Der Apartheidstaat konnte sich auch dank seiner guten Beziehungen zur Schweiz so lange halten. Zwei Jahrzehnte nach dem Übergang zur Demokratie leiden die Apartheidopfer immer noch an ihren Verletzungen. Die Schweiz sollte auf ihre Forderungen hören.

  • Rita Kesselring

    Rita Kesselring lehrt Ethnologie an der Universität Basel, ist Autorin des Buches Bodies of Truth und wirkt im Ausschuss der Kampagne für Entschuldung und Entschädigung im Südlichen Afrika mit.

Drei­und­zwanzig Jahre nach der ersten demo­kra­ti­schen Wahl in Südafrika steht das Land wieder am Schei­deweg. Wird es den Südafri­ka­nern gelingen, dem Erbe der Apart­heid wirt­schaft­liche Umver­tei­lung und die Aner­ken­nung unter­schied­li­cher histo­ri­scher Erfah­rungen entge­gen­zu­setzen, oder werden Geschäfts- und Regie­rungs­prak­tiken im Inter­esse einer kleinen Elite und inter­na­tio­naler Inves­toren weiter­ge­führt? Die Antwort auf diese Frage wird sich auch an den Forde­rungen der Apart­heid­opfer messen lassen müssen.

Die Schweiz ist in die Proble­matik seit langem invol­viert: Durch die Nicht­teil­nahme an der inter­na­tio­nalen Sank­ti­ons­po­litik spielte sie – d.h. der Schweizer Finanz­platz und seine enge Bezie­hung zur Schweizer Regie­rung – eine direkte Rolle bei der Aufrecht­erhal­tung des Apart­heid­re­gimes. Die offi­zi­elle Schweiz sollte sich daher heute auf ihre Verant­wor­tung besinnen. Immerhin konnte sich die Apart­heid – ein Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit –nur aufgrund der inter­na­tio­nalen Duldung und Förde­rung halten. Genauso inter­na­tional hätte die Wieder­gut­ma­chung sein sollen. Im Moment tragen die Opfer, zusammen mit den jungen Gene­ra­tionen, die Bürde jedoch alleine.

Pretoria, Ende März

Ende März hat der südafri­ka­ni­sche Präsi­dent Jacob Zuma ein Drittel des Kabi­netts über Nacht gefeuert, darunter auch den inter­na­tional aner­kannten Finanz­mi­nister Pravin Gordhan. Der Kurs des Rand ist anschlies­send sofort einge­bro­chen. Die junge und laut­starke Oppo­si­ti­ons­partei Economic Freedom Figh­ters (EFF) droht damit, ein Amts­ent­he­bungs­ver­fahren im obersten Gerichtshof einzu­rei­chen, und die grösste Oppo­si­ti­ons­partei, die Demo­cratic Alli­ance (DA), will im Parla­ment ein Miss­trau­ens­votum gegen den Präsi­denten durch­bringen. Vor ein paar Tagen hat selbst die grösste und regie­rungs­nahe Gewerk­schaft COSATU Zumas Rück­tritt gefor­dert. Die Entlas­sungen und die Ereig­nisse der letzten Monate zeigen, wie tief der African National Congress (ANC) gespalten ist, und wie viel auf dem Spiel steht.

Achmed Kath­rada vor einem Bild Nelson Mandelas, 2.4.2016; Quelle: timeslive.co.za

Die Entlas­sung der Minister kam nur einen Tag nach der Beer­di­gung des bekannten Anti-Apartheid Frei­heits­kämpfer Achmed Kath­rada, der mit Nelson Mandela 26 Jahre auf Robben Island in Haft war. Präsi­dent Zuma war explizit von der Teil­nahme an der Beer­di­gung ausge­laden worden. Kath­radas Witwe Barbara Hogan, eine wich­tige Persön­lich­keit im ANC und frühere Minis­terin, drückte ihre Enttäu­schung deut­lich aus. Die Entlas­sungen gleich nach dem Tod ihres Mannes seien ein Affront ihrer Familie und dem Land gegen­über; der Präsi­dent handle wie ein „Schurke“. Zuma übe Verrat am Kampf gegen die Unter­drü­ckung der schwarzen Mehr­heits­be­völ­ke­rung durch eine kleine, weisse Minderheit.

