Der Siegeszug der Sozialen Netzwerke ist in den letzten fünfzehn Jahren auch ein Siegeszug des Schlagworts gewesen. Seitdem Twitter ab 2007 und Instagram ab 2010 den „Hashtag“ eingeführt haben, charakterisiert eine Form der Organisation von Aussagen und Dokumenten die alltägliche Mediennutzung, die noch vor kurzer Zeit auf hochspezialisierte Berufsfelder und Personenkreise beschränkt war.
Wo hat der Gebrauch von „Schlagwörtern“ vor einem Vierteljahrhundert eine Rolle gespielt? In den Sinn kommen die Bibliotheks- und Archivwissenschaften, die sich seit dem frühen 20. Jahrhundert darum bemüht haben, durch immer strenger standardisierte „Schlagwortkataloge“ die Auffindbarkeit von Dokumenten zu erleichtern. Ein anderer Einsatzort ist die „historische Schlagwortforschung“, eine sprachwissenschaftliche Teildisziplin, der es um die Analyse der prägenden Ausdrücke einer Epoche oder einer politischen Bewegung geht. Beide Schauplätze sind jedoch akademische Randgebiete, und es lässt sich ohne Zweifel sagen, dass der Kategorie des „Schlagworts“ in der öffentlichen Wahrnehmung bis an die Wende zum 21. Jahrhundert eine eher unscheinbare Position zukam.
Das Aufmerksamkeitsversprechen
Die Etablierung des Hashtags hat dieses Nischenelement in rasantem Tempo ins Zentrum gegenwärtiger Medienrealität gerückt. Jede Twitter-Timeline, jeder Instagram-Beitrag legt heute Zeugnis von der kollektiven Verschlagwortung der Welt ab, die in den Sozialen Netzwerken von allen Nutzern betrieben werden kann: als ein schöpferischer Akt, ohne die Einschränkung vorinstallierter Standards oder hierarchisch gestaffelter Zugangsweisen. Durch das vorangestellte Zeichen # – im britischen Englisch „hash“ genannt, im amerikanischen Englisch „number sign“ oder „pound sign“, im Deutschen „Rautezeichen“ oder „Doppelkreuz“, im Schweizerdeutschen „Gartenhag“ – werden zuvor verborgene Prozesse der Katalogisierung nach außen gestülpt. Als ein solches Bindeglied von Alltagskommunikation und Computercode ist der Hashtag zur populärsten Chiffre der Gegenwart geworden, deren Wirkungskraft sich am deutlichsten daran ablesen lässt, dass die Raute inzwischen auch abseits der Bildschirme und Displays ständig auftaucht.
Das Zeichen # ist auf Titeln neu erscheinender Romane zu sehen und auf bedruckten T-Shirts, auf Transparenten politischer Demonstrationen, Graffiti-verzierten Wänden und Werbeplakaten am Straßenrand. In einer Welt aus Stein, Papier und Wolle kann der Hashtag zwar nicht angeklickt werden, kann nichts vernetzen, aber er formuliert inzwischen auch auf diesen Materialien ein Versprechen – das Versprechen, wahrgenommen zu werden, Gehör zu finden, Interessen zu bündeln. Das # ist also längst kein rein funktionales Sonderzeichen mehr, sondern ein verheißungsvolles gesellschaftliches Symbol. Es steht für die Erzeugung und Anhäufung öffentlicher Aufmerksamkeit.
So tief ist der Hashtag in der heutigen Medienrealität implementiert, dass man leicht übersieht, welche elementaren Auswirkungen er innerhalb weniger Jahre auf die Ordnung von Aussagen gehabt hat. Besondere Bedeutung kommt ihm heute als Gestaltungsprinzip von gesellschaftspolitischen Debatten zu. Unter dem Schlagwort „#MeToo“ ist im Herbst 2017 etwa eine weltweit geführte, epochemachende Diskussion über sexualisierte Gewalt entstanden, deren inhaltliche Positionen und Legitimationen in allen Facetten diskutiert worden sind. Was jedoch nur sehr selten zur Sprache kam, war die Frage, inwiefern die medialen und sprachlichen Umstände dieser Debatte die inhaltlichen Verläufe mitgeprägt haben, inwiefern zum Beispiel die wiederkehrenden Missverständnisse und Konflikte zwischen den Beiträgerinnen und Beiträgern angesichts der Eingrenzung dessen, was „Belästigung“ oder „Missbrauch“ heißt, auf die spezifische Organisation der Aussagen durch den Hashtag zurückweisen. Denn wenn die unterschiedlichen und vielfältigen Stimmen, die ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt teilen, dies allesamt unter dem gleichen, identitätsstiftenden Schlagwort tun – „#MeToo“ –, verstärken die medialen Rahmenbedingungen womöglich genau jene Homogenisierungs- und Nivellierungstendenzen, die in der Debatte dann inhaltlich kritisiert wurden.
