Kennen Sie das Lied „Tout va très bien, madame la marquise“ des französischen Komponisten Paul Misraki? Es ist dieses Lied, das unserem Autor Zaal Andronikashvili nach dem „Ibizagate“ in den Sinn kam.

  • Zaal Andronikashvili

    Zaal Andronikashvili ist Literaturwissenschaftler. Er arbeitet am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Dort koordiniert er ein Projekt über die "Kulturelle Semantik des Schwarzen Meeres".

1935 schrieb der in Konstan­ti­nopel in eine sephar­di­sche Familie gebo­rene fran­zö­si­sche Kompo­nist und Chan­son­nier Paul Misraki ein Lied, das zum Schlager wurde: „Tout va très bien, madame la marquise.“ In diesem Lied ruft eine Marquise nach einer längeren Abwe­sen­heit zu Hause an, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkun­digen. Der Diener am Telefon beteuert, alles sei bestens – mit Ausnahme eines kleinen Zwischen­falls: Ihr Lieb­lings­pferd sei gestorben. Die leicht besorgte Marquise fragt nach, wie es dazu gekommen sei. Der Diener sagt ihr, dass das Pferd bei einem Brand im Stall umge­kommen sei, aber sonst sei alles bestens. Die Marquise, deren Sorge wächst, fragt nach, wie denn der Stall abge­brannt sei. Der Diener antwortet, der Stall habe erst, nachdem das Schloss in Flammen gestanden habe, Feuer gefangen, sonst aber sei alles in bester Ordnung. Nun fragt die voll­ends beun­ru­higte Marquise, was denn zum Schloss­brand geführt habe. Der Diener erzählt ihr daraufhin, dass ihr Mann von seinem Bank­rott erfahren und sich das Leben genommen habe, dass dabei eine Kerze umge­fallen sei, die das Schloss in Brand gesteckt habe, woraufhin auch der Stall zu brennen begonnen habe und schließ­lich das Pferd der Marquise im Feuer umge­kommen sei. Sonst aber sei alles bestens. Der Spruch „Tout va très bien, madame la marquise“ ist inzwi­schen sprich­wört­lich für jede Art von Schönrednerei.

„Alles bestens?“

Ich möchte dieses Lied nun als eine Art Stimm­gabel benutzen, um auf ein euro­päi­sches Problem einzu­stimmen: auf das „Ibiz­agate“. Ist nach dem Rück­tritt des von der ganzen Welt verspot­teten öster­rei­chi­schen Vize­kanz­lers „sonst alles bestens“? Immerhin ist Heinz-Christian Strache inzwi­schen mit sämt­li­chen Minister*innen seiner Partei, die an der Koali­ti­ons­re­gie­rung in Öster­reich betei­ligt waren, zurück­ge­treten. Wurde der euro­päi­sche Rechts­po­pu­lismus bzw. der von der FPÖ nun endgültig vorge­führt? Immerhin wissen wir nun, dass Strache einer vermeint­li­chen russi­schen Olig­ar­chen­nichte Regie­rungs­auf­träge im Austausch gegen groß­zü­gige ille­gale Partei­spenden in Aussicht stellen wollte. Oder müssen wir hinter diesem „kleinen Zwischen­fall“ ein größeres Problem, wenn nicht gar eine Kata­strophe vermuten?

Die taz schrieb dazu am 18. Mai 2019:

Wenn wir aus West­eu­ropa nach Osten schauen, mag uns ein leichtes Frös­teln über­kommen, weil wir nicht wissen, ob wir in die Zukunft sehen oder in unsere Vergan­gen­heit. Was haben wir uns gegru­selt, als wir nach Polen schauten und nach Ungarn, denn da – na klar. Aber bei uns im Westen, nein, da passiert so etwas nicht mehr: Auto­ri­täre Macht­über­nahme, Medi­en­kon­trolle, Gesetze, mit denen sich Arbeiter*innen leichter ausbeuten lassen, Freunde von Poli­ti­kern, die plötz­lich ganz reich werden.

Der Skandal – und die taz weist darauf ironisch hin – besteht nicht etwa in der Korrum­pier­bar­keit der Politik an sich, sondern viel­mehr darin, dass etwas, was wir von anderswo, aus dem Osten oder aus dem Süden zu kennen glauben, sich in West­eu­ropa ereignet. Eine reiche Firma kommt in ein armes Land, kauft die Exeku­tive und die Legis­la­tive, die Judi­ka­tive und die Presse noch dazu und macht das Land zu einer Bana­nen­re­pu­blik. In dieser Rolle kennen wir aber bisher Firmen aus dem Westen, und die Verhält­nisse einer Bana­nen­re­pu­blik sind in West­eu­ropa selbst nicht nur unbe­kannt, sondern unvor­stellbar. (West)Europa in seinem Selbst­ver­ständnis ist im Gegen­teil ein Muster­bei­spiel: ein Ort, an dem die Regeln und besten Prak­tiken für die Demo­kratie, für die Menschen­rechte, für die gute Verwal­tung und Regie­rung gesetzt werden, an denen der Nicht-Westen gemessen wird. „Europas Muster­schüler driftet langsam nach rechts“, schrieb die Süddeut­sche Zeitung kaum zwei Tage nach der Strache-Affäre. Dass mit dieser Schlag­zeile Estland, ein Mitglied der EU, als „Muster­schüler Europas“ beschrieben wurde, zeigt, dass West­eu­ropa in seinem Selbst­bild sich immer noch als Lehrer und Schul­meister in Schale wirft, während es die rest­liche Welt, die osteu­ro­päi­schen Mitglieder der EU mitein­ge­schlossen, in der minder­wer­tigen Posi­tion eines Rezi­pi­enten des in Europa gene­rierten Wissens (Moral, Technik etc.) sieht.

