Dreiundzwanzig Jahre nach der ersten demokratischen Wahl in Südafrika steht das Land wieder am Scheideweg. Wird es den Südafrikanern gelingen, dem Erbe der Apartheid wirtschaftliche Umverteilung und die Anerkennung unterschiedlicher historischer Erfahrungen entgegenzusetzen, oder werden Geschäfts- und Regierungspraktiken im Interesse einer kleinen Elite und internationaler Investoren weitergeführt? Die Antwort auf diese Frage wird sich auch an den Forderungen der Apartheidopfer messen lassen müssen.
Die Schweiz ist in die Problematik seit langem involviert: Durch die Nichtteilnahme an der internationalen Sanktionspolitik spielte sie – d.h. der Schweizer Finanzplatz und seine enge Beziehung zur Schweizer Regierung – eine direkte Rolle bei der Aufrechterhaltung des Apartheidregimes. Die offizielle Schweiz sollte sich daher heute auf ihre Verantwortung besinnen. Immerhin konnte sich die Apartheid – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit –nur aufgrund der internationalen Duldung und Förderung halten. Genauso international hätte die Wiedergutmachung sein sollen. Im Moment tragen die Opfer, zusammen mit den jungen Generationen, die Bürde jedoch alleine.
Pretoria, Ende März
Ende März hat der südafrikanische Präsident Jacob Zuma ein Drittel des Kabinetts über Nacht gefeuert, darunter auch den international anerkannten Finanzminister Pravin Gordhan. Der Kurs des Rand ist anschliessend sofort eingebrochen. Die junge und lautstarke Oppositionspartei Economic Freedom Fighters (EFF) droht damit, ein Amtsenthebungsverfahren im obersten Gerichtshof einzureichen, und die grösste Oppositionspartei, die Democratic Alliance (DA), will im Parlament ein Misstrauensvotum gegen den Präsidenten durchbringen. Vor ein paar Tagen hat selbst die grösste und regierungsnahe Gewerkschaft COSATU Zumas Rücktritt gefordert. Die Entlassungen und die Ereignisse der letzten Monate zeigen, wie tief der African National Congress (ANC) gespalten ist, und wie viel auf dem Spiel steht.

Achmed Kathrada vor einem Bild Nelson Mandelas, 2.4.2016; Quelle: timeslive.co.za
Die Entlassung der Minister kam nur einen Tag nach der Beerdigung des bekannten Anti-Apartheid Freiheitskämpfer Achmed Kathrada, der mit Nelson Mandela 26 Jahre auf Robben Island in Haft war. Präsident Zuma war explizit von der Teilnahme an der Beerdigung ausgeladen worden. Kathradas Witwe Barbara Hogan, eine wichtige Persönlichkeit im ANC und frühere Ministerin, drückte ihre Enttäuschung deutlich aus. Die Entlassungen gleich nach dem Tod ihres Mannes seien ein Affront ihrer Familie und dem Land gegenüber; der Präsident handle wie ein „Schurke“. Zuma übe Verrat am Kampf gegen die Unterdrückung der schwarzen Mehrheitsbevölkerung durch eine kleine, weisse Minderheit.
Solche moralisch-politischen Anschuldigungen sind in Südafrika normal. Fast jeder, der eine öffentliche Rolle spielt, wird im Rahmen seiner oder ihrer Widerstandsgeschichte gegen das Apartheidregime beurteilt. Struggle credentials spielen eine Rolle, um einen Posten zu bekommen, aber sie werden auch herangezogen, wenn die Leistungen der Amtsträger nicht überzeugen. Viele Südafrikaner beurteilen ihre Regierungsvertreter nach ihrer Aufrichtigkeit in der Fortführung des Erbes Mandelas und des Freiheitskampfes. Helden- und Opfersein, Ein- und Ausschluss, Wiedergutmachungs- und Bereicherungsansprüche werden fast ausschliesslich auf dieser sehr politisierten Ebene ausgehandelt; Legitimität wird nach wie vor mehr aus der Vergangenheit als aus der Regierungsleistung heute gewonnen, auch wenn etwa mit der Studierendenbewegung klare Zeichen einer Veränderung zu sehen sind.
Warum finden Apartheid-Opfer heute so wenig Beachtung?
