Autoritäre Regime und rechtspopulistische Parteien reklamieren öffentlich für sich, alleinige Vertreter der Tradition zu sein. Diese dogmatische Setzung dient vor allem dem Gewinn und der Konsolidierung politischer Macht. Eine zukunftsgerichtete Politik hingegen wird mit dem Beschwören von "Tradition" verhindert.

  • Oliver Weber

    Oliver Weber studiert Demokratiewissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Philosophie in Regensburg und ist als politischer Autor tätig.

In turbu­lenten Zeiten ist der Rück­griff auf die Vergan­gen­heit beson­ders attraktiv. Die Gegen­wart zeigt immer in tausend verschie­dene Rich­tungen, deren Ziele weit­ge­hend unbe­kannt sind. Wege gibt es immer nach über­allhin. Wer weiß, wie wir in zwanzig Jahren leben? Künst­liche Intel­li­genz, Medi­en­wandel, multi­kul­tu­relle Gesell­schaft, Globa­li­sie­rung –das sind Schlag­worte, die nichts Genaues bezeichnen, sondern die grund­sätz­liche Offen­heit der Gegen­wart zu bändigen versu­chen. Wohin der Weg tatsäch­lich führt, muss die Zeit uns zeigen.

Die Vergan­gen­heit erscheint demge­gen­über als ein sicherer Hafen. Sie ist abge­schlossen, und als solche können wir sie schätzen, verehren, aber auch kriti­sieren – oder einfach vergessen. Weil wir uns auf unter­schied­liche Weise zu ihr verhalten können, unter­liegt sie auch dem poli­ti­schen Streit. Ein mögli­cher Vergan­gen­heits­bezug erfolgt dabei im Modus der Tradi­tion. Sie dient als Chiffre des Stabilen, indem sie eine schein­bare oder tatsäch­liche Konti­nuität zur Vergan­gen­heit herstellt. Eric Hobs­bawm und Terence Ranger zeigten in ihrem inzwi­schen 35 Jahre alten Klas­siker The Inven­tion of Tradi­tion, dass moderne Gesell­schaften „Tradi­tionen“ nicht selten rich­tig­ge­hend erfinden, dass mithin Tradi­ti­ons­be­züge nicht nur für „tradi­tio­nale Gemein­schaften“ typisch sind. Gerade in Zeiten schnellen sozialen Wandels hatte und hat das Erfinden von Tradi­tionen Konjunktur, um sich verän­derte Lebens­welten anzu­eignen und ihnen einen Sinn zu geben.

Tradi­ti­ons­po­litik als Mittel auto­ri­tärer Regierungen

In auto­ri­tären Staaten kommt der Suche nach Tradi­tionen eine beson­ders wich­tige Bedeu­tung zu – auch in unseren Tagen. Staat­liche Geschichts­po­litik soll dort den Macht­er­halt sichern, indem die eigene Herr­schaft auf angeb­liche „Ursprünge“ und Abstam­mungs­li­nien zurück­ge­führt wird. Ambi­va­lenzen haben in diesen Vergan­gen­heits­be­zügen keinen Platz. Die Geschichte wird auf einfache ethni­sche, reli­giöse oder ideo­lo­gi­sche Sinn­be­züge redu­ziert, die die Gegen­wart auf natio­nale Iden­ti­täten und kultu­relle Eigen­arten fest­legen sollen.

Türki­sche Palast­wache mit Präsi­dent Erdogan; Quelle: reddit.com

Die türki­sche Regie­rung öffnete zum Beispiel Anfang des Jahres ihr bisher streng gehü­tetes Bevöl­ke­rungs­re­gister, das unter anderem Abstam­mungs­ur­kunden enthält, die bis ins Jahr 1882 zurück­rei­chen. Das Inter­esse der Bevöl­ke­rung war groß. Die Website stürzte binnen weniger Stunden ab. Staats­prä­si­dent Erdoğan bezweckte damit vor allem, den türki­schen Staat und seine Bewohner in die Tradi­ti­ons­linie des Osma­ni­schen Reichs einzu­ordnen, aus dessen Spät­zeit die älteren Doku­mente stammen. Die Öffnung des Archivs erfolgte parallel zur Offen­sive des türki­schen Mili­tärs in Nord­sy­rien – ein Vorgehen, dass Erdoğan in einer Rede explizit mit Bezug auf die osma­ni­sche Mili­tär­po­litik recht­fer­tigte. Gegenwarts- und Geschichts­po­litik gehen hier Hand in Hand.