Die Kritik am Euro­zen­trismus, die von Edward Saids Orien­ta­lism (1978) bis Dipesh Chakrab­artys Provin­cia­li­zing Europe. Post­co­lo­nial Thought and Histo­rical Diffe­rence (2000) und weit darüber hinaus Biblio­theken gefüllt und zur Grün­dung ganzer Diszi­plinen wie den Post­co­lo­nial, Deco­lo­nial oder Subal­tern Studies geführt hat, ist am ,prah­le­ri­schen Teen­ager­ge­habe‘ (Strache) der west­eu­ro­päi­schen Selbst­ver­herr­li­chungs­ideo­logie scheinbar abge­prallt, ohne einen Kratzer hinter­lassen zu haben.

Import, Export

Die mora­li­sche Seite dieser Ideo­logie möchte ich an dieser Stelle ausklam­mern und nach ihrer Struktur und ihren Folgen fragen. Die Teilung der vorge­stellten Geogra­phie in den „Westen“ bzw. „West­eu­ropa“ auf der einen und den „Nicht-Westen“ auf der anderen Seite und die Aufwer­tung des Westens zum Muster­bei­spiel zwingen dazu, das Problem nicht innen, sondern außen, bei den nach dieser Logik Imper­fekten zu suchen. Probleme werden außer­halb des Westens gene­riert, sie entstehen nicht im Westen, sondern werden höchs­tens dorthin impor­tiert. Glauben wir wirk­lich, dass Rechts­po­pu­listen nur „verführt“ (und dann vom Mossad vorge­führt) werden, dass Korrup­tion und unde­mo­kra­ti­sches Verhalten unty­pisch für die west­li­chen Demo­kra­tien sind, dass sie eine Ausnahme – wenn kein Import aus Anderswo – sind? Diese Annahme ist aus mindes­tens zwei Gründen problematisch.

Geo Casillas, „Euro­cen­trism“, Quelle: dailytexanonline.com

Erstens: Werden der Rechts­po­pu­lismus und das Unter­wan­dern der Demo­kratie margi­na­li­siert und als etwas für Europa Unty­pi­sches, ja Fremdes darge­stellt, so wird über­sehen, dass beides ja gerade in der Mitte Europas erfunden und dort auf brutalste Weise reali­siert worden ist. Man könnte an dieser Stelle an Karl Marx’ Der acht­zehnte Brumaire des Louis Bona­parte (1852) erin­nern, wo die Urszene des Rechts­po­pu­lismus beschrieben wird: nämlich wie durch die Kombi­na­tion einer Schlä­ger­truppe (Gesell­schaft des 10. Dezember) und popu­lis­ti­schen Parolen („make France great again“) demo­kra­ti­sche Mecha­nismen anti­de­mo­kra­tisch ausge­nutzt werden können und es tatsäch­lich auch werden. Popu­lismus ist eine Schat­ten­seite der Volks­sou­ve­rä­nität. Leser*innen von Dostoevs­kijs Dämonen (1873) werden sich erin­nern, dass das Volk polar aufge­fasst werden kann, sakra­li­siert und beinah vergött­licht bei Alexei Kirillov und zu einem Gesindel und Abschaum herab­ge­wür­digt bei Petr Vercho­venskij – beide Mitglieder ein und derselben revo­lu­tio­nären Unter­grund­gruppe. Dass dieselben, die das Volk für leicht mani­pu­lier­bares Gesindel und Abschaum halten, es gleich­zeitig rheto­risch sakra­li­sieren und die demo­kra­ti­schen Instru­mente skru­pellos ausnutzen können, davon kann die west­eu­ro­päi­sche Geschichte genug Beispiele in allen Regis­tern von der Tragödie bis zur Farce liefern. Doch histo­ri­sche und empi­ri­sche Beispiele reichen viel­leicht nicht aus, um dem Problem näher zu kommen. 

