Trauma ist zu einem geläufigen Begriff der Alltagssprache geworden. Was ist in Psychologie und Psychiatrie mit Trauma gemeint, und wie hat sich das Konzept historisch verändert? Gibt es Überschneidungen zwischen Fach- und Alltagssprache, und wie verhält es sich mit kulturellen Unterschieden?

Svenja Golter­mann: Andreas, Du bist Psycho­lo­gi­scher Psycho­the­ra­peut und Psych­iater und seit vielen Jahren sowohl thera­peu­tisch als auch forschend tätig, unter anderem im Feld der Post­trau­ma­ti­schen Belas­tungs­stö­rung (PTBS). Ehema­lige poli­ti­sche Inhaf­tierte der DDR, Kriegs­teil­nehmer des Zweiten Welt­kriegs und Schweizer Verding­kinder gehörten zu den Gruppen, mit denen Du Dich befasst hast, um die psychi­schen Auswir­kungen ihrer Erleb­nisse zu unter­su­chen. Nun ist heute in den Massen­me­dien sehr häufig von „Trauma“ die Rede – ob es nun um Kriege geht oder Unfälle, um sexu­ellen Miss­brauch, Schei­dung oder poli­ti­sche Nieder­lagen. Wie beur­teilst Du diese popu­läre Verwen­dung des Trauma-Begriffs und wie verhält sich Deine eigene Forschung dazu?

Andreas Maercker: Die Konjunktur des Begriffes entstand ja jenseits der betei­ligten Wissen­schaften, also in diesem Fall der Psycho­logie und Psych­ia­trie. Die Konjunktur beruhte auf medialen und kultu­rellen Einflüssen. Davon grenze ich den Fach­ge­brauch des Trauma-Begriffs ab, der in unseren Fächern viel enger gefasst ist. Wir spre­chen von Trauma, wenn es um Erleb­nisse von Todes­ge­fahr, Todes­angst, Lebens­ge­fahr und/oder sexua­li­sierte Gewalt geht. Also diese unfass­baren Erleb­nisse, die jemandem extrem nahe­gehen bezie­hungs­weise jemanden erheb­lich ernied­rigen, und einem Menschen dadurch eine psychi­sche Verlet­zung zufügen.

rela­tive Häufig­keit der Worte „trau­ma­tized“, „trau­ma­ti­siert“ und „trau­ma­tisé“ von 1800 bis 2000; Quelle: Google Books ngram viewer

SG: Ich würde da gerne noch einmal nach­fragen. Du sagst, die alltags­sprach­liche Rede vom Trauma entwi­ckelte sich jenseits vom Fach­ge­brauch des Trauma-Konzepts. Nun ist im deutsch­spra­chigen Raum jedoch recht auffällig, dass der Begriff Trauma erst relativ spät im 20. Jahr­hun­dert populär wird, genauer gesagt nach 1980, also nachdem die Diagnose PTBS in das offi­zi­elle Klas­si­fi­ka­ti­ons­system der American Psych­ia­tric Asso­cia­tion aufge­nommen worden war. Inso­fern frage ich mich, ob es da nicht einen Zusam­men­hang gibt. Gerade während der letzten 35 Jahre ist doch auch in der Psycho­logie und Psych­ia­trie das Phänomen zu beob­achten, dass die Diagnose eines Traumas immer häufiger gestellt wird, richtig?

AM: Ja, das ist so, und das Wech­sel­spiel zwischen dem engeren Fach­be­griff und dem weiteren Begriff beob­achte ich mit aller­größtem Inter­esse. Dabei spielen natür­lich der Zeit­geist, die Affi­nität für psycho­lo­gi­sche Begriffe und die allge­meine Psycho­lo­gi­sie­rung eine Rolle. Außerdem aber wird man, denke ich, einen weiteren Punkt berück­sich­tigen müssen: Das Phänomen, über das wir spre­chen, heißt ja Posttrau­ma­ti­sche Belas­tungs­stö­rung. „Trauma“ ist eigent­lich ein Begriff, der aus der Unfall­heil­kunde kommt und ursprüng­lich eine physi­sche Schä­di­gung oder Wunde bezeich­nete. Die Psy-Fächer haben diesen starken Begriff gewis­ser­maßen okku­piert, und für die Menschen war er zugäng­lich, weil man „Trauma“ als lang­wir­kende Wunde begreifen konnte, die weiter in der Seele schwärt. Inso­fern sehe natür­lich einen Zusam­men­hang zum Fach, wenn der Alltags­be­griff von Trauma besagt: mir ist eine Wunde zuge­fügt worden, ich bin Opfer geworden. Das wäre bei „Schock“ und bei „Stress“ nicht ganz so.