Auch die russi­sche Regie­rung bastelt an ihrer eigenen Vergan­gen­heit, indem sie sich als „dritte Zivi­li­sa­tion“ von Europa und Asien abgrenzt. Sie beschwört die „russi­sche Seele“, die quasi schon immer den Libe­ra­lismus wie den „orien­ta­li­schen Tota­li­ta­rismus“ glei­cher­maßen ablehne. In diesem Kontext gab die Regie­rung ein natio­nales „Einheits­ge­schichts­buch“ in Auftrag, das Wladimir Putin vor vier Jahren eigen­händig präsen­tierte. Der rote Faden dieser Geschichts­schrei­bung ist bei aller äußeren Moder­nität vor allem die Vertei­di­gung zaris­ti­scher und sowje­ti­scher Impe­ri­al­po­litik. Im Veröf­fent­li­chungs­jahr des Buches trat Russ­land in der Ukraine selbst wieder sichtbar als impe­rialer Akteur auf – ganz im Sinne Putins, Russ­land zu alter Größe zurückzuführen.

Feier­lich­keiten zur Anne­xion der Krim, Sewas­topol, 18.3.2015; Quelle: zeit.de

Die langen Tradi­ti­ons­li­nien, die sich der russi­sche Staat zuschreibt, enden nicht nur in diesem Fall dort, wo aktuell die Regie­rung Putins steht – als deren Verkör­pe­rung und Fort­set­zung. Das ist kein Zufall. Das ideo­lo­gi­sche Programm der russi­schen Regie­rung soll viel­mehr ganz grund­sätz­lich als Ausdruck der russi­schen Nation und ihrer Geschichte erscheinen. Das ist die Botschaft, die vermit­telt werden soll.

Mit der Auto­rität des Staates versehen, wird diese Geschichts­er­zäh­lung zur Norm: Wer einen kriti­schen Einwand zur Politik der Regie­rung äußert,  zwei­felt an der russi­schen „Iden­tität“, wie sie aus der konstru­ierten Tradi­tion herge­leitet wird. Wer so etwas wagt, gilt schnell als Verräter und darf staat­li­cher Repres­sion unter­zogen werden. Entspre­chend gibt es mehrere Fälle, in denen russi­sche Histo­riker, die sich kritisch mit der russi­schen Geschichte im 20. Jahr­hun­dert ausein­an­der­setzen, unter faden­schei­nigen Anschul­di­gungen ange­klagt wurden.

Tradi­ti­ons­kon­struk­tion in Folge verlo­rener Privilegien

Das sind nur zwei Beispiele. Ähnliche Vorgänge lassen sich in Indien oder China fest­stellen. Auch euro­päi­sche Demo­kra­tien bleiben davon nicht verschont. In Ungarn etwa steht die Kultur­branche bereits unter enormer staat­li­cher Einfluss­nahme, um Kritiker der Regie­rung als Aggres­soren wider die tradi­tio­nelle unga­ri­sche Lebens­weise abzu­stem­peln und aus dem Weg zu räumen. Auch Parteien wie die AfD, der Front National oder die FPÖ arbeiten an einer Konstruk­tion dessen, was aus der Tradi­tion heraus zu gelten habe. Im Grund­satz­pro­gramm der AfD heißt es, die Partei stehe für die „gelebte Tradi­tion der deut­schen Kultur“ und dass „unser aller Iden­tität vorrangig kultu­rell deter­mi­niert [sei]. Sie kann nicht dem freien Spiel der Kräfte ausge­setzt werden.“ Das ist noch harmlos formu­liert. Die AfD-Thüringen spricht in einem Posi­ti­ons­pa­pier von „der deut­schen Seele“, die sich „nicht zuletzt in mythi­schen Erzäh­lungen sowie in der beson­deren Ausprä­gung bestimmter Tugenden“ mani­fes­tiere. Entspre­chend soll nach AfD-Meinung auch die Kultur­po­litik zur Förde­rung einer posi­tiven Natio­nal­iden­tität beitragen. Eine Iden­tität, die – so die Behaup­tung – die AfD natür­lich exklusiv vertrete.