Solche moralisch-politischen Anschul­di­gungen sind in Südafrika normal. Fast jeder, der eine öffent­liche Rolle spielt, wird im Rahmen seiner oder ihrer Wider­stands­ge­schichte gegen das Apart­heid­re­gime beur­teilt. Struggle creden­tials spielen eine Rolle, um einen Posten zu bekommen, aber sie werden auch heran­ge­zogen, wenn die Leis­tungen der Amts­träger nicht über­zeugen. Viele Südafri­kaner beur­teilen ihre Regie­rungs­ver­treter nach ihrer Aufrich­tig­keit in der Fort­füh­rung des Erbes Mandelas und des Frei­heits­kampfes. Helden- und Opfer­sein, Ein- und Ausschluss, Wiedergutmachungs- und Berei­che­rungs­an­sprüche werden fast ausschliess­lich auf dieser sehr poli­ti­sierten Ebene ausge­han­delt; Legi­ti­mität wird nach wie vor mehr aus der Vergan­gen­heit als aus der Regie­rungs­leis­tung heute gewonnen, auch wenn etwa mit der Studie­ren­den­be­we­gung klare Zeichen einer Verän­de­rung zu sehen sind.

Warum finden Apartheid-Opfer heute so wenig Beachtung?

Als zur Bewäl­ti­gung der Vergan­gen­heit die Wahrheits- und Versöh­nungs­kom­mis­sion (Truth and Recon­ci­lia­tion Commis­sion, TRC) kurz nach der Tran­si­tion zur Demo­kratie im Jahr 1994 einge­setzt wurde, war das Opfer­sein im Rampen­licht. Die TRC nahm während 18 Monaten an verschie­denen Orten im Land Geständ­nisse von Tätern und Berichte von Opfern entgegen. Die Zeug­nisse wurden täglich über Radio und TV ausge­strahlt, und viele Gewalt­er­fah­rungen wurden zum ersten Mal öffent­lich ausge­spro­chen. Die Kommis­sion nahm unge­fähr 20’000 Zeug­nisse von Opfern entgegen und schrieb schliess­lich ca. 16’000 Menschen den formellen Status eines Opfers zu. Die Liste der 16’000 Opfer wurde zur auto­ri­ta­tiven und abschlies­senden Bilanz.

Für die südafri­ka­ni­sche Politik war die Apart­heid­ver­gan­gen­heit mit der Arbeit der Kommis­sion erle­digt. Dazu gehört, dass nicht amnes­tierte Täter entgegen den Ankün­di­gungen nie verfolgt wurden und es zahl­reiche täter­freund­liche Versuche von Seiten der Regie­rung gab, über die Lauf­zeit der Wahr­heits­kom­mis­sion hinaus Amnes­tien auszusprechen.

Die Liste der 16’000 schliesst bis heute sehr viele Apart­heid­opfer vom offi­zi­ellen Status des „Opfers“ aus. Es gab viele Gründe, nicht vor der Kommis­sion auszu­sagen. Ein wich­tiger war die fehlende Bereit­schaft, über schmerz­hafte Erfah­rungen zu spre­chen. Zudem legte die Kommis­sion den Fokus auf soge­nannte schwere Menschen­rechts­ver­let­zungen – in einem Land, in dem der größte Teil der Bevöl­ke­rung unter syste­ma­ti­schen Menschen­rechts­ver­let­zungen gelitten hatte.

Der Ausschluss vieler Erfah­rungen als Folge der kurzen Lauf­zeit der Kommis­sion und dem engen Mandat auf schwere Menschen­rechts­ver­let­zungen hat diskur­sive und reale Konse­quenzen bis heute. Es bildete sich eine gesell­schaft­lich sehr enge Wahr­neh­mung davon heraus, wer als Opfer gelten kann. Struk­tu­relle Gewalt und Gewalt gegen Frauen zum Beispiel fanden in dem auf indi­vi­du­elle Opfer­ge­schichten konzen­trierten Aufar­bei­tungs­pro­zess keinen Raum.

