähig seien. Und genauso kam es dann ja auch: Mit Einfüh­rung der D-Mark im Sommer 1990 bei offenen deutsch-deutschen Grenzen brachen immer mehr Betriebe zusammen. Ich erin­nere mich, dass ich im Februar 1990 verzwei­felt Arbeit suchte, weil ich meinen Job als Lehrer gekün­digt hatte – ich befürch­tete einen Putsch der alten Eliten, wie er bald darauf in der Sowjet­union gegen Gorbat­schow ja tatsäch­lich statt­fand, und wollte weg, bevor die Schulen zum Macht­in­stru­ment „roten Terrors“ umfunk­tio­niert und die Lehrer zum System­büttel instru­men­ta­li­siert würden, wie in der Sowjet­union der drei­ßiger Jahre oder bei den Nazis. Einen Putsch gab es bekannt­lich nicht, aber die Unsi­cher­heit gras­sierte überall. Wo immer ich anfragte, bekam ich zu hören: „Tut uns leid, keine Stelle frei, wir wissen auch nicht, wie’s weiter­geht!“ Am Ende blieben zwei Optionen: Bühnen­tech­niker im Theater für ein Taschen­geld oder Möbel­träger. Letz­teres war besser bezahlt – das gab den Ausschlag. In den folgenden zwei Jahren konnte ich die Verän­de­rung der ostdeut­schen Arbeits­welt aus der Perspek­tive eines “klas­si­schen Prole­ta­riers“ beob­achten. Die Arbeits­zeiten zogen immer mehr an. Wenn ich morgens zur Arbeit kam, wusste ich oft nicht, wann Feier­abend ist – die Arbeit beim Kunden konnte auch bis in den späten Abend dauern. Gewerk­schaft­lich gere­gelte Arbeits­zeiten – Fehlanzeige!

JS: Du deutest eine Lesart an, die auch mit Blick auf die Vorge­schichte des Natio­nal­so­zia­lismus gängig ist: Erst die Wirt­schafts­krise der 20er und 30er Jahre habe den Aufstieg der Extre­misten möglich gemacht. Die Unter­stüt­zung radi­kaler oder extremer rechter Parteien ist also nicht – zwin­gend – Ausdruck einer ideo­lo­gi­schen Über­zeu­gung, sondern ein Denk­zettel für gemä­ßigte Kräfte, denen Versagen vorge­worfen wird. Ande­rer­seits bedarf es, wie Adorno in seinen Studien zum auto­ri­tären Charakter (1950) schrieb, einer „Dispo­si­tion …, faschis­ti­sche Ideen – bei entspre­chender Gele­gen­heit – spontan zu äußern oder sich von ihnen beein­flussen zu lassen.“ Diese „Dispo­si­tion“ wird durch Ideo­lo­gien, die sich im – vermeint­li­chen – Common Sense abge­la­gert haben, geprägt. Aller­dings sind die Ausgangs­lagen im Vergleich zwischen dem frühen 20. und dem frühen 21. Jahr­hun­dert doch sehr verschieden; histo­ri­sche Vergleiche zur Deutung der Gegen­wart über­haupt proble­ma­tisch. Dass aber berech­tigter wie auch unbe­rech­tigter Missmut zu „Denk­zet­tel­wahlen“ führt, scheint mir mit Blick auf Ostdeutsch­land schlüssig. Wie dem auch sei! Was fehlte denn in Ostdeutsch­land, um dem Raub­tier­ka­pi­ta­lismus entgegen zu treten?

AM: Im deut­schen Osten fehlten nach 1990 aus meiner Sicht zwei wesent­liche soziale Korrek­tive, die im „Westen“ immer dafür gesorgt haben, dass es der „Kapi­ta­lismus“ nicht zu arg trieb: Gewerk­schaften und Kirchen. Die Gewerk­schaften als verlän­gerter poli­ti­scher Arm der verhassten kommu­nis­ti­schen Staats­macht waren im Herbst 1989 massen­haft verlassen worden. Außerdem traten neuge­grün­dete ostdeut­sche Unter­nehmen nur in den seltensten Fällen einem Arbeit­ge­ber­ver­band bei. Die Folge: Tarif­lohn – Fehl­an­zeige! Die Löhne wurden dras­tisch nach unten gedrückt, die Arbeits­zeiten wurden hoch­ge­schraubt und kaum jemand wehrte sich, weil allen die Angst vor Entlas­sung im Nacken saß. Und das wach­sende Heer der Arbeits­losen war als Droh­ku­lisse perma­nent präsent, allen Kaschie­rungen durch „Umschu­lungen“ und „Fort­bil­dungen“ zum Trotz.

