In einem politischen Klima, in dem offener Rassismus zur offiziellen Politik des Weißen Hauses gehört, in einem Ausmaß, das selbst unter Präsidenten wie Reagan und Bush Senior und Junior undenkbar gewesen wäre, könnte eine Geschichte wie die von Rachel Dolozel einen befreienden Charakter haben. Eine weisse Frau deklariert sich freiwillig als Schwarze und kämpft gegen Rassendiskriminierung und Rassenhass. Aber es ist und bleibt eine traurige Episode, die mehr über ein Einzelschicksal verrät als über kreativen Antirassismus, wie man zunächst noch meinen konnte. Das liegt unter anderem daran, weil Rachel Dolezal nicht verstanden hat, was es mit dem Konstruktionscharakter von Rasse – oder Geschlecht – eigentlich auf sich hat. Sie hat dies ebenso wenig verstanden, wie die hämischen Kommentatoren, die nach Trumps Wahlsieg umgehend der „kulturwissenschaftlichen Linken“ (M. Hampe) den postfaktischen Spiegel vorhalten wollten, nach dem Motto: Wie kann man Lügen und alternative Fakten geißeln, wenn man selbst alles für konstruiert hält?

Rachel Dolezal; Quelle. independent.co.uk
Tatsächlich scheinen sich einige Grenzen zu verwischen, seit man nach dem Wahltag aufstand, sich die Augen rieb und dachte, das kann doch wohl alles nicht wahr sein. Plötzlich stellen Rechtspopulisten „das System“ in Frage, rufen zur Revolution auf und pochen auf Alternativen gegenüber dem Establishment. Zurück bleibt – angeblich – eine mehr oder weniger verwirrte Linke, die hilflos weiter ihr Spiel mit politischer Korrektheit und multiplen Identitäten treibt, als deren Höhepunkt nun Rachel Dolezals Kampf für ihre Anerkennung als transracial person gelten könnte. Die Diagnose allerdings, dass linke Theorie und Praxis gründlich und nachhaltig versagt hätten, kam wohl etwas zu früh angesichts von Frauenmärschen und weltweiten Protesten gegen den Rechtspopulismus. Und Rachel Dolezal bleibt ein Beispiel für ein grundlegendes Missverständnis darüber, was die Erkenntnis bedeutet, dass Rasse ein Konstrukt ist. Die Kritik essentialistischer Behauptungen geht nämlich keineswegs mit der Leugnung historischer Tatsachen einher, auch wenn das immer wieder gern behauptet wird, sondern richtet sich gegen die Vorstellung, die Welt, die Realität sei voraussetzungslos gegeben.
Black als politisches Konzept

Ina Ray Hutton (1916-1984): „a ‚blonde bombshell‘ with a secret: she was black“; Quelle: chicago.suntimes.com
Racial passing, der Wechsel von einer rassischen Kategorie in eine andere, hat in ehemaligen Siedlergesellschaften wie den USA und Südafrika eine lange Geschichte. Üblicherweise erfolgte das Passing jedoch von schwarz zu weiß, um die eigenen Lebenschancen und die der Kinder zu verbessern, und nicht in umgekehrte Richtung von weiß zu schwarz. Die Praxis des Passing war für Menschen mit heller Hautfarbe möglich, weil rassische Zuordnungen eben keinesfalls eindeutig sind, sondern immer etwas mit sozialer Praxis und politischen Verhandlungen zu tun haben und nicht nur mit physischen Merkmalen.