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Heute gibt es wenig öffent­li­ches Verständnis dafür, dass Verlet­zungen anhalten können und dass eine stell­ver­tre­tende Geste der Aner­ken­nung für die tausenden von ausge­schlos­senen Opfern nicht reicht. Im Kontext einer Politik, die poli­ti­sche Legi­ti­mität aus der Rolle während der Apart­heid­re­gime schöpft, wird im öffent­li­chen Diskurs das Opfer­sein primär von den Helden her gedacht – das heisst von denen her, die es „geschafft“ haben, die sich erfolg­reich in die post-Apartheid-Gesellschaft inte­grieren konnten. Jene aber, die heute Wieder­gut­ma­chung oder sogar die Wieder­eröff­nung der TRC fordern, weil sie mit den Lang­zeit­folgen der Verlet­zungen hadern, werden als unpa­trio­tisch beschimpft. Es sind oft Leute, die weder eine beein­dru­ckende Wider­stands­ge­schichte noch Jahre im Exil vorweisen können.

Opfer­er­fah­rungen abseits des domi­nanten Diskurses

Der gegen­wär­tige domi­nante Opfer­dis­kurs in Südafrika verzerrt das Vermächtnis der Apart­heid im heutigen Alltag. Ein Opfer soll versöh­nungs­willig, sozial und vorwärts­schauend sein – ein Bild, das von (meist männ­li­chen) Apart­heid­ve­te­ranen domi­niert wird. Die meisten, die sich selber als Opfer bezeichnen, passen in dieses diskur­sive Schema jedoch nicht hinein. Sie haben auch nach dem Ende der Apart­heid keine wirt­schaft­li­chen Erfolge vorzu­weisen und konnten ihre Erfah­rungen nicht in Stärke und Verge­bung umsetzen. Aus ihrer schwa­chen Lage heraus haben sie entspre­chend Mühe, poli­tisch anschluss­fähig für eine Öffnung der Kate­gorie des Opfers zu argumentieren.

Die landes­weit grösste Opfer­or­ga­ni­sa­tion, die Khulu­mani Support Group mit ihren über 100’000 Mitglie­dern, versucht diesen Schritt zu leisten. Doch auch sie kann die aus kollek­tiver Verlet­zung resul­tie­rende Span­nung nicht über­winden; sie verfängt sich seit Jahren in einer Politik des Ankla­gens, ohne wirk­lich Zugang zu den Entschei­dungs­trä­gern zu bekommen.

Versamm­lung einer Khulu­mani Support Group, Cape Town, Western Cape, November 2011; Foto: Rita Kesselring

Radi­kale Alter­na­tiven des Zusam­men­seins werden im kleinen Rahmen und abseits öffent­li­cher diskur­siver Formen gelebt. Unter Frauen, oft Mitglieder bei Khulu­mani, öffnen sich solche Räume im alltäg­li­chen Rahmen. Ältere Frauen treffen einander und knüpfen an den gemein­samen Erfah­rungen und der gemein­samen Situa­tion an. Bei diesen Treffen wird das Opfer­sein selten zum expli­ziten Thema. Man teilt still­schwei­gend die Erfah­rungen von struk­tu­reller und episo­discher Gewalt unter der Apart­heid und ihre körper­li­chen Auswir­kungen heute: Blut­hoch­druck, Arthrose und schlecht geheilte Wunden. Die Belas­tungen heute sind vergleichbar – etwa die Sorge für eine Gene­ra­tion von oftmals behin­derten und trau­ma­ti­sierten, längst erwach­senen Kindern, und Enkel­kinder, die ohne wirk­liche Aufstiegs­mög­lich­keiten mithilfe der staat­li­chen Rente der Groß­mütter gross­ge­zogen werden.