JS: Du hast neben den Gewerk­schaften auch die Kirchen angesprochen…

AM: Ja, das zweite gesell­schaft­liche Korrektiv, das in den Altbun­des­län­dern immer poli­tisch wirksam war – und es bis zum heutigen Tag ist –, führte im Osten eben­falls ein Schat­ten­da­sein, ein Dasein im Schatten des Systems. Ich glaube, wenn sich in der Altbun­des­re­pu­blik Unter­nehmer erlaubt hätten, was sie sich im Osten nach 1990 erlaubten, wären sie von der Kanzel herunter verdammt worden. Im Osten hingegen brauchte kein Unter­nehmer pasto­ralen Zorn zu befürchten – die Kirchen waren nahezu leer! Die Ossis waren massen­haft ausge­treten, um die Kirchen­steuer zu sparen, und eine christ­liche Tradi­tion hatten 40 Jahre athe­is­tisch ausge­rich­tete „kommu­nis­ti­sche Erzie­hung“ weitest­ge­hend ausgemerzt.

Die Politik der Enttäuschten

Arbeits­lo­sig­keit von Personen mit schu­li­scher oder betrieb­li­cher Ausbil­dung in Deutsch­land, 2017: Quelle: arbeitsagentur.de

JS: All das erklärt aber nicht, warum den Enttäuschten gerade rechte Posi­tionen so attraktiv erscheinen, sieht man einmal vom Verlangen nach Denk­zet­teln und Sünden­bö­cken ab. Mal ganz naiv gefragt, ich weiß natür­lich um die spezi­ellen Umstände im ehemals links­to­ta­litär regierten Ostdeutsch­land: Wäre es für die Arbei­te­rInnen nicht nahe­lie­gender, linke Parteien zu wählen? Soziale Gerech­tig­keit und Arbeit­neh­mer­schutz sind doch Kern­an­liegen der Linken. Die AfD hingegen ist eher unter­neh­mer­freund­lich aufge­stellt; ihre Kader sind geprägt von Gutver­die­nern und Akade­mi­kern der soge­nannten „Mitte“. Seltsam ist auch, dass die Wahl­er­folge der AfD im deut­schen Osten mit einer signi­fi­kanten Abnahme der Arbeits­lo­sig­keit eben­dort einher­gehen. Anfang 2017 las ich bei der Bundes­zen­trale für poli­ti­sche Bildung: „In Ostdeutsch­land ist die Arbeits­lo­sen­quote elf Jahre in Folge gefallen und hatte im Jahr 2016 mit 8,5 Prozent den nied­rigsten Wert seit der Wieder­ver­ei­ni­gung.“ Und erst seit 1998 wird im Osten rechter gewählt als im Westen. Wie geht das zusammen?

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AM: Als die Mauer 1990 fiel, lag die Arbeits­lo­sen­quote aber bei 0,0 Prozent! Und dass die Zahlen sich im Verlaufe der Jahre redu­zierten, hängt auch mit der Abwan­de­rung von Arbeits­kräften in die Altbun­des­länder, der extremen Auswei­tung des Nied­rig­lohn­sek­tors – z.B. im Bereich der Leih­ar­beit – und der Bereit­schaft vieler „Ossis“ zusammen, weit unter­halb ihrer Quali­fi­ka­tion zu arbeiten. Ich erin­nere mich z.B. an eine Inge­nieurin der platt­ge­machten säch­si­schen Textil­in­dus­trie, die als Sekre­tärin arbei­tete, und an einen meiner Möbelträger-Kollegen, der in der DDR Berg­bau­in­ge­nieur war. In meinem Studio hat sich damals auch eine vorma­lige DDR-Sportdozentin als Trai­nerin beworben…Viele Ossis haben sich so irgendwie über Wasser gehalten, ohne Arbeits­lo­sen­geld zu beziehen, aber inner­lich haben sie gekocht vor Wut! Von wegen „blühende Landschaften!“

JS: Was immer noch nicht zwangs­läufig zu einem Rechts­ruck führen muss. Die Rede von den „blühenden Land­schaften“ stammt doch von einem rechts­kon­ser­va­tiven Politiker!

