An Europas Grenzen und Küsten sterben Tausende Flüchtlinge. Wie ist es zu verstehen, dass Viele in Europa das mehr oder weniger gelassen hinnehmen? 1976 entwickelte der Philosoph Michel Foucault ein Konzept, das eine mögliche Antwort auf diese heutige Frage bereithält.

  • Remo Grolimund

    Remo Grolimund ist Historiker, forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ETH Zürich zur Umwelt- und Wissensgeschichte und publiziert als freier Autor zu Themen mit Schwerpunkt Schweizer Geschichte.
Michel Foucault an einer Demonstration zur Unterstützuung migrantischer Arbeiter, Paris 1973; Quelle: monoskop.org

Michel Foucault an einer Demons­tra­tion zur Unter­stüt­zuung migran­ti­scher Arbeiter, Paris 1973; Quelle: monoskop.org

Michel Foucault war immer auch ein öffent­li­cher Intel­lek­tu­eller. Dies war er als Professor am renom­mierten Collège de France sogar von Amtes wegen. Denn sein Lehr­stuhl für die Geschichte der Denk­sys­teme war an die Verpflich­tung zu öffent­li­chen Vorträgen gekop­pelt. Am 17. März 1976 schloss er eine Reihe solcher Vorträge ab, deren Abschrift zwanzig Jahre später unter dem Titel In Vertei­di­gung der Gesell­schaft in Buch­form erschien. In diesen Vorle­sungen entwi­ckelte der fran­zö­si­sche Philo­soph den Begriff der ‚Biopo­litik‘, der seither als ein zentrales Konzept für das Verständnis unserer auf Gesund­heit und Wohl­fahrt ausge­rich­teten modernen Gesell­schaften gilt.

Ange­sichts der Debatte um Europas Haltung in der soge­nannten Flücht­lings­krise, ange­sichts von Nato-Draht-Zäunen und der irrlich­ternden Rede vom Schiess­be­fehl gegen Flücht­linge sind die Über­le­gungen, die Foucault in seinem Abschluss­vor­trag zum Verhältnis von Biopo­litik und Rassismus präsen­tierte, aktu­eller denn je. Gut möglich, dass wir – und mit uns der eine oder andere öffent­liche Intel­lek­tu­elle, der gerade das „Lob der Grenze“ anstimmt – noch das eine oder andere von Foucault lernen könnten.

Leben machen

Die Geburt der Biopo­litik, so Foucault, trans­for­mierte das poli­ti­sche Recht an der Schwelle zwischen früher Neuzeit und Moderne nach­haltig. Nachdem der Inhaber der Staats­ge­walt seine Macht bis anhin aus dem Recht des Schwertes schöpfte – dem Recht sterben zu machen oder leben zu lassen („faire mourir et laisser vivre“)ergänzte und durch­drang die Biopo­litik dieses alte Recht der Souve­rä­nität mit einer genau umge­kehrten Form der Macht: der Macht, leben zu machen und sterben zu lassen („faire vivre et laisser mourir“). Die Biopo­litik moderner Norma­li­sie­rungs­ge­sell­schaften habe zum Ziel, „das Leben aufzu­werten, seine Dauer zu verlän­gern, seine Möglich­keiten zu vervielfachen“.

Wenn man behauptet, dass die Macht im 19. Jahr­hun­dert vom Leben Besitz ergriffen hat oder zumin­dest, dass die Macht im 19. Jahr­hun­dert das Leben in Beschlag genommen hat, heißt das, dass es ihr gelungen ist, die gesamte Ober­fläche abzu­de­cken, die sich vom Orga­ni­schen zum Biolo­gi­schen, vom Körper zur Bevöl­ke­rung dank des doppelten Spiels der Diszi­pli­nar­tech­no­lo­gien einer­seits, der Regu­lie­rungs­tech­no­lo­gien ande­rer­seits erstreckt. –Michel Foucault

Um dieses Ziel zu errei­chen, kommen Macht-Techniken zum Einsatz, die auf der Produk­tion von detail­liertem Wissen über den Zustand der Bevöl­ke­rung beruhen und in subtilen Inter­ven­tionen zur Wirkung gelangen. Dazu stützen sich Norma­li­sie­rungs­ge­sell­schaften insbe­son­dere auf Prak­tiken, die die Mitglieder der Bevöl­ke­rung inter­na­li­sieren und scheinbar zwanglos mittragen – man denke an die aktu­elle Diskus­sion zur Eigen­ver­ant­wor­tung in der Gesund­heits­vor­sorge. „In Bezug auf Geburten und Ster­be­rate, die verschie­denen biolo­gi­schen Unzu­läng­lich­keiten, die Auswir­kungen des Milieus, über alles das trägt die Bio-Politik Wissen zusammen und defi­niert sie das Feld ihrer Machtintervention.“

