
Die revolutionäre Bewegung „Frau Leben Freiheit“ im Iran ist nur wenige Tage alt, als eine Frau in der iranischen Stadt Kerman ohne Kopftuch auf einem Kasten sitzt. In einem Instagram-Video des Dokumentationsnetzwerkes 1500tasvir vom 20. September 2022 sieht man, wie sie in der rechten Hand eine Schere über ihren Kopf hält und in der linken ihren Haarschopf. Die Menge schaut zu ihr auf, klatscht und ruft: „Tod dem Diktator!“ Die Frau beginnt, sich die Haare abzuschneiden und kommt ins Stocken. Nun eilt ihr ein junger Mann zu Hilfe. „Ehrenvoll, ehrenvoll!“, feuert die Menge ihn an; auch die Frau klatscht in die Hände. Nachdem der Zopf abgeschnitten ist, streckt die Frau rhythmisch ihre Faust in die Höhe, der junge Mann die Schere. Man versteht sofort: Was hier geschieht, ist ein Akt der Rebellion, ein Triumph. Die Menge feiert den abgeschnittenen Zopf mit Rufen, Klatschen und geschwungenen Fäusten. Sie wirkt vereint: in der Solidarität mit der Frau und dem jungen Mann, der sie unterstützte, und im Affekt der Begeisterung über die Tat.
Ein bemerkenswerter Vorgang mit ungewöhnlichen Emotionen könnte man denken, wenn man berücksichtigt, dass das Abschneiden der Haare eine Geste ist, die sonst auf Friedhöfen von Menschen im tiefen Schmerz ausgeführt wird, an Gräbern, bei Bestattungen. Sie ist im iranischen Nationalepos Shahnameh des persischen Dichters Abū ʾl-Qāsim Firdausī als Trauerhandlung erwähnt und im Iran – und nicht nur dort – u.a. bei den Trauerzeremonien der Volksgruppen der Kurden und der Luren verbreitet. Wie kommt es, dass aus einer Trauergeste eine Protesthandlung wird? Was sagt das über Absichten und Werte dieser Bewegung?
Eine Trauergeste – Symbol einer Revolution

@1500tasvir/Instagram: Die Tochter von Minoo Majidi, die bei Protesten in Kermanshah erschossen wurde, am Grab ihrer Mutter. Sie hält ihr abgeschnittenes Haar in der Hand.
Die Bewegung „Frau Leben Freiheit“ wurde in Tod und Trauer begründet. Seit der Ermordung der iranischen Kurdin Jina („Mahsa“ lautet ihr Passname) Amini im Gewahrsam der Sittenpolizei, kämpft sie für einen Sturz der islamischen Republik. Wie jede revolutionäre Bewegung will sie mit der politischen auch die symbolische Ordnung verändern. Das zeigen ikonoklastische Akte, mit denen Denkmäler und Banner der Helden und Führer der islamischen Republik zerstört werden – und die gleichzeitige Zirkulation neuer Symbole, die die Ziele und Werte der Bewegung versinnbildlichen. Darunter ist auch die von Frauen durchgeführte Trauergeste des Haareabschneidens; die mittlerweile ikonisch geworden ist. Innerhalb weniger Tage nach der Nachricht vom Tod Jina Aminis am 16. September 2022 wurde die Geste zum Protestsymbol und ist seither im In- und Ausland zu sehen: in Selfie-Videos in sozialen Netzwerken, als Symbol auf aktivistischen Plattformen und Profilen, bei Protestveranstaltungen und nicht zuletzt als Solidaritätsgeste von Politiker*innen und Prominenten weltweit.
Eine Trauergeste wurde zum Symbol des revolutionären Widerstands, denn die Staatsmacht der islamischen Republik erlaubt nicht jedem Toten, betrauert zu werden. Trauer ist die Anerkennung des Todes und damit des Lebens – einer der Begriffe im Leitspruch „Frau Leben Freiheit“. Wo nicht jedes Leben betrauert und nicht jeder Tod öffentlich bezeugt werden darf, nicht jedes Leben als gelebt anerkannt wird, wird Trauer zum Widerstand, zum Akt der Rebellion: gegen den Tod und für das Leben.