Als zur Bewältigung der Vergangenheit die Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, TRC) kurz nach der Transition zur Demokratie im Jahr 1994 eingesetzt wurde, war das Opfersein im Rampenlicht. Die TRC nahm während 18 Monaten an verschiedenen Orten im Land Geständnisse von Tätern und Berichte von Opfern entgegen. Die Zeugnisse wurden täglich über Radio und TV ausgestrahlt, und viele Gewalterfahrungen wurden zum ersten Mal öffentlich ausgesprochen. Die Kommission nahm ungefähr 20’000 Zeugnisse von Opfern entgegen und schrieb schliesslich ca. 16’000 Menschen den formellen Status eines Opfers zu. Die Liste der 16’000 Opfer wurde zur autoritativen und abschliessenden Bilanz.
Für die südafrikanische Politik war die Apartheidvergangenheit mit der Arbeit der Kommission erledigt. Dazu gehört, dass nicht amnestierte Täter entgegen den Ankündigungen nie verfolgt wurden und es zahlreiche täterfreundliche Versuche von Seiten der Regierung gab, über die Laufzeit der Wahrheitskommission hinaus Amnestien auszusprechen.
Die Liste der 16’000 schliesst bis heute sehr viele Apartheidopfer vom offiziellen Status des „Opfers“ aus. Es gab viele Gründe, nicht vor der Kommission auszusagen. Ein wichtiger war die fehlende Bereitschaft, über schmerzhafte Erfahrungen zu sprechen. Zudem legte die Kommission den Fokus auf sogenannte schwere Menschenrechtsverletzungen – in einem Land, in dem der größte Teil der Bevölkerung unter systematischen Menschenrechtsverletzungen gelitten hatte.
Der Ausschluss vieler Erfahrungen als Folge der kurzen Laufzeit der Kommission und dem engen Mandat auf schwere Menschenrechtsverletzungen hat diskursive und reale Konsequenzen bis heute. Es bildete sich eine gesellschaftlich sehr enge Wahrnehmung davon heraus, wer als Opfer gelten kann. Strukturelle Gewalt und Gewalt gegen Frauen zum Beispiel fanden in dem auf individuelle Opfergeschichten konzentrierten Aufarbeitungsprozess keinen Raum.
Heute gibt es wenig öffentliches Verständnis dafür, dass Verletzungen anhalten können und dass eine stellvertretende Geste der Anerkennung für die tausenden von ausgeschlossenen Opfern nicht reicht. Im Kontext einer Politik, die politische Legitimität aus der Rolle während der Apartheidregime schöpft, wird im öffentlichen Diskurs das Opfersein primär von den Helden her gedacht – das heisst von denen her, die es „geschafft“ haben, die sich erfolgreich in die post-Apartheid-Gesellschaft integrieren konnten. Jene aber, die heute Wiedergutmachung oder sogar die Wiedereröffnung der TRC fordern, weil sie mit den Langzeitfolgen der Verletzungen hadern, werden als unpatriotisch beschimpft. Es sind oft Leute, die weder eine beeindruckende Widerstandsgeschichte noch Jahre im Exil vorweisen können.
Opfererfahrungen abseits des dominanten Diskurses
Der gegenwärtige dominante Opferdiskurs in Südafrika verzerrt das Vermächtnis der Apartheid im heutigen Alltag. Ein Opfer soll versöhnungswillig, sozial und vorwärtsschauend sein – ein Bild, das von (meist männlichen) Apartheidveteranen dominiert wird. Die meisten, die sich selber als Opfer bezeichnen, passen in dieses diskursive Schema jedoch nicht hinein. Sie haben auch nach dem Ende der Apartheid keine wirtschaftlichen Erfolge vorzuweisen und konnten ihre Erfahrungen nicht in Stärke und Vergebung umsetzen. Aus ihrer schwachen Lage heraus haben sie entsprechend Mühe, politisch anschlussfähig für eine Öffnung der Kategorie des Opfers zu argumentieren.
Die landesweit grösste Opferorganisation, die Khulumani Support Group mit ihren über 100’000 Mitgliedern, versucht diesen Schritt zu leisten. Doch auch sie kann die aus kollektiver Verletzung resultierende Spannung nicht überwinden; sie verfängt sich seit Jahren in einer Politik des Anklagens, ohne wirklich Zugang zu den Entscheidungsträgern zu bekommen.

