
Michel Foucault an einer Demonstration zur Unterstützuung migrantischer Arbeiter, Paris 1973; Quelle: monoskop.org
Michel Foucault war immer auch ein öffentlicher Intellektueller. Dies war er als Professor am renommierten Collège de France sogar von Amtes wegen. Denn sein Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme war an die Verpflichtung zu öffentlichen Vorträgen gekoppelt. Am 17. März 1976 schloss er eine Reihe solcher Vorträge ab, deren Abschrift zwanzig Jahre später unter dem Titel In Verteidigung der Gesellschaft in Buchform erschien. In diesen Vorlesungen entwickelte der französische Philosoph den Begriff der ‚Biopolitik‘, der seither als ein zentrales Konzept für das Verständnis unserer auf Gesundheit und Wohlfahrt ausgerichteten modernen Gesellschaften gilt.
Angesichts der Debatte um Europas Haltung in der sogenannten Flüchtlingskrise, angesichts von Nato-Draht-Zäunen und der irrlichternden Rede vom Schiessbefehl gegen Flüchtlinge sind die Überlegungen, die Foucault in seinem Abschlussvortrag zum Verhältnis von Biopolitik und Rassismus präsentierte, aktueller denn je. Gut möglich, dass wir – und mit uns der eine oder andere öffentliche Intellektuelle, der gerade das „Lob der Grenze“ anstimmt – noch das eine oder andere von Foucault lernen könnten.
Leben machen
Die Geburt der Biopolitik, so Foucault, transformierte das politische Recht an der Schwelle zwischen früher Neuzeit und Moderne nachhaltig. Nachdem der Inhaber der Staatsgewalt seine Macht bis anhin aus dem Recht des Schwertes schöpfte – dem Recht sterben zu machen oder leben zu lassen („faire mourir et laisser vivre“) – ergänzte und durchdrang die Biopolitik dieses alte Recht der Souveränität mit einer genau umgekehrten Form der Macht: der Macht, leben zu machen und sterben zu lassen („faire vivre et laisser mourir“). Die Biopolitik moderner Normalisierungsgesellschaften habe zum Ziel, „das Leben aufzuwerten, seine Dauer zu verlängern, seine Möglichkeiten zu vervielfachen“.
Wenn man behauptet, dass die Macht im 19. Jahrhundert vom Leben Besitz ergriffen hat oder zumindest, dass die Macht im 19. Jahrhundert das Leben in Beschlag genommen hat, heißt das, dass es ihr gelungen ist, die gesamte Oberfläche abzudecken, die sich vom Organischen zum Biologischen, vom Körper zur Bevölkerung dank des doppelten Spiels der Disziplinartechnologien einerseits, der Regulierungstechnologien andererseits erstreckt. –Michel Foucault
Um dieses Ziel zu erreichen, kommen Macht-Techniken zum Einsatz, die auf der Produktion von detailliertem Wissen über den Zustand der Bevölkerung beruhen und in subtilen Interventionen zur Wirkung gelangen. Dazu stützen sich Normalisierungsgesellschaften insbesondere auf Praktiken, die die Mitglieder der Bevölkerung internalisieren und scheinbar zwanglos mittragen – man denke an die aktuelle Diskussion zur Eigenverantwortung in der Gesundheitsvorsorge. „In Bezug auf Geburten und Sterberate, die verschiedenen biologischen Unzulänglichkeiten, die Auswirkungen des Milieus, über alles das trägt die Bio-Politik Wissen zusammen und definiert sie das Feld ihrer Machtintervention.“
Sterben lassen
Eine durchaus positive Entwicklung, würde man meinen. Gegen die Aufwertung des Lebens gibt es wenig einzuwenden. Das faire vivre prangt allerdings nur auf der einen Seite der Medaille. Auf der anderen, dunkleren, droht das laisser mourir. Die Biopolitik kann auch Bevölkerungsteile sterben lassen, die als Gefahr für Gesundheit und Wohlergehen der Gesamtbevölkerung gelten. Das muss nicht heissen, dass solche Bevölkerungsteile am Rande oder jenseits der Normalität – Deviante, Disfunktionale, Ansteckende – in Normalisierungsgesellschaften direkt getötet würden, auch wenn dies, wie die Geschichte vor allem des 20. Jh. lehrt, vielfach geschehen ist. Oft beschränkt sich das laisser mourir darauf, dass man diesen Menschen die nötige Unterstützung versagt und sie sich selbst überlässt. Damit aber töten unsere von der Optimierung des Lebens besessenen Gesellschaften dennoch in einem ganz handfesten Sinne. Wenn wir mit Foucault unter „Tötung“ ausdrücklich nicht nur den direkten Mord verstehen, „sondern auch alle Formen des indirekten Mordes: jemanden der Gefahr des Todes ausliefern, für bestimmte Leute das Todesrisiko erhöhen oder ganz einfach [die Verfügung des] politischen Tods, der Vertreibung, Abschiebung usw.“, dann morden unsere Gesellschaften sogar zuhauf. Gerade jetzt.
