Wonder Woman hat, wie alle Superheldinnen, eine Secret Identity. Die US-amerikanische Historikerin Jill Lepore kitzelt jedoch noch ganz andere Geschichten aus der Geschichte um die Amazone mit dem magischen Lasso heraus.

  • Christine Lötscher

    Christine Lötscher lehrt Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien am ISEK - Populäre Kulturen der Universität Zürich und ist Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Super­hel­dinnen. Wonder Woman und die Frauenbewegung
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Was für ein verrückter, egozen­tri­scher Angeber, denkt man ange­sichts der Biografie des Erfin­ders von Wonder Woman, William Moulton Marston (1893–1947), die Jill Lepore für ihre Geheime Geschichte von Wonder Woman (2022) aufwändig recher­chiert hat. Marston war Rechts­an­walt, expe­ri­men­teller Psycho­loge, Erfinder des Lügen­de­tek­tors, Comic­zeichner – und Femi­nist. Er war über­zeugt, dass Frauen die besseren Menschen sind und eines Tages die Welt­herr­schaft erringen würden. Diese Über­zeu­gung bekun­dete er in den Wonder-Woman-Comics.

Er inves­tierte aber auch viel in die wissen­schaft­liche Basis seiner Super­hel­din­nen­aben­teuer. Wort­reich und mit viel Verve und Fantasie verkün­dete er die frohe Botschaft in Vorträgen, in Büchern und Arti­keln. Heute würde man vieles davon Mans­plai­ning nennen. Er reali­sierte seine Idee von fort­schritt­li­cher Liebe, indem er mit drei Frauen zusam­men­lebte, von denen zwei – Sadie Eliza­beth Holloway und Olive Byrne – Kinder von ihm hatten. Eine verdiente das Geld, eine kümmerte sich um die Kinder­schar, eine kam und ging, und alle ließen einen guten Teil ihrer Arbeits­kraft in Mars­tons Projekte einfließen. Dabei ist Wonder Woman das erfolg­reichste Gemeinschaftsprojekt.

Quelle: ign.com

Mars­tons Behaup­tung, er sei Femi­nist, haftet nicht nur etwas Pater­na­li­sie­rendes, sondern auch etwas Schlüpf­riges an. „Das Geheimnis der Anzie­hungs­kraft der Frau” lag für ihn darin, dass „Frauen die Unter­wer­fung genießen – das Gebun­den­sein.“ Er scheint, wie auch die noto­ri­schen Fessel­szenen in den Wonder-Woman-Comics nahe­legen, ein Bondage-Fetischist gewesen zu sein, der daran glaubte, dass die Kraft der Frau gerade in ihrer Fähig­keit zur Unter­wer­fung unter den Mann bestand.

Solche (ab)wertenden Bemer­kungen und klaren Urteile, wie ich sie gerade formu­liert habe, sucht man in Jill Lepores dickem Buch über die Geschichte hinter Wonder Woman verge­bens; die Histo­ri­kerin über­lässt ihren Leser:innen, was sie von Marston halten sollen. Und genau diese Absti­nenz macht das Buch zu einer aben­teu­er­li­chen und erhel­lenden Lektüre; zu einem Sach­buch, in dem die Fäden so geschickt zusam­men­ge­führt und verknüpft sind, dass es sich lohnt, es von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Wenn man einmal so weit gekommen ist, wird man es sich nicht nehmen lassen, auch den 120-seitigen Anhang zu studieren.

Es geht nämlich gar nicht um diesen Marston. Die geheime Geschichte von Wonder Woman, in den USA bereits 2016, in der deut­schen Über­set­zung dieses Früh­jahr erschienen, erzählt anhand von Marston und seiner selt­samen Faszi­na­tion für “die Frau” und für eine aus heutiger Sicht schau­er­lich anmu­tende Form des Diffe­renz­fe­mi­nismus eine andere Geschichte. Lepore faltet diese Geschichte langsam und geduldig auf, und fast bekommt man das Gefühl, ihr bei den „jahre­langen Recher­chen in Dutzenden von Biblio­theken, Archiven und Samm­lungen“ über die Schulter zu schauen.