Zwei­tens: Der Rechts­po­pu­lismus lebt von derselben ideo­lo­gi­schen Struktur, die in der bürger­li­chen Mitte Europas zuhause ist. Die Rechts­po­pu­listen wie die öster­rei­chi­sche FPÖ sind während der soge­nannten „Flücht­lings­krise“ zu ihren Wahl­er­folgen gekommen. Die Schre­ckens­vi­sion der Rechts­po­pu­listen von den (stets männ­lich gedachten) Flücht­lingen und Migranten, die raubend, mordend und verge­wal­ti­gend Europa dauer­haft in Besitz nehmen, die auto­chthonen Euro­päer ersetzen und sich ihres hart erar­bei­teten Wohl­stands bemäch­tigen, ist eine Wieder­auf­lage der (histo­risch eben­falls nicht korrekten) euro­päi­schen Geschichte des Einfalls der Vorfahren der heutigen Europäer*innen in das Römi­sche Reich, bis diese die Vorteile des römi­schen Rechtes und der Kana­li­sa­tion für sich entdeckten. Das Brisante am rechts­po­pu­lis­ti­schen Schreck­ge­spenst ist, dass es dieselbe Teilung von Innen/Außen repro­du­ziert, ja von dieser Teilung über­haupt lebt. Der Rechts­po­pu­lismus bemüht also dieselbe intel­lek­tu­elle Figur der Teilung in Westen und Nicht-Westen, die Pro-Europäer auf tägli­cher Basis reproduzieren.

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Der Rechts­po­pu­lismus gaukelt uns vor, dass Probleme nicht in Europa, sondern außer­halb Europas produ­ziert werden und dass Europa, sofern es über­leben möchte, sich von diesem bedroh­li­chen und problem­ge­ne­rie­renden Außen abschotten müsse, durch Stachel­draht, Mauer, Brand­mauer, Eisernen Vorhang oder Ähnliches.

Das rechts­po­pu­lis­ti­sche Schre­ckens­ge­spenst der Inva­sion von Barbaren und des Bevöl­ke­rungs­aus­tau­sches ist eine ideo­lo­gi­sche Maschine, um Probleme aus dem Inneren Europas nach außen zu proji­zieren, um sie dort, draußen oder an den Grenzen Europas, zu bekämpfen. Was macht aber einen Flücht­ling so bedroh­lich? Warum ist diese ideo­lo­gi­sche Maschine erfolg­reich? Hinter dem Schreck­ge­spenst der Rechts­po­pu­listen lauert ein noch schreck­li­cheres Gespenst. In seinem Essay Jargon der Eigent­lich­keit (1964) schrieb Theodor W. Adorno von der „in allen Ange­hö­rigen der hoch­ka­pi­ta­lis­ti­schen Länder lauernde[n], admi­nis­trativ abgewehrte[n] […] Furcht vor Arbeits­lo­sig­keit, selbst in Peri­oden glor­rei­cher Voll­be­schäf­ti­gung.“ Die reale Not, „die perma­nente Drohung des Unter­gangs“ werde „vom Bewusst­sein verar­beitet“. In unserem Fall, viel­leicht etwas anders als bei Adorno, wendet das Bewusst­sein „das[,] wovor ihm graut“, nicht derart, als „wäre es ihm einge­boren“, sondern viel­mehr derart, als käme es von außer­halb. Die „perma­nente Drohung des Unter­gangs“ wird nicht nur geahnt, sondern beschworen und im Flücht­ling exter­na­li­siert. Dessen ‚krimi­nelle‘ und ‚böse‘ Quali­täten werden als Gründe für den drohenden Unter­gang herbei­ge­zogen. Diese Zuschrei­bung verdeckt die wirk­li­chen und durchaus ernsten Probleme, die nicht außer­halb, sondern im Inneren des Westens zuhause sind.

Quelle: dailyscandinavian.com

Der ideo­lo­gi­sche Apparat, der durch die Teilung von Europa und Nicht-Europa in Gang gesetzt wird, funk­tio­niert nur, weil er mit verblüf­fender Einfach­heit erlaubt, jedes euro­päi­sche Problem nach außen zu proji­zieren und glauben zu machen, dass man das Gespenst durch Abgren­zung und Abschot­tung bannen könne. Wenn wir den Mut (und viel­leicht auch die Demut) nicht aufbringen, uns von dem unheil­brin­genden Mythos der euro­päi­schen Ausschließ­lich­keit zu verab­schieden, wenn wir nicht begreifen, dass es keine Teilung in ein über­le­genes Europa und ein minder­wer­tiges Nicht­eu­ropa gibt, wir nicht begreifen, dass die Probleme der Welt – einschließ­lich des Rechts­po­pu­lismus und dessen, wovon der Rechts­po­pu­lismus selbst ein Symptom ist – sich in Europa (und dem Westen) abspielen, wird Europa von der Kata­strophe – sei es der sozialen oder ökolo­gi­schen oder rechts­po­pu­lis­ti­schen – einge­holt werden, die es imaginiert.

Von Søren Kier­ke­gaard, Karl Marx oder Carl Schmitt haben wir lernen können, dass eine Krise weniger eine Ausnahme von der Regel ist, sondern viel­mehr auf den Normal­zu­stand hinweist. Viel­leicht lohnt es sich zu fragen, welche Norma­lität durch Ibiz­agate durch­scheint und was dieser Skandal anderes über die euro­päi­sche Gesell­schaft aussagt als „Tout va très bien, madame la marquise“.