Tradi­ti­ons­be­züge kennen auch andere Parteien. Der wesent­liche Unter­schied liegt darin, ob diese Bezüge ein plura­lis­ti­sches Bild der Vergan­gen­heit (und Gegen­wart) zulassen, oder ob die darin enthal­tenen Ambi­va­lenzen zugunsten etwa einer ‚ethno­kul­tu­rellen‘ Iden­tität ausge­schaltet werden sollen. In der rechts­po­pu­lis­ti­schen Vorstel­lung gerät die Tradi­tion zum unver­füg­baren Ursprung der Gesell­schaft, aus dem es kein sinn­volles, sondern nur ein zerstö­re­ri­sches Entkommen gibt. Weil wir so waren, sind wir deter­mi­niert so zu sein – diese Argu­men­ta­ti­ons­struktur findet sich immer wieder am Boden der Parolen.

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In der Moderne ist die Konstruk­tion eines solchen Ursprungs, aus dem sich die Tradi­tionen speisen würden (und an denen es also unbe­dingt fest­zu­halten gilt) bis an die Grenze der Unmög­lich­keit proble­ma­tisch geworden. Eine funktional-differenzierte Gesell­schaft des 21. Jahr­hun­derts lässt sich offen­sicht­lich nicht mehr auf einen solchen Ursprung zurück­führen. Sie konsti­tu­iert sich in den sozialen Bezie­hungen mannig­fal­tiger unter­schied­li­cher Milieus, Schichten, Lebens­formen, Berufen usw. Jede Tradi­tion, die ihre Geltung auf einen Ursprung zurück­führt und diesen rein­zu­halten verspricht, schei­tert im Moment ihrer Formu­lie­rung an diesem Plura­lismus. Ein Beispiel liefern die Verfechter des Auto­ri­tären selbst: viele Türken, die das Angebot ihrer Regie­rung nutzten und ihre genea­lo­gi­sche Herkunft z.T. bis ins Osma­ni­sche Reich zurück­ver­folgten, entdeckten, dass sie kurdi­sche, arme­ni­sche, euro­päi­sche oder ostasia­ti­sche Vorfahren haben. Die ethni­sche Diver­sität war immer vorhanden. Sie geriet nur in Vergessenheit.

Warum ist das Tradi­ti­ons­ar­gu­ment dennoch so beliebt? Es handelt sich um einen rheto­ri­schen Trick. Rechts­po­pu­lis­ti­sche Parteien können, indem sie öffent­lich eine solche angeb­lich stabile Tradi­tion behaupten, Wähler an sich binden, für die die Komple­xität modernen Lebens krisen­haft geworden ist, weil sie z.B. den Arbeits­platz verloren haben oder weil ihre gesell­schaft­li­chen Privi­le­gien infrage gestellt werden. In solchen Situa­tionen dient „Tradi­tion“ als Chiffre einer angeb­lich ange­stammten privi­le­gierten Stel­lung, die durch Eman­zi­pa­ti­ons­dis­kurse scheinbar gefährdet wird. Jeder, der dieser Traditions-Konstruktion öffent­lich wider­spricht, stellt diese Privi­le­gien in Frage – was den Ärger nur vergrößert.