SG: Akzep­tanz ist ein wich­tiges Stich­wort. Bis weit ins 20. Jahr­hun­dert waren länger anhal­tende psychi­sche Beschwerden deut­lich stig­ma­ti­siert. Das hat sich in den letzten Jahr­zehnten stark geän­dert, jeden­falls dann, wenn es um Trauma geht. Der Arzt und Sozi­al­an­thro­po­loge Didier Fassin und der Psych­iater Richard Rechtman haben in diesem Zusam­men­hang eine inter­es­sante Über­le­gung entwi­ckelt. Sie argu­men­tieren, dass die PTBS etwas kate­go­rial Neues sei, weil die Diagnose davon ausgehe, dass allein ein äußeres Ereignis die Ursache für eine lang­wie­rige oder spät auftre­tende psychi­sche Schä­di­gung sein könne. Das gab es bei vorhe­rigen Konzepten, wie etwa der Neurose, nicht. Da spielten immer irgend­welche Dispo­si­tionen eine Rolle, also die Frage nach der „Persön­lich­keit“. Die PTBS aber ist rein ereig­nis­ge­bunden. Hat das einen de-stigmatisierenden Effekt?

AM: Das ist ein inter­es­santer Punkt. Tatsäch­lich handelte es sich um einen Para­dig­men­wechsel, etwas Äußeres als Ursache psychi­scher Störung anzu­er­kennen und die Betrof­fenen dadurch zu de-stigmatisieren. In der deut­schen Psych­ia­trie sind ereig­nis­be­dingte, reak­tive Verän­de­rungen zwar immer eine Denk­figur gewesen, aber man hatte dabei nur kürzere psychi­sche Verän­de­rungen im Blick. Aller­dings hängt der Para­dig­men­wechsel mit neueren kogni­tiven Gedächt­nis­theo­rien des Psycho­logen Chris Brewin und anderen zusammen, die besagen, dass ein äußer­li­ches Ereignis eine nach­hal­tige Gedächt­nis­stö­rung bewirken kann, und zwar auch ohne dass es eine Dispo­si­tion dafür geben muss. Dieser so plau­sibel gemachte Ereig­nis­bezug ist dann leider von breiten Kreisen, auch der Psy-Fächer, so verein­facht worden, dass sie im Grunde genommen nur noch das Ereignis und sein Ausmaß als voll deter­mi­nie­rend für das ansahen, was psychisch passierte. So kommt es zu Gutachten, die im Grunde genommen nur die Schwere des Ereig­nisses im Blick haben und nicht die Psyche untersuchen.

SG: Das Konzept der PTBS hat sich nach 1980 ja durchaus wieder verän­dert. Die Vorstel­lung, die es anfäng­lich gab, dass außer­ge­wöhn­lich belas­tende Ereig­nisse bei fast allen Menschen ein Trauma nach sich ziehen würden, hat sich bis heute ja nicht gehalten. Schon in den 90er Jahren waren viele Psych­iater und Psycho­logen vorsich­tiger geworden; sie gingen nicht mehr davon aus, dass Ereig­nisse wie Kriege oder sexu­eller Miss­brauch gewis­ser­maßen zwangs­läufig zu psychi­schen Schä­di­gungen führen würden. Siehst Du das auch so?

AM: Ich würde sogar sagen, die Idee, dass der Ereig­nis­bezug das Wich­tige ist, war immer die Sache der Verein­fa­cher. Zeit­gleich gab es immer auch eine andere Gruppe von Wissen­schaft­lern, wie dem ameri­ka­ni­schen Psycho­dy­na­miker Mardi Horo­witz und manchen anderen, für die es sehr span­nend ist, das zuge­hö­rige Symptom­muster zu unter­su­chen wie die Flash­backs in ihren verschie­denen Sinnes­qua­li­täten, die anhal­tend erhöhte Wach­sam­keit oder die hart­nä­ckigen Scham- und Schuld­ge­fühle der Betroffenen.

