„Die Kochbakterie ist mitsamt ihren Nachkommen zum Tode zu verurteilen“, lautet das Urteil in einem Hygienegericht (russ. sansud), das 1924 in der Sowjetunion gespielt wurde. Auf der Anklagebank saß nicht etwa ein Patient, der andere mutwillig mit Tuberkulose angesteckt hatte, sondern die Kochbakterie selbst. Sie bekam die Höchststrafe, weil sie „mehrere Millionen Menschen“ getötet hatte, darunter auch „die Kinder des Proletariats der UdSSR“. Seit Jahrhunderten habe sie „die Kräfte der werktätigen Volksmassen“ untergraben.

Buchcover des Gerichtsstücks „Gericht über die Kochbakterie. Inszenierung“ (Sud nad bacilloj kocha. Inscenirovka, 1924) von Konstantin Lapin.
Die Mikrobe – ein Laienschauspieler, laut Skript aufwändig als „Kochbakteriestäbchen“ verkleidet und geschminkt – wurde in dieser Hygienegroteske wie eine normale Angeklagte befragt, verteidigte sich, unterbrach die Experten, weinte auch mal zwischendurch und sprach ein „letztes Wort“. Sie gab Auskunft über ihren Namen, über Alter, Geburtsort („in der Spucke eines Arbeiters“), über den Wohnort („in Körpern oder in dunklen, stickigen Räumen“) und über den Vorgang der Ansteckung („durch Ausspucken auf den Boden“).
Hygienegerichte
Die Idee, Gerichtstheater zu veranstalten, war im postrevolutionären Russland nicht außergewöhnlich, eine Mikrobe als Angeklagte schon. Das Gericht gehörte zum beliebtesten Theaterformat: „Während man in Europa die Syphilis, Tuberkulose und alle übrigen Volksseuchen mit Hilfe von Broschüren und Flugschriften zu bekämpfen sucht, veranstaltet man in Russland zu diesem Zweck Theateraufführungen, besonders sogenannte Gerichtsszenen“, schrieb der österreich-ungarische Publizist René Fülöp-Miller 1926 nach einem langen Russlandaufenthalt.

Buchcover des Gerichtsstücks „Kurynicha. Gericht über eine Kurpfuscherin“ (Kurynicha. Sud nad znacharkoj, 1925), herausgegeben von der Leningrader Abteilung des Proletkul’t.
Angeklagt wurden in der Regel Alkoholiker, Prostituierte, Wunderheilerinnen, Hausfrauen oder ein Schwein. Um aber auch die unsichtbaren Feinde zu erwischen, stellte man sogar Krankheitserreger, Feldschädlinge oder Gott vor Gericht. Auch gegen letzteren veranstaltete man ein Gerichtstheater, doch weil man ihn an seiner angegebenen Adresse – Himmel – nicht fand, wurde gerade seine Unsichtbarkeit zum Beweis der Schuld seiner sichtbaren Vertreter: des Popen, des Rabbis und des Mullahs.
Für das Sichtbarmachen war vor Gericht die Figur des Experten zuständig. Er forschte mit dem Mikroskop, konnte obduzieren, hatte aber auch Zahlen und Statistiken zur Hand. In einem Stück über eine Wunderheilerin erklärte er, wie ein Tröpfchen Eiter von einem Syphiliskranken im Mikroskop wie „kleine, sich bewegende Schnürchen“ ausehen, die sich wie Bänder kräuseln“.
Richtet über euch selbst…
Gerichtstheater machten es möglich, eine eigene kommunistische Version des Zusammenhangs von Krankheit und Schuld, Ansteckung und Strafe zu erzählen. Im Fall der Tuberkulose, die weltweit und gerade im russischen Bürgerkrieg als gefährlichste ansteckende Krankheit galt und Millionen von Menschen dahinraffte, wies man die Schuld vor allem den Lebensbedingungen im vorrevolutionären Kapitalismus und dessen Überresten zu. „Richtet über euch selbst, nicht über mich“, sagte die Mikrobe entsprechend in ihrem letzten Wort. Und damit lag sie ja auch nicht ganz falsch – und würde auch heute nicht falsch liegen. Das sah auch der Verteidiger im besagten Gerichtsstück so und versuchte ebenfalls, den Blick auf die sozialen Umstände zu lenken, auf die dunklen, feuchten Wohnungen des Proletariats und die körperlich erschöpfende Arbeit.
Das Kochstäbchen sah sich nun allerdings durch das Sowjetsystem persönlich bedroht. Mitten im Prozess beginnt es zu weinen und klagt darüber, dass sein Lebensraum durch Hygienemaßnahmen nun immer mehr eingeschränkt werde. Denn hätte man schon vorher, wie es sagt, auf Dr. Robert Koch gehört, hätte man schon längst gewusst, wo es wohne und wovor es sich fürchte.
Hygiene-Utopie: „Rat der sozialen Hilfe“
Das Gericht über die Kochbakterie war vor allem dazu da, die Arbeit der Tuberkulosestationen und der dort eingerichteten „Räte der sozialen Hilfe“ vorzustellen. Als Zeuginnen aufgerufen, berichteten Krankenschwestern, wie sie versuchen, die Wohnumstände zu verbessern und das Hygieneverhalten zu koordinieren: keine Ikonen küssen, immer in den Spucknapf husten, Hände waschen etc. Angeleitet von Studien zur Arbeitshygiene ging es auch darum, einen Zusammenhang zwischen der Belastung durch Arbeit, der Forderung nach Erholung und ansteckenden Krankheiten zu verstehen.