Der recht­liche Kampf um Anerkennung

Solche unspek­ta­ku­lären und unauf­fäl­ligen Zusam­men­künfte sind in dem Sinne radikal, als sie dazu beitragen, neue Sozia­li­täten zu schaffen, die noch nicht diskursiv einordbar oder arti­ku­lierbar sind. Sie wenden sich nicht explizit und bewusst gegen einen Diskurs – auch, weil die Frauen nur selten Wege finden, ihre Erfah­rungen öffent­lich wirksam zu machen. Solche gelebten Formen von Soli­da­rität unter­ein­ander sind fragil und tragen das Risiko einer erneuten Isolie­rung von der brei­teren Gesell­schaft in sich, aber sie können auch den Keim der Entste­hung neuer poli­ti­scher Subjek­ti­vität unter Opfern in sich tragen.

Verschie­dene Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tionen unter­stützen die Anliegen von Opfern in konven­tio­nel­leren poli­ti­schen und juris­ti­schen Foren. Zwischen diesen NGOs und Khulu­mani gibt es aber Span­nungen. Wer spricht für wen? Wer hat die Auto­rität, über das Opfer­sein zu spre­chen? Nach einem 14-jährigen weit­ge­hend erfolg­losen Kampf vor ameri­ka­ni­schen Gerichten gegen Konzerne (unter anderem gegen Schweizer Banken), die für ihre Mitver­ant­wor­tung für Menschen­rechts­ver­let­zungen ange­klagt waren, strengt nun dennoch eine Koali­tion von poli­ti­schen NGOs zusammen mit Khulu­mani eine Klage gegen das eigene Justiz­mi­nis­te­rium an. Es geht um den Ausschluss tausender Menschen vom dama­ligen Wieder­gut­ma­chungs­pro­zess und um die gene­rellen Versäum­nisse der Regie­rung, die Empfeh­lungen der Wahr­heits­kom­mis­sion umzusetzen.

Und die Schweiz?

Hat die heutige Situa­tion derer, die unter der Apart­heid gelitten haben, etwas mit der Schweiz zu tun? In einem Natio­nalen Forschungs­pro­gramm ( NFP 42+) wurde die Rolle der Schweiz während der Apart­heid schon vor Jahren teil­weise aufge­ar­beitet, bis der Bundesrat im Jahr 2003 den Forsche­rinnen und Forschern in dem von ihm beauf­tragten Projekt den Akten­zu­gang sperrte. Der Bundesrat begrün­dete diesen Schritt explizit mit den in den USA hängigen Klagen: die ange­klagten Schweizer Banken sollten nicht gegen­über auslän­di­schen Beklagten benach­tei­ligt werden. Zu dem dennoch sehr aufschluss­rei­chen Schluss­be­richt (Georg Kreis, Die Schweiz und Südafrika 1948-1994, 2005) nahm der Bundesrat nie Stellung.

Mamo­sadi Cathe­rine Mlan­geni mit einem Porträt ihres unter der Apart­heid getö­teten Sohnes, 2010, Soweto, Johan­nes­burg; Quelle: jctj.org

Die Ereig­nisse der letzten Wochen zeigen noch­mals, dass der Umbau in Südafrika noch lange nicht abge­schlossen ist. Die Mehr­zahl der Südafri­ka­ne­rInnen leidet noch heute direkt an den Folgen der Apart­heid – einem System, das sich unter anderem dank der guten Bezie­hungen zwischen der Schweiz und dem Apart­heid­staat halten konnte. Falls die neuste Klage in Südafrika Erfolg haben sollte, würde dies auch eine Wieder­auf­nahme der Frage von Mitschuld und Wieder­gut­ma­chungs­leis­tungen bedeuten. Bisher hat die Schweiz – explizit ohne damit irgend­eine Mitschuld anzu­er­kennen – ledig­lich etwa eine halbe Million Franken zum soge­nannten President’s Fund für Zahlungen an Opfer der Apart­heid beigetragen.

Die Schweiz sollte die Anstösse, die aus Südafrika kommen, aufnehmen und zum Umbau beitragen. Eine Folge­studie zum NFP 42+ und Wieder­gut­ma­chungen an die Opfer wären ein erster Schritt.