Kinder­zeich­nung aus dem Child Friendly Space in Boss­angoa, Zentral­afri­ka­ni­sche Repu­blik; Quelle: unicef.ca

SG: Wenn wir uns aber auf das Feld der huma­ni­tären Hilfe in den späten 90er Jahren begeben und anschauen, welche Programme inner­halb der UNO entwi­ckelt wurden, um in Kriegs- und Krisen­ge­bieten zu helfen, stoßen wir sehr häufig auf Ausfüh­rungen über PTBS und ihre Verbrei­tung. Es gibt Zahlen, die besagen, dass nach den Balkan­kriegen 70% der dort lebenden Menschen trau­ma­ti­siert gewesen seien. Es gibt Bürger­kriegs­länder in Afrika, für die der Prozent­satz noch viel höher ausge­wiesen wird, bis zu 95%. Wie kommen solche Zahlen zustande? Basieren sie darauf, dass man vom Ereignis ausgeht und ange­sichts seiner Grau­en­haf­tig­keit auf post­trau­ma­ti­sche Folgen schließt? Oder basieren solche immens hohen Zahlen tatsäch­lich auf Unter­su­chungen? Du sagtest ja, in der Forschung würde ein strenger Trauma-Begriff ange­legt. Trifft das vor diesem Hinter­grund eigent­lich zu?

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AM: Viele dieser Zahlen beruhen nicht auf seriöser wissen­schaft­li­cher Arbeit. Um das kurz zu erläu­tern: Wir machen Schät­zungen von soge­nannten Präva­lenzen anhand von Stich­proben, das können reprä­sen­ta­tive Stich­proben sein oder auch Zufalls­samples. Dazu gehören nicht die Studien, für die es das schöne Wort conve­ni­ence sample gibt: Das bedeutet, dass man beispiels­weise in Bosnien oder in einem Bürger­kriegs­ge­biet an eine Klinik heran­tritt und dort Pati­enten unter­sucht, weil sie schon in der Kartei dieser Einrich­tung sind. Oder man macht Ausschrei­bungen: Das lokale Hospital von Banja Luka sucht Menschen, die sich befragen lassen, und dann wird aus solchen Gele­gen­heits­samples eine Zahl von 60% oder 95% Pati­enten mit PTBS, so als ob dies für die Bevöl­ke­rung insge­samt zuträfe. Oder wir haben in Dresden in einer Studie mit ehema­ligen poli­ti­schen Inhaf­tierten geschrieben, dass 60% von ihnen irgend­wann einmal in ihrem Leben eine PTBS hatten, viele von ihnen aber inzwi­schen wieder remit­tiert sind. In der Presse stand das aber ganz anders: „60% traumatisiert!“

SG: Das heißt, an dieser Stelle kommt auch die Politik in Spiel?

AM: Ja, Politik, Öffent­lich­keit und mediale Mecha­nismen. So wurde in den USA lange darum gerungen, welche Prozent­zahl von Irak­kriegs­sol­daten eine PTBS hatten. Es gab sehr hohe Schät­zungen, die sofort von Medien und Inter­es­sen­ver­tre­tern aufge­griffen wurden, und es gab dann eine Berich­ti­gung nach unten, die kaum noch zur Kenntnis genommen wurde.

Gesine Krüger: Wenn man tatsäch­lich von einem strengen Trauma-Begriff ausgeht, also vor allem Todes­be­dro­hungen und sexua­li­sierte Gewalt als die Auslöser für PTBS betrachtet, dann basiert das ja nicht auf objek­tiven Daten, sondern es handelt sich um Fragen von Wahr­neh­mung – oder? Was bedroht mich tödlich, was ist sexua­li­sierte Gewalt? Wie geht man in der Forschung und natür­lich auch in der Therapie damit um, dass es sich hier um Vorstel­lungen handelt, die sich histo­risch und kultu­rell ganz unter­schied­lich entwi­ckelt haben?