Europas Politik der Grenzsicherung und Obergrenzen liefert an seinen Rändern abertausende Flüchtende einem massiv erhöhten Todesrisiko aus. Syrische Kinder ertrinken an Europas Küsten, weil ihren Familien kein sicherer Landweg offensteht, so dass sie stattdessen in die Arme von Schleppern und auf überfüllte Schlauchboote getrieben werden. Wer es geschafft hat, strandet im Schlamm von Idomeni: der Kälte, dem Regen, dem Hunger und – es ist nur eine Frage der Zeit – Seuchen ausgeliefert. Zur Sicherung des Zugangs zu „Europas Kristallpalast“ (Sloterdijk) sind Schusswaffen und direkte Tötungen unnötig. Gegen von der Flucht erschöpfte Menschen reicht die passive Waffengewalt der rasiermesserscharfen Klingen von Nato-Draht-Verbauungen. Was aber, wenn Europa an seinen Rändern nicht nur sterben, sondern auch töten lässt? Verschiedene Menschenrechtsorganisationen melden – in naturgemäss schwer bestätigbaren Berichten –, dass in den letzten vier Monaten mindestens 16 Personen an der syrisch-türkischen Grenze auf der Flucht erschossen wurden, darunter seien auch Kinder. Von Grenzbeamten jenes Landes, mit dem die EU soeben einen Abkommen über die Rückführung von Flüchtlingen geschlossen hat.
Die Frage stellt sich, wie die von der Biopolitik durchdrungenen europäischen Gesellschaften eine solche Katastrophe zulassen können. Wie kann eine Macht sterben lassen, die doch die Verbesserung des Lebens zum Ziel hat und sich dabei das Recht auf körperliche Unversehrtheit in die Verfassungen und Grundrechtscharta schreibt? Und das alles, obwohl – biopolitisch gesprochen – die überalterten Gesellschaftskörper der europäischen Bevölkerung eigentlich von einer verjüngenden „Blutauffrischung“ durch die Zuwanderung profitieren könnten?
Eine biopolitische Zäsur

Michel Foucault, Quelle: scoop.it
Die Legitimation zum Sterbenlassen, die Kraft zum indirekten Mord können von biopolitisch orientierte Gesellschaften laut Foucault nur finden und aufbringen, indem sie eine Grenze einführen: eine „Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss.“ So ist es möglich, dass die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht zum Argument für Verschärfungen des Grenzregimes und der Asylpraxis werden, die das Todesrisiko von Familien und Kindern vor den sich schliessenden Toren Europas erhöhen. So ist es möglich, dass Exponenten der AfD öffentlich über Schiessbefehle gegen Menschen auf der Flucht nachdenken konnten, ohne damit ihre Wahlchancen zu schmälern – ganz im Gegenteil offenbar. So ist es möglich, dass eigentlich kluge Menschen ins Lob der Grenze einstimmen und dabei die Grenze des öffentlich Sag- und Machbaren Stück für Stück nach rechts verschieben. So ist es möglich, dass heutige öffentliche Intellektuelle den „territorialen Imperativ“ über die moralische Pflicht zur humanitären Hilfe stellen, da es keine „moralische Pflicht zur Selbstzerstörung gebe“ – leben machen gegen innen, sterben lassen an den Rändern.
Foucault nannte diese Zäsur zwischen dem, was leben soll, und dem, was sterben muss, beim Namen. Er nannte sie Rassismus.
Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft: Vorlesungen am Collège de France (1975–76), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009 [Übersetzung der Zitate z. T. leicht angepasst].