„Hashtag Activism“
Auf der Suche nach den Zusammenhängen, in denen der Hashtag bislang eine besondere Rolle gespielt hat, ergibt sich bei jeder Google-Befragung, bei jeder Katalogrecherche in Bibliotheken und Datenbanken derselbe Effekt: Immer stammen die Reflexionen über den Hashtag, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, aus denselben zwei Bereichen – Abhandlungen über politischen Aktivismus einerseits und Beiträgen aus der Welt des Marketings andererseits. Diese beiden Perspektiven haben die Beschäftigung mit der neuen Organisationsform von Aussagen in den vergangenen zehn Jahren mit überwältigender Dominanz geprägt, und es stellt sich die Frage, womit eine solche Nähe zweier auf den ersten Blick höchst unterschiedlicher Kontexte zu tun hat. Offenbar nimmt die Sehnsucht nach Kollektiv- und Kampagnenbildung, die den Gebrauch des Doppelkreuzes kennzeichnet, vorwiegend diese beiden, unter den Namen „Hashtag Activism“ und „Hashtag Marketing“ bekannt gewordenen Erscheinungsformen an.
Dass das Zeichen # mit der Formierung politischer Gegenöffentlichkeit zusammenhängt, ist bereits an den Umständen seiner Entstehung ablesbar. Der Gebrauch des Hashtags setzte sich 2007 zunächst im Milieu kalifornischer Netzaktivisten durch, die auf Twitter nach einer besseren thematischen Strukturierung ihrer Debatten suchten. Im Zeichen der Raute sollten sich also von Beginn an Stimmen zusammenfinden und bündeln, die von den herkömmlichen Mediensystemen nicht ausreichend repräsentiert werden. Diese emanzipatorische Funktion des Zeichens # ist in Untersuchungen über die Rolle von Twitter für aktuelle politische Bewegungen seither immer wieder betont worden.
Der Hashtag kann Einzelpersonen und Bevölkerungsgruppen, die von der Berichterstattung der Massenmedien ausgeschlossen sind oder die in verzerrter Weise darin auftauchen, durch wenige Tastendrucke auf ihren Telefonen und Computern ein sichtbares Korrektiv verschaffen. Konsequenterweise bilden sich jene politischen Schlagwörter, die in den vergangenen Jahren zu den bekanntesten und meistverwendeten auf Twitter wurden, wie etwa „#BlackLivesMatter“ ab 2013 und dann vor allem nach dem Tod George Floyds im Mai 2020, „#Ferguson“ ab 2014 oder „#MeToo“ ab 2017, als Chiffren der Gegenöffentlichkeit heraus. Hashtags sind Knotenpunkte eines neuen Mediengeflechts, das es einer von Fremdzuschreibungen geprägten Bevölkerungsgruppe erlaubt, direkte und wahrhaftigere Selbstbeschreibungen zu versammeln, die eigene Stimme ohne die Reibungsverluste der massenmedialen Filter zu erheben, einen kollektiv verstärkten „#Aufschrei“ auszustoßen, wie ein populärer Hashtag in Deutschland 2013 hieß.
„Hashtag Marketing“
Es gibt in der jungen Geschichte des Hashtags aber ein zweites Einsatzgebiet, eine zweite Verbreitungsform, die mindestens genauso viele Anleitungen, Kommentare und Analysen hervorgebracht hat – die Sphäre des Marketings. Diese Verbindung ist bereits etymologisch angelegt – „to tag“ heißt „markieren“ –, und in den Theorien der avancierten, von den Sozialen Medien geleiteten Produktkommunikation kommt dem Doppelkreuz als Vorzeichen von Kampagnennamen und Werbeslogans eine zentrale Funktion zu.
In den Marketing-Handbüchern und -Blogs ist der Hashtag als Akteur heute allgegenwärtig. Aber worin genau besteht die spezifische Eignung des Zeichens für die Reichweite von Kampagnen? Das mit dem Doppelkreuz versehene Schlagwort, so könnte man sagen, ist der ideale Agent jener neuen Form von Kundenbindung, die seit etwa fünfzehn Jahren unter dem Namen „Content Marketing“ bekannt ist. Seitdem es die digitale Medientechnologie jedem Unternehmen erlaubt, über eigene Websites, Blogs und Profile in den Sozialen Netzwerken wie ein Verlagshaus zu operieren, heißt „Marketing“ nicht mehr in erster Linie, in den Massenmedien bezahlte Werbung für ein Produkt zu lancieren, sondern ein selbstgestaltetes mediales Umfeld zu erzeugen, in dem die erhoffte Hinwendung der Konsumenten zu den angebotenen Erzeugnissen über indirekte, atmosphärische Anreize erfolgen soll, wie etwa der Gestaltung redaktioneller „Inhalte“ oder dem Aufbau einer „Community“ von Gleichgesinnten.
Der Hashtag verstärkt die Wirkungsmacht und Erfolgsaussicht des Content-Marketings in vielfältiger Hinsicht. Denn er verschränkt sowohl den Austausch zwischen Konzernen und Konsumenten als auch den der Konsumenten untereinander auf eine präzise gekennzeichnete und quantifizierbare Weise. Wie es eine von zahllosen Marketing-Blogs übernommene Informationsgrafik im Netz so unmissverständlich ausdrückt: „# = $$$“.