Buchcover des Gerichtsstücks „Gericht über die Dreifelderwirtschaft“ (Sud nad trechpol’em, 1924) von Georgij Lebedev.
Es wäre aber zu einfach, die Gerichtsstücke nur als Lob der Wissenschaft und der Fürsorge der Bevölkerung zu lesen. Sie sind, wie so vieles in der jungen Sowjetunion, zweischneidig: Sie kritisieren die furchtbaren Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter und Bauern in der Vergangenheit, sie zeigen eine auf Wissenschaft basierende Vision der Ausrottung einer Krankheit und eine gesellschaftliche Utopie, wenn es um das Recht auf kostenlose medizinische Versorgung geht. Letztere wird in der sowjetischen Verfassung 1936 auch realisiert – ausgerechnet in jener Zeit, als der politische Terror für Millionen anderer Opfer sorgte. Die Gerichtsstücke sind aber auch propagandistisch, weil sie schon um 1925 die postrevolutionären Zustände als Ursachen für Krankheiten ausblenden und nur eine einzige Deutung in der Zuweisung von Schuld zulassen.
Es gibt aber neben der Nähe von Utopie und Propaganda noch eine zweite Ambivalenz, diejenige zwischen Realität und Fiktion. Das bemerkte auch schon Walter Benjamin, der 1926 in Moskau zufällig in ein Gericht über eine Kurpfuscherin geriet. Erstaunt über das Gerichtssetting, das sich nicht auf den ersten Blick klar einordnen lässt (ist es Theater oder ein echter Gerichtsprozess?), resümiert er: „Um für die Fragen bolschewistischer Moral das Publikum im Sinne der Partei mobil zu machen, kann es kein wirksameres Mittel geben.“ Aber nicht nur für Zuschauer, sondern auch für die Darsteller war die Ununterscheidbarkeit heikel: Ende der 1920er Jahre wurde anstelle eines Laiendarstellers auch mal der echte Dorfalkoholiker vor Gericht gestellt, für den das Gerichtstheater mit Geständnis und Strafe zur bitteren Realität wurde.
Dystopische Sauberheit
Dass es in den frühen Hygienegerichten nicht nur um die Vernichtung der Mikroben und die Verhinderung von Ansteckung ging, sieht man, wenn man sich die Liste der möglichen ‚Vergehen‘ der Hygienegerichte anschaut. Da waren 1925 Syphilis, Abort und Tuberkulose aufgeführt, aber zusätzlich auch eine andere Art von ‚Krankheit‘: „Diskreditierung der Macht“, „Lüge vor Gericht“, „Fortführen eines religiösen Glaubens“.
Diese metaphorische Vermischung von gesellschaftlichen und medizinischen Prozessen war keineswegs neu. Susan Sontag schreibt in ihrem bekannten Buch Krankheit als Metapher, Tuberkulose sei die Erkrankung, der zu viel Leidenschaft vorausgehe. Es sei diese Leidenschaft, die einen TB-Anfall verursache und sich in diesem auch ausdrücke. Auch schon die Bakteriologie selbst hat mit einer in hohem Masse metaphorischen Sprache, in der von „Fremden“, „Invasoren“, „Eindringlingen“ die Rede war, dazu beigetragen, Mikroben z.B. als „ausländisch“ imaginieren zu können. In der Sowjetunion nutzt man die Möglichkeit, sie als „vorrevolutionär“ vorzustellen und so – mit der Zeit – vom äußeren zum inneren Feind zu wechseln.