Brücken­bauerin mit Lasso

Gal Gadot als Wonder Woman; Quelle: pinterest.com

Wonder Woman war lange vor der Blockbuster-Verfilmung von 2017 mit Gal Gadot in der Haupt­rolle die „belieb­teste Super­heldin aller Zeiten“. Die Tochter des Zeus und der Amazonen-Königin Hippo­lyta ist in einer utopi­schen Frau­en­welt aufge­wachsen. Sie kämpft für Frieden, Gerech­tig­keit und Frau­en­rechte, und dies mit einem Minimum an Gewalt. Ihre goldenen Armbänder wehren Kugeln ab, und alle, die sie mit ihrem magi­schen Lasso einfängt, sind gezwungen, die Wahr­heit zu sagen. Im Alltag versteckt sich die Super­heldin hinter der Iden­tität der Sekre­tärin Diana Prince. Gemäß Jill Lepore ist Wonder Woman aber viel mehr als eine Super­heldin aus dem Reich der Amazonen, die dazu beitrug, den Femi­nismus zu popu­la­ri­sieren. Viel­mehr muss sie als die popu­lär­kul­tu­relle Denk­figur schlechthin gelesen werden, in der die Konti­nuität zwischen der soge­nannten ersten und zweiten Welle der Frau­en­be­we­gung sichtbar wird. In den Comics, die ab 1941 erschienen, verdichten sich die Ideen und Forde­rungen der Frau­en­wahl­rechts­be­we­gung und des Birth Control Move­ment der 1900er und 1910er Jahre, die via Wonder Woman in die Programme der Femi­nis­tinnen in den 1960ern und 1970ern einfloss. „Wonder Woman war Teil jener Revo­lu­tion“, schreibt Lepore.

Die höchst detail­lierte, mate­ri­al­reiche Aufar­bei­tung der Biografie von Marston, Holloway und Byrne, der Einfluss der Frau­en­recht­lerin Margaret Sanger und nicht zuletzt die in den 1950ern tobende Debatte um den schäd­li­chen Einfluss von Comics auf Kinder sind lauter Mosa­ik­steine, die ein diffe­ren­ziertes Gesamt­bild ergeben. Der Back­lash der 50er Jahre war deshalb so massiv, weil es ganz konkret um Arbeits­plätze, ökono­mi­schen Einfluss und um die Vertei­lung der Care-Arbeit ging. Wonder Woman, die nicht im Traum daran dachte, Kinder aufzu­ziehen oder Geschirr zu spülen, geriet unter Beschuss. Lepore schreibt:

Wonder Woman folgte in den 1950er Jahren den Hundert­tau­senden ameri­ka­ni­schen Frauen, die während des Krieges einer Erwerbs­tä­tig­keit nach­ge­gangen waren, nur um dann, als der Friede da war, erzählt zu bekommen, dass ihre Arbeits­kraft jetzt nicht nur nicht mehr gebraucht werde, sondern die Stabi­lität der Nation gefährde, weil sie die gesell­schaft­liche Stel­lung der Männer schwäche.

Cover das Ms-Magaine, 1972

Der Höhe­punkt des Wonder-Woman-Revivals war, als die Redak­tion des Ms. Maga­zine die Super­heldin 1972 auf dem Cover plat­zierte, unter dem Titel: „Wonder Woman for presi­dent“ – just zu der Zeit, als Shirley Chis­holm ins Rennen um die demo­kra­ti­sche Präsi­dent­schafts­kan­di­datur stieg, als erste Frau und als erste Schwarze Frau. Das Ziel war, mit Hilfe von Wonder Woman die Distanz zwischen den unter­schied­li­chen Gene­ra­tionen von Femi­nis­tinnen zu über­brü­cken. Gloria Steinem, die als Kind ein Fan der Comics war, kommen­tierte: „Wenn ich mir heute diese Wonder-Woman-Geschichten aus den 40ern anschaue, staune ich über die Aussa­ge­kraft ihrer femi­nis­ti­schen Botschaft.“ So wurde Wonder Woman zum Symbol der femi­nis­ti­schen Revolte – obwohl oder gerade weil sie in den 1950er Jahren von konser­va­tiven Pädagog:innen massiv ange­griffen worden war. Obwohl Marston selbst nicht müde wurde zu betonen, dass Frauen grund­sätz­lich andere, aber eben bessere, intel­li­gen­tere Wesen seien als Männer, machte sich Wonder Woman selbst­ständig und reprä­sen­tierte für ihre Leser:innen ein Frau­en­bild, das auf Gleich­heit beruhte. Diese Deutung der Figur setzt sich übri­gens bis in die Filme von Patty Jenkins fort. Wonder Womans Spaß an Mode und Styling hat etwas Lustvoll-Verspieltes; dass Kleider dazu dienen, in einer Rolle zu performen, könnte kaum deut­li­cher gemacht werden.

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Ein Mann als femi­nis­ti­sches Medium