„Tradi­tion gegen Korrekt­heit“: Focus, 14.7.2014; Quelle: focus.de

Wer seinem Wahl­pro­gramm den Mantel des Tradi­tio­nellen umhängt, verschleiert damit auch die Radi­ka­lität seiner Forde­rungen. Rechts­po­pu­lis­ti­sche Poli­tiker treten häufig mit der Behaup­tung auf, sie seien selbst nur Vertreter der Tradi­tion – während alle anderen Parteien diese Posi­tion atta­ckieren würden. Ellen Kositza, eine Front­frau der Neuen Rechten, spricht etwa von einem „Angriff auf die Norma­lität“, der mittels Gender­de­batten und -Forschung durch­ge­führt werde, um „Tausende Jahre währende (…) anthro­po­lo­gi­sche Grund­sätze wie die des Geschlech­ter­dua­lismus“ zu beseitigen.

Tradi­tionen hervor­bringen, statt sie zu verhindern

Eine demo­kra­ti­sche Öffent­lich­keit zeichnet sich auch dadurch aus, diesen Dogma­tismus sichtbar zu machen und der Refle­xion zu unter­ziehen. Denn das rechts­po­pu­lis­ti­sche Tradi­ti­ons­an­gebot ist in Wahr­heit ein anti­po­li­ti­sches. Wer ‚hinter der Gesell­schaft‘ einen unver­füg­baren Ursprung vermutet, aus dem sich Tradi­tionen speisen, die unbe­dingt und unhin­ter­fragt weiter­ge­führt werden müssen, engt den Raum des poli­ti­schen Agie­rens ein. Gesell­schaft und die Politik könnten, folgt man dieser Vorstel­lung, sich weder wachsam den Problemen der Gegen­wart zuwenden noch selbst Verän­de­rungen herbei­führen, die einer Tradie­rung würdig wären.

Die große Renais­sance der Tradi­tion in auto­ri­tären Regimen ebenso wie in west­li­chen Demo­kra­tien hat poli­ti­sche Teil­nahms­lo­sig­keit zum Zweck. Sie will verun­mög­li­chen, dass Bürger oder die Zivil­ge­sell­schaft selbst einen Anfang setzen und gesell­schaft­liche Struk­turen der Refle­xion unter­ziehen. Die Vertreter des Auto­ri­tären insze­nieren sich selbst als einzig tradi­tio­nelle und damit legi­time Posi­tion, während Kritik, Diskurs und Parti­zi­pa­tion struk­tu­rell ausge­schlossen werden. Es handelt sich also um eine Politik, die der Möglich­keit der Verän­de­rung ein Ende setzen will.

Die Tradi­ti­ons­po­litik, wie sie uns hier begegnet, hat wenig mit einem blick­wei­tenden und erkennt­nis­för­dernden Rück­griff auf histo­ri­sche Über­lie­fe­rungen zu tun. Aus der Vergan­gen­heit kann man viel Neues lernen, histo­ri­sche Zusam­men­hänge verstehen und fremde Epochen für sich entde­cken. Man kann durchaus auch sehn­süchtig über den Glanz früherer Zeiten staunen. Aller­dings nur, wenn wir den Frei­raum haben, zu entscheiden, wie wir uns zu unserer Vergan­gen­heit verhalten wollen. In der rechts­po­pu­lis­ti­schen Vorstel­lung gerät die Vergan­gen­heit über das Tradi­ti­ons­ar­gu­ment aller­dings zur Herr­schaft über die Gegen­wart – zum trau­rigen Nach­teil beider.

Können wir also einfach wieder tradi­tio­nell sein und in die Ruhe der Vergan­gen­heit einkehren? Nein, weil diese schein­bare Ruhe an einen konstru­ierten Ursprung verfallen macht, der uns regungslos werden lässt. Für eine moderne Gesell­schaft, die nicht ins Auto­ri­täre umschlagen will, ist der Rück­griff auf Tradi­tionen nur im Plural denkbar. Und mit dem Wissen im Hinter­kopf, dass sie uns nicht fest­legen, sondern Möglich­keiten eröffnen.