Buchcover des Gerichtsstücks „Gericht über eine Delegierte“ (Sud nad delegatkoj, 1926) von N. Glebova.
Schaut man auf die 1920er Jahre, dann sieht man, dass die hygienische medizinische Utopie in der Sowjetunion um den Preis einer dystopischen politischen Säuberung realisiert wurde. So wurde mit der Zeit nicht nur die krankheitsbringende Mikrobe auf die Anklagebank gesetzt, sondern es wurden auch Kritiker als krank und Kritik als ansteckend dargestellt. 1929, mitten in Stalins Zwangskollektivierungs- und Entkulakisierungskampagne, der Millionen von sogenannten Kulaken zum Opfer fielen, wurden in einem anderen Gerichtstheaterstück – Gericht über Schädlinge – Schädling und Mensch explizit parallel gedacht. Der zunächst angeklagte Mehlwurm, der das Saatgut schädigt, tritt bald in den Hintergrund, und als Ursache für ‚Krankheiten‘ (der Felder, der Körper) wird der „zweibeinige“ (menschliche) Schädling verantwortlich gemacht. Das Sichtbarmachen, das sich zunächst auf Krankheitserreger richtete, zielt nun auf die Entlarvung des „Volksfeinds“. Dieser Schädling kann weder geheilt, gebessert noch reintegriert werden. Drastische Strafen wie „Vernichtung“, „Ausrottung“ oder zumindest „endgültige Vertreibung“ werden durch die Gleichsetzung legitimiert. Und der Experte als Figur, die den unsichtbaren Feind sichtbar machte, wird vom Staatsanwalt abgelöst.
Gericht als Hygiene
Nur wenige Jahre später, im Hochstalinismus, werden die Gerichte – als politische Schauprozesse – selbst Instrumente der politischen „Hygiene“, der stalinistischen Säuberung. Und das Geständnis wird zum alleinigen Beweis.

Buchcover des Gerichtsstücks „Gericht über einen Erntedeserteur“ (Sud nad desertirom pochoda za urožaj, 1929) von Vasilij Grigor’ev.
Die Säuberung hat dann nicht mehr nur das Ziel, Angst vor angeblichem Dreck zu erzeugen und überall den Dreck wegzuräumen, Kritiker z.B., sondern ihn, den Kritiker, als Dreck überhaupt erst zu denken. Sichtbar gemacht wird plötzlich, was gar nicht da ist. Die Moskauer Schauprozesse erfüllten genau diesen Zweck, sie lösten nicht nur das Theaterformat ab, waren zwar inszenierte, aber reale Prozesse, sondern hatten die Aufgabe zu zeigen, was nicht nur nicht sichtbar war, sondern was es nicht gab: überall Verschwörung, überall konterrevolutionäre Tätigkeit und antisowjetische Sabotage. Um dies zu beweisen, bediente man sich vor Gericht eines juristischen Tricks: Weil Verschwörung wesenhaft unsichtbar ist, beweist gerade das Fehlen von sichtbaren Beweisen die Schuld der Verschwörer.
Die dystopische politische Hygiene spielt so gesehen auf eine andere Weise Theater mit dem Unsichtbaren. Den Experten braucht es nicht mehr mit seiner Fähigkeit, eine mit bloßem Auge nicht sichtbare Gefahr etwa durch das Mikroskop sichtbar zu machen. Ganz im Gegenteil, denn das auf die Gesellschaft gerichtete Mikroskop würde zeigen, dass nichts zu sehen ist. Die Unsichtbarkeit – wie schon bei Gott – wird nun zum Beweis von Schuld.
Selbstentblößung
Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren war nie nur wissenschaftliche Ambition, aufklärerische Geste oder psychoanalytische Kur, sondern immer auch politisches Phantasma. So ist es kein Wunder, dass auch jetzt in Coronazeiten die Kopräsenz des unsichtbaren Virus die politischen Systeme und deren Umgang mit dem unkalkulierbar Realen bzw. der Realität – dem Virus – immer auch entblößt. Dazu braucht es gar kein Gerichtstheater, alle Protagonisten des Gerichts sind auch auf der politischen Bühne vorhanden. Nur erleben wir jetzt alles im Schnelldurchlauf. Das beginnt mit der politischen Präsentation einer ganzen Palette von Schuldigen – LGTB, Soros, Juden, Ausländer – und reicht bis zum Versuch, Kritiker als „Schädlinge“ zu präsentieren. Es gibt aber auch eine neue Variante im Verhältnis von Experten und Politik. Während sich in demokratischen Verhältnissen die Politik idealerweise an der Meinung des Experten orientiert, in autokratischen Systemen der Experte sich immer auch der Politik unterzuordnen hat, erleben wir nun bei den täglichen Briefings im Weißen Haus eine andere Beziehung zwischen Präsident und Experten: Sie widersprechen einander, der Experte, Anthony Fauci sagt das eine, der Präsident, Trump, sagt etwas anderes. Alles ist gleichzeitig da, Information, Desinformation, die Zuschauer haben die Wahl. Während aber der Präsident die Wissenschaft als „Geschenk des Himmels“ oder als „Wunder“ oder „andere Meinung“ präsentiert, schweigt der Experte Fauci in Bezug auf den Präsidenten. Könnte sich doch das Virus einmischen mit einem utopischen Gedanken: „Richtet über euch selbst, nicht über mich“.