Versammlung einer Khulumani Support Group, Cape Town, Western Cape, November 2011; Foto: Rita Kesselring
Radikale Alternativen des Zusammenseins werden im kleinen Rahmen und abseits öffentlicher diskursiver Formen gelebt. Unter Frauen, oft Mitglieder bei Khulumani, öffnen sich solche Räume im alltäglichen Rahmen. Ältere Frauen treffen einander und knüpfen an den gemeinsamen Erfahrungen und der gemeinsamen Situation an. Bei diesen Treffen wird das Opfersein selten zum expliziten Thema. Man teilt stillschweigend die Erfahrungen von struktureller und episodischer Gewalt unter der Apartheid und ihre körperlichen Auswirkungen heute: Bluthochdruck, Arthrose und schlecht geheilte Wunden. Die Belastungen heute sind vergleichbar – etwa die Sorge für eine Generation von oftmals behinderten und traumatisierten, längst erwachsenen Kindern, und Enkelkinder, die ohne wirkliche Aufstiegsmöglichkeiten mithilfe der staatlichen Rente der Großmütter grossgezogen werden.
Der rechtliche Kampf um Anerkennung
Solche unspektakulären und unauffälligen Zusammenkünfte sind in dem Sinne radikal, als sie dazu beitragen, neue Sozialitäten zu schaffen, die noch nicht diskursiv einordbar oder artikulierbar sind. Sie wenden sich nicht explizit und bewusst gegen einen Diskurs – auch, weil die Frauen nur selten Wege finden, ihre Erfahrungen öffentlich wirksam zu machen. Solche gelebten Formen von Solidarität untereinander sind fragil und tragen das Risiko einer erneuten Isolierung von der breiteren Gesellschaft in sich, aber sie können auch den Keim der Entstehung neuer politischer Subjektivität unter Opfern in sich tragen.
Verschiedene Nichtregierungsorganisationen unterstützen die Anliegen von Opfern in konventionelleren politischen und juristischen Foren. Zwischen diesen NGOs und Khulumani gibt es aber Spannungen. Wer spricht für wen? Wer hat die Autorität, über das Opfersein zu sprechen? Nach einem 14-jährigen weitgehend erfolglosen Kampf vor amerikanischen Gerichten gegen Konzerne (unter anderem gegen Schweizer Banken), die für ihre Mitverantwortung für Menschenrechtsverletzungen angeklagt waren, strengt nun dennoch eine Koalition von politischen NGOs zusammen mit Khulumani eine Klage gegen das eigene Justizministerium an. Es geht um den Ausschluss tausender Menschen vom damaligen Wiedergutmachungsprozess und um die generellen Versäumnisse der Regierung, die Empfehlungen der Wahrheitskommission umzusetzen.
Und die Schweiz?
Hat die heutige Situation derer, die unter der Apartheid gelitten haben, etwas mit der Schweiz zu tun? In einem Nationalen Forschungsprogramm ( NFP 42+) wurde die Rolle der Schweiz während der Apartheid schon vor Jahren teilweise aufgearbeitet, bis der Bundesrat im Jahr 2003 den Forscherinnen und Forschern in dem von ihm beauftragten Projekt den Aktenzugang sperrte. Der Bundesrat begründete diesen Schritt explizit mit den in den USA hängigen Klagen: die angeklagten Schweizer Banken sollten nicht gegenüber ausländischen Beklagten benachteiligt werden. Zu dem dennoch sehr aufschlussreichen Schlussbericht (Georg Kreis, Die Schweiz und Südafrika 1948-1994, 2005) nahm der Bundesrat nie Stellung.

Mamosadi Catherine Mlangeni mit einem Porträt ihres unter der Apartheid getöteten Sohnes, 2010, Soweto, Johannesburg; Quelle: jctj.org
Die Ereignisse der letzten Wochen zeigen nochmals, dass der Umbau in Südafrika noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Mehrzahl der SüdafrikanerInnen leidet noch heute direkt an den Folgen der Apartheid – einem System, das sich unter anderem dank der guten Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Apartheidstaat halten konnte. Falls die neuste Klage in Südafrika Erfolg haben sollte, würde dies auch eine Wiederaufnahme der Frage von Mitschuld und Wiedergutmachungsleistungen bedeuten. Bisher hat die Schweiz – explizit ohne damit irgendeine Mitschuld anzuerkennen – lediglich etwa eine halbe Million Franken zum sogenannten President’s Fund für Zahlungen an Opfer der Apartheid beigetragen.
Die Schweiz sollte die Anstösse, die aus Südafrika kommen, aufnehmen und zum Umbau beitragen. Eine Folgestudie zum NFP 42+ und Wiedergutmachungen an die Opfer wären ein erster Schritt.