Politik des Todes
Dass die islamische Republik nicht jedes Leben als Leben anerkennt, zeigt sich an ihrer Politik des Todes. Die Souveränität der islamischen Republik besteht nicht allein – mit Foucault gedacht – in der Macht, „sterben zu machen oder leben zu lassen“. Souverän ist, wer auch darüber entscheidet, welche Tote tot sein dürfen – das heißt im Umkehrschluss: wer gelebt haben durfte. Die Politik des Todes organisiert das Töten und reguliert das Tod-Sein gleichermaßen. Konkret heißt das für das staatliche Handeln in der islamischen Republik: Leichname von getöteten Oppositionellen und Andersdenkenden nicht an die Angehörigen herauszugeben (oder, es zu verzögern), Leichen verschwinden zu lassen, sie zu verbrennen oder anonym zu begraben, Trauerzeremonien zu verbieten oder zu behindern, Gräber mit Bulldozern zu zerstören, eilige Nachtbestattungen zu erzwingen oder sie selbst durchzuführen.
Die islamische Republik wendet diese Machttechnik seit Beginn ihrer Geschichte an: von den Massenexekutionen von politischen Gefangenen, die 1981 begannen und 1988 ihren Höhepunkt erreichten – sie hinterließen Massengräber, die teilweise zu Müllhalden umfunktioniert und betoniert wurden, u.a. um Familienmitglieder daran zu hindern, nach den Körpern ihrer Toten zu suchen – bis hin zu den jüngsten staatlichen Leichendiebstählen, indem die toten Körper von Protestierenden aus Krankenhäusern und Krematorien entwendet werden, um sie anonym oder heimlich zu bestatten.
Die Logik der Politik des Todes besteht darin, auf den physischen Tod den sozialen Tod folgen zu lassen. Indem Trauer ver- oder behindert wird, greift das Regime in das affektive und soziale Netz ein, in die der Tote eingebettet ist, d.h. in die Bindung anderer an ihn. Denn der Tod als physische Tatsache wird von sozialen Akten gerahmt, um anerkannt zu sein, wie die Philosophin Ege Selin Islekel schreibt: „[L]ike the precarity of life that demands its apprehension as life in order for such life to be grievable, death is also not a natural category, and instead is one that is bound up with its […] recognition as death“. Wie das Leben in der Geburt gesellschaftlich erfasst und somit als solches von der Gemeinschaft bezeugt wird, wird auch der Tod in Dokumenten, Emotionen und Symbolen der Trauer sowie in Zeremonien hergestellt und gewürdigt – und damit sein inhärenter Gegenpol bestätigt: das Leben.
Öffentliche Affekte der Trauer bezeugen: Dieser Mensch stand in Beziehung zu anderen, die in seinem Verlust auch sein Leben bezeugen. Sich die Haare in Trauer abzuschneiden, bedeutet, mit dem Tod des anderen ein Stück seiner selbst, seines eigenen Körpers zu verlieren. Wer aber nicht betrauert werden darf, wer nicht offiziell tot sein darf, soll nie gelebt haben und kein Mensch unter Menschen gewesen sein.
Der Friedhof – Ort der Mobilisierung
Auch Jina Amini wollten die Behörden eilig des Nachts begraben. Ihre Familie verhinderte es. Sie blockierte den Krankenwagen, in dem ihr Leichnam lag. Ihre Bestattungsfeier auf dem Aichi-Friedhof von Saqqez in der Provinz Kurdistan entwickelte sich zu einem Anti-Regime-Massenprotest, auf dem die Trauergemeinde „Tod dem Diktator“ und „Unser dummer Führer, unsere Schande“ rief; einige Frauen legten ihre Kopftücher ab. Die Bestattung mobilisierte zum Aufstand.