AM: Uns wird immer mehr klar, was Wissen­schafts­his­to­riker ja schon länger gesagt haben, dass man über PTBS nur spre­chen kann, wenn man sich selbst als Indi­vi­duum, als auto­nomes, abgrenz­bares Subjekt wahr­nimmt. Dazu gehört auch die Sprache selbst, die Frage, wie in einer Kultur Empfin­dungen ausge­drückt werden. Wir machen gerade zwei ethno­gra­fi­sche Studien bei indi­genen Bevöl­ke­rungen, die über Trau­ma­kon­stel­la­tionen reden, dabei spre­chen sie aber eigent­lich über histo­ri­sche Trau­mata und kollek­tive Erleb­nisse. Sie reden über das Unrecht, das ihren Vorfahren oder ihnen selber zuge­fügt wurde.

GK: Aber kann das nicht mit dem Forschungs­set­ting zusam­men­hängen? Also wenn Fremde kommen, in offi­zi­ellem Auftrag, dann ist das natür­lich genau diese Sprache von histo­ri­schem Unrecht und dessen Wieder­gut­ma­chung, die inzwi­schen auch eine globa­li­sierte Währung geworden ist.

AM: Ja, wir haben aber versucht, diese Unter­su­chungen z.B. bei den Pita­guary in Nord­bra­si­lien so sensibel wie möglich zu machen. Dort hat ein Mitar­beiter Erhe­bungen gemacht, der brasilianisch-afrikanisch aussieht…

GK: Naja, aber die Leute wissen, dass jemand von der Regie­rung kommt, egal ob hell oder dunkel oder…

AM: … trotzdem, wenn man wirk­lich fragt, was sind die großen Wider­nisse, dann kommen diese Dinge: Was wurde uns wegge­nommen? Und:  Die und jene sind nicht zurück­ge­kommen, nachdem sie einge­sperrt wurden. Dabei zeigt sich ganz stark, dass es immer um Ange­le­gen­heiten geht, die man gemeinsam erlebt hat. Wir nutzen natür­lich auch die Ergeb­nisse, die andere Leute heraus­be­kommen haben. Und ja, sexua­li­sierte Gewalt gibt es wahr­schein­lich in ganz vielen Kulturen; sie ist aber oft noch mit einem Tabu belegt, und zudem tritt sie in sehr verschie­denen Formen auf; darüber erfahren wir von außen eher nichts.

GK: Das hat sich aber auch bei uns rasant geän­dert. Ich möchte noch einmal kurz nach­fragen: Also ihr arbeitet mit Ethno­logen zusammen und…

AM: Ja, mit jenen, die zu diesen Völkern schon lange Kontakt hatten und auch mit Lingu­isten aus diesen Ländern, weil wir uns für die Wörter und Meta­phern, die es alter­nativ zu Trauma und Wunde gibt, interessieren.

SG: Es gibt ja eine Kritik am Trauma-Konzept der PTBS, die geltend macht, dass es sich um ein sehr west­li­ches Konzept handelt mit sehr spezi­fi­schen Vorstel­lungen vom Indi­vi­duum und der Psyche, das man im Grunde über­haupt nicht in alle Welt­ge­genden über­tragen könne, weil es gar nicht überall greife. Das zu über­gehen, sei schon fast ein kultur­im­pe­ria­lis­ti­scher Akt, weil nur ein ganz spezi­fi­sches Schema an Fragen und Inter­pre­ta­tionen ange­wendet würde. Einer­seits kann man das nicht ganz von der Hand weisen; gleich­zeitig aber ist diese Kritik in meinen Augen auch nicht ganz unpro­ble­ma­tisch, weil sie – zuge­spitzt – auf die Annahme hinaus­laufen könnte, dass Menschen unter­schied­lich ‚trau­ma­an­fällig’ sind. Gibt es sozu­sagen in sich abge­schlos­sene Kulturen, die auf Gewalt­ein­wir­kung ganz anders reagieren?