Indem Lepore fast aufrei­zend langsam, detail­reich und geduldig auffaltet, welche Fäden wo und wie zusam­men­laufen, zeigt die Histo­ri­kerin auf, dass Marston als Autor weniger ein ‘Schöpfer’ war als eine Art Medium, das die femi­nis­ti­schen Diskurse, die um ihn herum zirku­lierten, aufsog, verband, arran­gierte und daraus Unter­hal­tung machte. Das Mate­rial dafür stammte nicht nur aus Texten, sondern aus dem gelebten Leben des Netz­werks, in dem sich Marston und seine Frauen bewegten. Diese Frauen waren radi­kale und intel­lek­tu­elle Femi­nis­tinnen. Sadie Eliza­beth Holloway und Marston lernten sich in der Grund­schule kennen. Schon als Kind sei sie wild und furchtlos gewesen; später besuchte sie das erste Frauen-College der USA, das Mount Holyoke College in South Hadley, Massa­chus­setts, eine Hoch­burg der Suffra­getten. Später würde Holloway sich nur deshalb auf das poly­game Arran­ge­ment einlassen, weil es ihr erlaubte, voll berufs­tätig zu sein. Olive Byrne, die in der Marston-Familie die Mutter­rolle für ihre und Hollo­ways Kinder über­nehmen würde, hatte hoch­pro­mi­nente Verwandt­schaft in der Frau­en­rechts­be­we­gung. Margaret Sanger, die promi­nen­teste Expo­nentin des Birth Control Move­ment und jahre­lang die welt­weit berühm­teste Femi­nistin, war ihre Tante. Wie viel aus dem gemein­samen Leben von Holloway, Byrne und Marston in die Comics einfloss, lässt sich an den sorg­fältig ausge­wählten Illus­tra­tionen nach­ver­folgen, die Lepores Text begleiten. Sadie Holloway, um nur ein Beispiel zu nennen, stammte von der Isle of Man, Wonder Woman von der Frau­en­insel der Amazonen. Und Olive Byrne war es, die mit den breiten Armbän­dern daherkam, die zu Wonder Womans magi­schen Acces­soires werden sollten.

Nach außen präsen­tierte sich die unkon­ven­tio­nelle Wohn­ge­mein­schaft aber als biedere Familie. Olive Byrne gab die Witwe, die sich um den Haus­halt kümmerte, und alle mitein­ander arbei­teten an der gemein­samen Secret Iden­tity mit tradi­tio­nell verteilten Rollen. Dazu gehörte, dass Marston – dessen ausge­prägtem Ego dieses Arran­ge­ment sicher entge­genkam – als Autor, Denker und Macher in Erschei­nung trat, während die Frauen im Hinter­grund blieben. Das ging so weit, dass jede Spur der engen Verbin­dung, die zwischen Olive Byrne und ihrer Tante Margaret Sanger bestand, für die Öffent­lich­keit verwischt wurde. Wie sorgsam das Image gepflegt wurde, konnte Lepore bei der Sich­tung der Fami­li­en­ar­chive fest­stellen. Insbe­son­dere Byrne über­legte sich ganz genau, was sie der Nach­welt über­lassen wollte und was nicht. Lepore folgert: “Marston, Holloway und Byrne hatten ein geheimes, abge­schirmtes Privat­leben geführt. Das hatte seinen Preis.“ Eine der wich­tigsten Erkennt­nisse des Femi­nismus nach 68, nämlich, dass das Private immer poli­tisch ist, hatte keinen Platz in Mars­tons kleiner Schreib­fa­brik – mit dem Resultat, dass Holloway und Byrnes Anteil an Wonder Woman ohne Lepores Recher­chen unsichtbar geblieben wäre.

Eigent­lich geht es Lepore darum, ein Stück unbe­kannte Geschichte der Frau­en­be­we­gung aufzu­ar­beiten und exem­pla­risch sichtbar zu machen, welche Konse­quenzen es hat, wenn sich Frauen wegen ihres unkon­ven­tio­nellen Privat­le­bens und der Angst vor Sank­tionen und Repres­sa­lien hinter einem Mann verste­cken müssen. Im Fall von Olive Byrne betrifft das Schweigen nicht nur ihre Mitar­beit an Mars­tons Werk, sondern auch ihre Mutter­schaft. Zwei der vier Kinder, die offi­ziell zu Holloway und Marston gehörten, hat sie geboren. Erfahren haben es die beiden aber erst, als sie längst erwach­sene Männer waren.

Wonder Woman und ihr Lasso, o.J.; Quelle: comicbookherald.com

Doch die Entde­ckung des femi­nis­ti­schen Netz­werks, aus dem heraus die Wonder-Woman-Comics entstanden sind, ist nicht der einzige Grund, warum sich die Lektüre des Buches lohnt. Ganz nebenbei und ohne sich selbst über­mäßig dafür zu inter­es­sieren, leistet Lepore einen wich­tigen Beitrag zur Analyse der Popu­lär­kultur im 20. Jahr­hun­dert. Indem sie die Narra­tive der Comics heraus­prä­pa­riert und deren Bezüge zu femi­nis­ti­schen Posi­tionen sichtbar macht, indem sie die Debatten nach­zeichnet und einordnet, die durch die Aben­teuer der Super­heldin entfes­selt wurden, lässt sie die Welt von Wonder Woman als Aushand­lungs­raum von zentralen gesell­schaft­li­chen Fragen erscheinen. Wenn man bedenkt, wie emotional die Diskus­sion rund um das „Gendern“ gegen­wärtig geführt wird, verwun­dert es nicht, dass Wonder Woman in den letzten Jahren erneut ein Revival hatte. Es wird nicht das letzte gewesen sein.

Jill Lepore: Die geheime Geschichte von Wonder Woman, München. C.H. Beck 2022