Die Anerkennung des Verlustes ihres natürlichen Körpers brachte Jina Amini als politischen „Körper“ hervor, der über den Tod hinaus wirksam ist. „Liebe Jina. Du stirbst nicht. Aus deinem Namen wird ein Symbol werden“, stand auf ihrem ersten Grabstein. Es sollte so kommen. In ihrer Abwesenheit entfaltet Jina Amini politische agency. Ihr Bild ist zur Referenz eines Protestes für das Leben, der Hashtag ihres Namens zum Schlagwort einer revolutionären Bewegung geworden. Die Todespolitik der islamischen Republik ist gescheitert, die Absicht, diese Tote noch einmal zu töten, wurde verfehlt. Es konnte nicht verhindert werden, dass aus dem toten Körper ein symbolisch-politischer wurde, der im Tod „nicht stirbt“, sondern aus dem Grab heraus Menschen affiziert und im politischen Prozess wirksam ist.
Trauer und Vulnerabilität
Was ist es an der Trauer, dass sie Menschen zu Protest bewegen und vereinen kann? In welchem Verhältnis Trauer zum Sozialen steht, hat die feministische Philosophie am Begriff der Vulnerabilität aufgefächert. In dem Essayband „Gefährdetes Leben“ beschreibt Judith Butler Menschen als „sozial verfasste Körper“, die an andere gebunden und stets gefährdet seien, diese Bindung zu verlieren. Dass sie von Aufmerksamkeit und Zuwendung abhängig sind, dass sie verletzten und verletzt werden können, dass sie laut Butler von „Selbstbehauptung und Ungeschütztheit“ charakterisiert und für andere sichtbar sind, sei ihrer körperlichen Existenz eingeschrieben. Die Autonomie des Menschen hat ihre Grenze in dieser Vulnerabilität. In der Trauer drückt sie sich affektiv aus.
Der Schmerz eines Verlustes zeigt, dass das Selbst vom Anderen abhängig ist, das „Du“ Teil des „Ich“ ist. Trauer bringt, schreibt Butler, „die Beziehungsbande zum Vorschein“ und ein „Gefühl für politische Gemeinschaft einer komplexeren Ordnung“. Indem sie also auf unsere ontologische Verstricktheit verweist, legt sie ein „wir“ offen. Trauer ist, könnte man folgern und weiterdenken, eine Praxis der Verbundenheit, die sich in Beistand, Protest und anderen Formen der Vergemeinschaftung artikulieren kann.
Trauer als Widerstand
Schon, dass nicht jedes Leben betrauert wird, zeigt, dass Trauer politisch ist. Weil nach Butler „bestimmte Formen der Trauer nationale Anerkennung und Überhöhung erhalten, wohingegen andere Verluste zu etwas Undenkbarem und Trauerunwürdigem werden“, unterscheidet sie zwischen betrauernswürdigem und betrauernsunwürdigem Leben. In politischen Systemen wie der islamischen Republik wird ein offizieller Trauerkult wie der für die „Märtyrer“ der islamischen Republik, z.B. den ehemaligen Kommandeur der Quds-Brigaden, Qassem Soleimani, von der Praxis einer staatlichen Todespolitik flankiert, die andere Leben für unwürdig erklärt, betrauert zu werden.
In einem solchen Regime ist es Widerstand, trotzdem Trauer zu zeigen und sich, wie die Frau in dem Video von dem Protest in Kerman, öffentlich die Haare zu schneiden. Und mehr noch: Es ist eine solidarische Protestpraxis, die als unideologische Geste der Hinwendung zum anderen das Leben selbst meint und daher Menschen verbindet. Als Protestform und revolutionäres Symbol macht die Trauergeste nicht nur gegen die Todespolitik der islamischen Republik mobil, sondern bringt Verbundenheit, Achtung von Vulnerabilität und Anerkennung des Lebens als politische Werte in Zirkulation.
Das ist für mich, als Mann, aufrüttelnd und verstörend. Zweifellos stärkt Trauer die innere Verbindung des Widerstands. Kann sie eine eigenständige revolutionäre Kraft gegen das iranische Regime sein? Ein fundamentalistisches Männerregime, dass alle militärischen Unterdrückungsoptionen in der Hand hat? Der Verweis auf Butler erscheint mir als überhöhende Asthetisierung femininer Möglichkeiten gegen organisierte Männergewalt. Die letzten Meldungen aus dem Iran lassen mich fragen: Entweder hilft das „Ausland“, die islamistische Männergewalt zu stürzen. Wenn nicht wird nur iranische Oppositionsgewalt helfen können. Wo sind da die Männer? Lassen sie die Frauen im Stich?