AM: Dass es die poli­ti­sche Rechte und nicht etwa die poli­ti­sche Linke war, welche die Unzu­frie­den­heit mit den „arro­ganten Besser­wessis“ und der wach­senden Frus­tra­tion in poli­ti­sches Kapital ummünzen konnte, liegt aus meiner Sicht am poli­ti­schen Erbe der SED-Nachfolger als Sammel­be­cken für einer­seits altge­wor­dene „Beton­kom­mu­nisten“, die ihre poli­ti­sche Lebens­leis­tung nicht aufgeben wollen und heute noch die Berliner Mauer recht­fer­tigen, und ande­rer­seits an reform­wü­tigen, aber reali­täts­fernen Welt­ver­bes­se­rern, die am liebsten die „Kommune 1“ aufleben lassen und das Privat­ei­gentum völlig abschaffen wollen. Für die Masse der ostdeut­schen Bevöl­ke­rung ist das keine ernst­hafte gesell­schaft­liche Alter­na­tive. Als dann mit dem wach­senden Flücht­lings­strom über die deut­schen Grenzen hinweg die allge­meine Verun­si­che­rung der ostdeut­schen Bevöl­ke­rung ein unge­ahntes Ausmaß erreichte, gab es faktisch keine gesell­schaft­liche Kraft, die den massen­haft kursie­renden Gerüchten von der isla­mi­schen Über­frem­dung glaub­würdig Einhalt bieten konnte: Die Bundes­re­gie­rung als Verant­wort­liche für Massen­ar­beits­lo­sig­keit und Perspek­tiv­ver­lust war mora­lisch diskre­di­tiert, die linke Oppo­si­tion (Linke und Grüne) galt als Ansamm­lung von Traum­tän­zern und Altka­dern und die FDP als „Partei der Besser­ver­die­nenden“, die es am liebsten noch ärger treiben würden.

Trabi, blühend; Quelle: svz.de

JS: Die AfD hat also das Vakuum erkannt und stra­te­gisch geschickt ausgenutzt?

AM: Genau. Sie saugte faktisch alles auf, was die Altpar­teien liegen gelassen haben. Erstens die Zukunfts­angst der ostdeut­schen Mittel­ständler mit ihrem aussichtslos erschei­nenden Kampf gegen die Groß­in­dus­trie. Zwei­tens die Angst vor Krimi­na­lität in den verwahr­losten Neubau­sied­lungen, wo der Sozi­al­neid ohnehin schon längst fest verwur­zelt ist und mit der Ankunft der auslän­di­schen Konkur­renten um Sozi­al­leis­tungen eine unge­ahnte Blühte erlangte. Drit­tens die unge­bremst wuchernde Verschwö­rungs­lyrik, die Erklä­rungen liefert, wo öffentlich-rechtliche Medien als angeb­lich verlän­gerter Arm der Regie­rungs­ge­wal­tigen unglaub­würdig geworden sind. Legenden wie die der „Verschwö­rung der Weisen von Zion“ werden im deut­schen Osten längst von gebil­deten Mittel­ständ­lern kolpor­tiert – die aus ihrer Sympa­thie für die AfD keinerlei Hehl mehr machen. Und letzt­lich geht es auch um eine sympa­thi­sche Haltung zu Vladimir Putin, der den „US-amerikanischen Welt­po­li­zisten“ wacker Paroli bietet.

Mit Rechten reden

JS: Soweit die Diagnose – offen bleibt, was tun. Derzeit entspinnen sich kontro­verse, teils erbit­terte Debatten darüber, ob man „mit Rechten reden“ solle oder ob die Stra­tegie des „No Plat­forming“ ange­sagt ist. In ihrem Buch Mit Rechten reden (2017) schreiben Per Leo, Maxi­mi­lian Stein­beis und Daniel-Pascal Zorn: „Der Streit findet statt, direkt und indi­rekt, im Internet und im Freun­des­kreis, in Büchern und Zeitungen, in den Parla­menten und Univer­si­täten, auf Podien und in Talk­shows. […] Es geht schon lange nicht mehr um die Frage, ob wir mit den Rechten reden sollen, sondern allein darum, wie wir es tun.“ Würdest Du vor dem Hinter­grund Deiner Erfah­rungen zustimmen? Sollte man „mit Rechten reden“? Und falls ja, mit welchen Rechten? Rechte sind ja, genau wie Linke, kein einheit­li­cher Block.