Als in den 1980er Jahren in Südafrika „black“ zu einem politischen Kampfbegriff wurde, zu einer Selbstbezeichnung im Antiapartheidkampf, die sich gegen die absurden rassischen Einteilungen der Bevölkerung in drei, später vier Haupt- und zahlreiche Nebengruppen richtete, schloss dieses politische Schwarzsein die weiße Bevölkerung aus. Weiße Aktivistinnen und Aktivisten durften sich nicht als black bezeichnen, denn ihnen fehlte die alltäglich Erfahrung, der jeder als black, coloured, indian, asian, mixed oder other klassifizierte Mensch in Südafrika ausgesetzt war: die Klassifikation bestimmte den Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem, den Platz im Bus und auf der Parkbank und selbst die Qualität des Essens im Gefängnis. Jeder zerlumpte weiße Bettler, jeder Hilfsarbeiter, der als weiß klassifiziert war, konnte sich „schwarzen“ Geschäftsfrauen und Universitätsabsolventen überlegen fühlen und besaß faktisch Privilegien und politische Rechte, die diesen verwehrt blieben.
In den offiziellen juristischen und soziologischen Definitionen wurde niemals allein die Biologie als Grundlage von Rasse bemüht. Im Gegenteil: es gab selbst im starren System der Apartheid regelmäßig Umklassifikationen, wöchentlich in den Zeitungen bekannt gegeben, aber dies stellte das rassistische System insgesamt nicht in Frage, sondern zementierte es eher. Rasse als Herrschaftsinstrument basierte auf einer komplexen Mischung von Herkunft, Ansehen, Verhalten, Status, Zuschreibungen und Selbstbeschreibungen. Und so war es auch möglich, Irrtümer und Uneindeutigkeiten zuzugeben und umgehend zu beseitigten, nachdem mit dem Population Registration Act von 1950 die rassische Klassifikation aller Einwohnerinnen und Einwohner Südafrikas eingeführt worden war. Es ist ja das Perfide an der rassistischen Ideologie, dass sie die Biologie gar nicht braucht, und wie jede Ideologie prächtig mit Widersprüchen leben kann.
Der Konstruktionscharakter von „Rasse“ gehört also zum Herrschaftswissen jeder rassistischen Gesellschaft, wie nicht nur das südafrikanische Beispiel zeigt, und daher sind Hinweise auf biologische und genetische Erkenntnisse darüber, dass menschliche Rassen nicht existieren, auch so wenig wirksam. Vor diesem Hintergrund ist Rachel Dolezals eigenmächtige Umklassifizierung weniger ein Akt der Kritik, als vielmehr eine unrechtmäßige Aneignung historischer Erfahrung.
„Race“ in den USA
In den USA herrscht zwar keine offizielle Apartheid bzw. Rassensegregation mehr, aber Rasse ist eine alltägliche Realität und existiert auch als administrative Kategorie weiter fort. In der heutigen Behördensprache der USA gilt race allerdings auch nicht als naturwissenschaftliche Tatsache, sondern beschreibt, ähnlich wie in Südafrika, eine Mischung von familiärer Herkunft und sozialer Praxis sowie kultureller Selbst- und Fremdzuschreibung – race ist also ein Konstrukt, das aber eben sehr reale Auswirkungen hat und auf lebenslangen Erfahrungen basiert, die man sich nicht aussuchen kann. Konstruktion bedeutet ja nicht Willkür, und etwas als „konstruiert“ zu analysieren, also zu erkennen, dass die Generierung von Wissen historischen und kulturellen Voraussetzungen unterliegt und Tatsachen auch „gemacht“ sind, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass Lügen Wahrheit sind oder eine konstruierte Kategorie wie Rasse keine Realität besitzen würde.
Dolezal zementiert mit ihrem Passing eher rassische Kategorien, als diese aufzuheben, denn sie hat sich mit ihrer Autobiografie eine Geschichte von Missbrauch und Diskriminierung zurechtgelegt, die klassischen weißen Stereotypen über schwarzes Familienleben entspricht (mit einigen kuriosen native american indian Einsprengseln, wie ihrem angeblichen Leben als Kind in einem Tipi). So sei sie in einer Atmosphäre von Missbrauch aufgewachsen und später von ihrem Ehemann geschlagen worden, und hätte sich dann als single mom tapfer durchgebracht, bis sie schliesslich als Bürgerrechtlerin und Dozentin für African American Studies Erfolg hatte.