AM: Absolut! Aller­dings ist dieses Themen­feld äußerst komplex, deshalb aber auch äußerst inter­es­sant, gerade weil es gegen­wärtig noch keine eindeu­tigen Antworten gibt. Wir müssen unbe­dingt heraus aus der Dicho­tomie von Univer­sa­lismus oder Rela­ti­vismus der Traum­are­ak­tion, weil beides seine Untiefen hat. Die Lösung muss dazwi­schen­liegen, weil sich psychi­sche Trauma-Folgen in anderen Welt­re­gionen anders konstel­lieren als wir das aus der west­li­chen Welt kennen. Da kommt viel mehr Körper­be­zo­genes hinein, da spielt neben dem Gedächtnis auch noch die Bewusst­seins­in­te­gra­tion eine Rolle mit ihren anderen Symptom­be­rei­chen hinein, insbe­son­dere den disso­zia­tiven Symptomen wie Bewegungs- und Empfin­dungs­stö­rungen. Auf der anderen Seite bin ich fest davon über­zeugt, dass auch in anderen Welt­re­gionen eine nicht-verbalisierte, nicht-reflektierte schwere psychi­sche Trau­ma­folge häufig dazu führt, dass Menschen sich suizi­dieren oder früh sterben.

„Here we heal trauma“: Behand­lungs­sta­tion der Trauma Healing and Recon­ci­lia­tion Services (THARS) in Burundi: Quelle: thars.org

GK: Wenn Du sagst, dass sowohl ein univer­sa­lis­ti­scher als auch ein rela­ti­vis­ti­scher Ansatz Untiefen hat, dann kommt in beiden Fälle noch der Aspekt der Über­set­zung hinzu. Wenn wir von indi­vi­du­ellen und kultu­rellen Vorstel­lungen von Soma, Psyche, Seele usw. spre­chen, ist das ja immer schon eine Über­set­zung, bei der unsere eigenen Vorstel­lungen hinein­kommen. Viel­leicht kann ein Ausweg aus diesem Dilemma – entweder sind wir alle gleich oder es ist eben alles relativ – in der Praxis liegen. Ich meine damit, dass man in der Fremde gewon­nene Erkennt­nisse auf die eigene Gesell­schaft über­trägt und dann plötz­lich merkt, dass man etwas, was einem früher fremd vorkam, nur in der eigenen Gesell­schaft vorher gar nicht gesehen hat. Und umge­kehrt. Ich habe z.B. in einem Artikel über ein Zentrum für trau­ma­ti­sierte afri­ka­ni­sche Frauen gelesen, sie kämen aus einer ganz „anderen Kultur“, sie duschten nach einer Verge­wal­ti­gung stun­den­lang. Aber das hat doch über­haupt nichts mit Afrika zu tun. Kann nicht die Erkenntnis, die man aus diesen Aporien, aus dieser Span­nung von Univer­sa­lismus und Rela­ti­vismus oder Parti­ku­la­rismus gewinnt, auch gewinn­brin­gend in der Theo­rie­bil­dung und in der Praxis der eigenen Gesell­schaften sein?

AM: In der Tat, das ist genau der Punkt, an dem wir jetzt in der eigenen Arbeit stehen. Ich nenne ein Beispiel: Wir haben in anderen Kulturen, die wir gerade unter­sucht haben, heraus­ge­funden, dass sich Trau­mata immer nur in Zusam­men­hang mit anderen Menschen entwi­ckeln oder mildern. Bei uns ist das eine verlo­ren­ge­gan­gene Perspek­tive. Doch niemand wird eine post­trau­ma­ti­sche Anfangs­sym­pto­matik ganz für sich alleine über­stehen können; dazu gehören immer Andere. Und wenn man die nicht hat, beispiels­weise wenn man im Gefängnis ist, dann muss man sich die Anderen imagi­nieren. Inso­fern wies diese Forschung in Brasilen und Indien stark auf etwas hin, was in der west­li­chen Kultur kaum bekannt war und jetzt als evident gelten kann, dass nämlich der wich­tigste soge­nannte aufrecht­erhal­tende Faktor bei einer PTBS das Ausmaß sozialer Unter­stüt­zung ist.

SG und GK: Andreas, wir danken Dir für das Gespräch!