Die vom Zeichen # gewährleistete Bündelung von Aussagen setzt die Tweets oder Instagram-Posts also in ein Verhältnis der allgemeinen Konvertierbarkeit. Jeder Beitrag, der mit dem gleichen Hashtag gekennzeichnet ist – ungeachtet seines intendierten Inhalts, seines primären Kontexts – tritt in Beziehung zu allen andern, mit ihm vernetzbaren. Für die Perspektiven des Marketings ist diese Konstellation ideal, weil es nur einer mit dem Doppelkreuz versehenen Buchstabenfolge bedarf, um eine glamouröse Region der Twitter- oder Instagram-Sphäre, eine Spitzenposition der „trending topics“ anzuzapfen und womöglich davon zu profitieren.
Hashtag als Marke
Hashtags, so könnte man sagen, kommodifizieren die Wörter, die ihnen folgen. Wenn Georg Lukács 1923 im berühmten „Verdinglichungs“-Kapitel von Geschichte des Klassenbewusstseins zeigen wollte, „wie weit der Warenverkehr die herrschende Form des Stoffwechsels einer Gesellschaft ist“, dann gilt diese Diagnose ein knappes Jahrhundert später sicher für die Metabolik der Sozialen Medien. Nicht-katalogisierbare, einzigartige, widerspenstige Bausteine sind in der Logik des Hashtags irrelevant. Anstatt dessen geht es um die größtmögliche Anhäufung von Beiträgen, um die Akkumulation des gleichförmigen, unter identischem Schlagwort subsumierten Aussagenkapitals, das sich in quantifizierbaren Listen wie den „trending topics“ abbilden und weiter vermehren soll.
Es ist vor diesem Hintergrund aufschlussreich, dass Hashtags in den vergangenen Jahren zum prominenten Gegenstand des Markenschutzes geworden sind. Wie attraktiv vielgebrauchte Hashtags als eingetragene Warenzeichen erscheinen, lässt sich daran erkennen, dass auch die populärsten Schlagwörter des Netzaktivismus in den vergangenen Jahren in diese Debatte einbezogen wurden. Als sich etwa nach dem Tod des asthmakranken Eric Garner im Juli 2014, der nach dem Würgegriff eines Polizisten bei der Festnahme erstickte, erstmals der Hashtag „#ICantBreathe“ auf Twitter etablierte – gebildet nach den letzten geröchelten Worten des Sterbenden –, versuchten zwei Unternehmen, das Schlagwort als Warenzeichen schützen zu lassen. Für den Solidaritäts-Hashtag „#JeSuisCharlie“ nach dem Attentat auf die Pariser Zeitschriftenredaktion im Januar 2015 gab es sogar mehr als 50 Anträge zum Schutz des Hashtags als Warenzeichen, wobei keiner davon von den tatsächlichen Schöpfern der Wörter und der zugehörigen Zeichnung stammte.
Unter den markengeschützten Schlagwörtern ist in den letzten Jahren eines gewesen, das die Effekte des Hashtags auf anschauliche Weise vorführt. Vor den Olympischen Spielen in Rio beanspruchte das „United States Olympic Comittee“ (USOC) das Recht, dass das Motto „#Rio2016“ nur von den Hauptsponsoren der Veranstaltung, wie Coca Cola, McDonald’s, Visa oder Samsung, benutzt werden durfte. Alle für die USA startenden Einzelsportler erhielten im Vorfeld ein Schreiben des USOC, in dem ihnen untersagt wurde, dass ihre individuellen Marketingpartner in Tweets und Instagram-Beiträgen diese Hashtags gebrauchen. In einer Stellungnahme, die der Anwalt einer Sportlerin zu diesem Fall veröffentlichte, hieß es im Juli 2016: „Die Verletzung eines Warenzeichens bedeutet normalerweise, dass eine Partei ein eingetragenes Zeichen benutzt und die Öffentlichkeit über die Herkunft eines kommerziellen Produkts oder einer Dienstleistung täuscht. Das hat aber nichts mit dem Gebrauch eines Hashtags zu tun. Ich verkaufe ja keine Produkte oder Dienstleistungen, ich mache einfach eine Aussage auf einer offenen Plattform. Wie sonst sollte man anzeigen, dass man über die Olympischen Spiele 2016 spricht, wenn man nicht #Rio2016 sagen darf?“
Dieser letzte Satz beschreibt die Veränderungen, die das Aufkommen des Hashtags für die Streuung von Aussagen mit sich gebracht hat, sehr deutlich. Denn er stellt die Frage nach dem Status der Wörter zwischen Kommunikationsmittel und Warenform, zwischen frei zirkulierender Rede und geschützten Markenzeichen. Das ikonische Rautezeichen hat diese Grenze spürbar verschoben – jene Chiffre der digitalen Kultur, die heute, ein gutes Jahrzehnt nach ihrem Auftauchen, von einer unauflösbaren Ambivalenz geprägt ist. Der Hashtag bringt die verstreuten Stimmen zum kollektiven Ertönen und nimmt ihnen gleichzeitig das, was an ihnen unverrechenbar ist.