Rachel Dolezal an einer Modeschau; Quelle: .thebritishblacklist.com
So sieht Osamudia James, Professorin an der juristischen Fakultät der Universität Miami, Rachel Dolezals Auftreten denn auch in der Tradition des Black Facing, als eine Kostümierung mit Dreadlooks, knallig lackierten Fingernägeln und auffälligem Schmuck. Sie schreibt: “Not every black person has grown up poor, witnessed a cross burning, or actively joined (much less headed) a civil rights organization. Rather, the experience of blackness more often includes subtle, but more indelible, phenomena”. Dazu gehörten die rassistischen Narrative von schwarzer Inferiorität (während Rachel Dolezal als weißes Kind ja genau die umgekehrten Geschichten fragloser weißer Überlegenheit gehört haben dürfte), Frustrationen darüber, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, in der Zusammenhänge weißer Überlegenheit mit Gender- und Klassenfragen nicht auf dem Lehrplan stünden, aber auch die Arbeit und Sorge schwarzer „caregivers“, die den ihnen anvertrauten Kindern Stärke und Stolz, trotz aller Kämpfe in einer nach wie vor rassistischen Gesellschaft vermitteln würden.
Schwarz zu sein, so James, sei eben auch das Resultat einer intergenerationellen alltägliche Erfahrung und eines historischen Kampfes gegen Diskriminierung, der neben Leid auch Stolz und wertvolle kulturelle und intellektuelle Errungenschaften hervorgebracht hat. Diese Geschichte kann man sich nicht durch einen Willensakt aneignen und diese Erfahrung hat wenig mit dem Aussehen zu tun. Und während sich Rachel Dolezal einerseits, vielleicht solidarisch, mit einer immer noch marginalisierten Gruppe identifizierte, benutzte sie andererseits ihre neu erworbene Identität, um Status zu gewinnen – schließlich war sie keine einfaches Mitglied der NAACP in Spokane (WA), sondern deren Vorsitzende.
„Rasse“ als Schicksal
Da Rachel Dolezal nicht mehr behaupten kann, sie hätte einen schwarzen Vater, da ihr also genau die familiären, intergenerationellen Erfahrungen fehlen, von denen Osamudia James spricht, beansprucht sie nun, bereits als kleines Kind „gespürt“ zu haben, dass sie schwarz sei. Sie habe ihr Gesicht in Kinderzeichnungen mit einem braunen Stift gemalt – vielleicht nicht besonders überraschend, hatte sie doch zwei schwarze Adoptivbrüder – und mit schwarzen Puppen gespielt. Als wäre es irgendwie „unnatürlich“ wenn „normale“ weiße Kinder mit schwarzen Puppen spielen. Ihr Schwarzsein ist also kein bewusster Akt der Emanzipation oder eine politische Performance in einem immer noch rassistischen System, sondern reicht in eine tragische Kindheit zurück und wird zum Schicksal. Sie sei eine transracial person, so Rachel Dolezal aka Nkeschi Diallo (der Name vereint gleich mehrere afrikanische Sprachen), im falschen Körper geboren und, analog zu Menschen, die ihr Geschlecht wechseln, dazu berechtigt, ihre „Rasse“ zu wechseln. An ihren Lügen über ihre Herkunft, ihre Familie und ihre Erfahrungen als schwarzes Kind und schwarze Frau ändert diese neue Argumentation nichts. Auch wenn Rasse eine Fiktion ist, so ist sie doch „reale Fiktion“ und unterliegt nicht einer individuellen Wahl. Allerdings fühlt sie sich jetzt als transracial person aktuell diskriminiert und hat damit ihre Geschichte und ihre neue Identität synchronisiert. Doch verdeckt und negiert nicht diese als Einzelschicksal deklarierte Erfahrung die Herrschaftsstrukturen und Diskriminierungserfahrungen, die „black“ als soziale Kategorie erst hervorbringen?