AM: Ich meine: unbe­dingt! Nicht nur, weil diese in zahl­rei­chen Facetten ausge­prägte „rechte Gesin­nung“ viel­fach vor allem ohnmäch­tiger Protest gegen eine als Vernach­läs­si­gung wahr­ge­nom­mene Politik ist, sondern vor allem, weil es viel­fach gar nicht mehr anders geht: Rechtes Gedan­kengut wird im deut­schen Osten längst in Klas­sen­zim­mern, in Amts­stuben und Betriebs­kan­tinen disku­tiert! Es zu igno­rieren, käme aus meiner Sicht einer Kapi­tu­la­tion und dem Einge­ständnis von Hilf­lo­sig­keit gleich – falls es nicht sogar als still­schwei­gende Bestä­ti­gung wahr­ge­nommen wird.

JS: Es bleibt die Frage, wie das geschehen soll. Radi­kale und Extre­misten, ob auf der linken, auf der rechten oder der liber­tären Seite, nutzen das Gespräch, insbe­son­dere das öffent­liche, meist nicht für einen ratio­nalen Diskurs, sondern als – mitunter gut getarnte – Predi­ger­kanzel. Erschwe­rend kommt hinzu, dass gerade die Rechten in den letzten Jahren sehr viel gewitzter, raffi­nierter und stra­te­gisch klüger geworden sind, was ihre Predigten betrifft. Die Linke hat in dieser Hinsicht einiges aufzu­holen – es genügt nicht, gebets­müh­len­artig den Ignazio Silone zuge­schrieben Kalen­der­spruch „Wenn der Faschismus wieder­kehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus’. Nein, er wird sagen: ‚Ich bin der Anti­fa­schismus’“ zu wiederholen.

AM: Schwierig! Ich denke, man sollte vor allem die enorme Bedeu­tung der Medien nicht unter­schätzen. Im Osten ist die poli­ti­sche Lenkung des Fern­se­hens durch den Staat noch immer in unrühm­li­cher Erin­ne­rung. Wenn da, wie nach der Kölner Silves­ter­nacht 2015, auch nur der leiseste Verdacht aufkommt, dass das schon wieder so läuft, gehen sofort alle Warn­lampen an! Gleich­zeitig zeigt es die funda­men­tale Bedeu­tung der Massen­me­dien auf. Ich finde, genau dort gehört die Ausein­an­der­set­zung hin – und zwar ins öffentlich-rechtliche Fern­sehen und zur besten Sende­zeit, damit Berufs­tä­tige nicht zwischen Informations- und Schlaf­be­dürfnis hin- und herge­rissen sind. Die poli­ti­sche Debatte hat sich ohnehin längst vom Parla­ment in die Talk­shows verla­gert – sei’s drum! Und wer da meint, man böte der AfD dort nur ein Podium, der sei an Bertold Brecht erin­nert. Der empfahl der DDR-Regierung einst­mals unver­froren, sie könne sich doch ein anderes Volk wählen, wenn ihr das eigene nicht passe. Wer daran zwei­felt, dass die Öffent­lich­keit letzt­lich die rich­tigen Schluss­fol­ge­rungen aus einer öffent­li­chen Debatte zieht, der hat die Grund­idee der Demo­kratie inner­lich längst beer­digt und ist damit dem rechten Gedan­kengut viel­leicht näher, als er sich selbst einge­stehen will. Dem radikal linken übri­gens auch – narziss­ti­sche Selbst­über­hö­hung und Demo­kra­tie­ver­dros­sen­heit finden sich an beiden Rändern des poli­ti­schen Spektrums!

JS: Ich bin skep­tisch, was die Massen­me­dien betrifft – mir scheint eher, dass es bereits zu viele Talk­shows gibt, dass die Ausein­an­der­set­zung zum Spek­takel wird, dass eine Atem­lo­sig­keit in den Debatten herrscht, die es verun­mög­licht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und viele Menschen haben sich über ihre Time­lines in den Sozialen Netz­werken bereits ihre eigene (Gegen)Öffentlichkeit geschaffen. Aber das wäre ein anderes Thema.