Sterben lassen

Eine durchaus posi­tive Entwick­lung, würde man meinen. Gegen die Aufwer­tung des Lebens gibt es wenig einzu­wenden. Das faire vivre prangt aller­dings nur auf der einen Seite der Medaille. Auf der anderen, dunk­leren, droht das laisser mourir. Die Biopo­litik kann auch Bevöl­ke­rungs­teile sterben lassen, die als Gefahr für Gesund­heit und Wohl­ergehen der Gesamt­be­völ­ke­rung gelten. Das muss nicht heissen, dass solche Bevöl­ke­rungs­teile am Rande oder jenseits der Norma­lität – Devi­ante, Disfunk­tio­nale, Anste­ckende – in Norma­li­sie­rungs­ge­sell­schaften direkt getötet würden, auch wenn dies, wie die Geschichte vor allem des 20. Jh. lehrt, viel­fach geschehen ist. Oft beschränkt sich das laisser mourir darauf, dass man diesen Menschen die nötige Unter­stüt­zung versagt und sie sich selbst über­lässt. Damit aber töten unsere von der Opti­mie­rung des Lebens beses­senen Gesell­schaften dennoch in einem ganz hand­festen Sinne. Wenn wir mit Foucault unter „Tötung“ ausdrück­lich nicht nur den direkten Mord verstehen, „sondern auch alle Formen des indi­rekten Mordes: jemanden der Gefahr des Todes auslie­fern, für bestimmte Leute das Todes­ri­siko erhöhen oder ganz einfach [die Verfü­gung des] poli­ti­schen Tods, der Vertrei­bung, Abschie­bung usw.“, dann morden unsere Gesell­schaften sogar zuhauf. Gerade jetzt.

Europas Politik der Grenz­si­che­rung und Ober­grenzen liefert an seinen Rändern aber­tau­sende Flüch­tende einem massiv erhöhten Todes­ri­siko aus. Syri­sche Kinder ertrinken an Europas Küsten, weil ihren Fami­lien kein sicherer Landweg offen­steht, so dass sie statt­dessen in die Arme von Schlep­pern und auf über­füllte Schlauch­boote getrieben werden. Wer es geschafft hat, strandet im Schlamm von Idomeni: der Kälte, dem Regen, dem Hunger und – es ist nur eine Frage der Zeit – Seuchen ausge­lie­fert. Zur Siche­rung des Zugangs zu „Europas Kris­tall­pa­last“ (Sloter­dijk) sind Schuss­waffen und direkte Tötungen unnötig. Gegen von der Flucht erschöpfte Menschen reicht die passive Waffen­ge­walt der rasier­mes­ser­scharfen Klingen von Nato-Draht-Verbauungen. Was aber, wenn Europa an seinen Rändern nicht nur sterben, sondern auch töten lässt? Verschie­dene Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen melden – in natur­ge­mäss schwer bestä­tig­baren Berichten –, dass in den letzten vier Monaten mindes­tens 16 Personen an der syrisch-türkischen Grenze auf der Flucht erschossen wurden, darunter seien auch Kinder. Von Grenz­be­amten jenes Landes, mit dem die EU soeben einen Abkommen über die Rück­füh­rung von Flücht­lingen geschlossen hat.

Die Frage stellt sich, wie die von der Biopo­litik durch­drun­genen euro­päi­schen Gesell­schaften eine solche Kata­strophe zulassen können. Wie kann eine Macht sterben lassen, die doch die Verbes­se­rung des Lebens zum Ziel hat und sich dabei das Recht auf körper­liche Unver­sehrt­heit in die Verfas­sungen und Grund­rechts­charta schreibt? Und das alles, obwohl – biopo­li­tisch gespro­chen – die über­al­terten Gesell­schafts­körper der euro­päi­schen Bevöl­ke­rung eigent­lich von einer verjün­genden „Blut­auf­fri­schung“ durch die Zuwan­de­rung profi­tieren könnten?

Eine biopo­li­ti­sche Zäsur

Michel Foucault, Quelle: scoop.it

Michel Foucault, Quelle: scoop.it

Die Legi­ti­ma­tion zum Ster­ben­lassen, die Kraft zum indi­rekten Mord können von biopo­li­tisch orien­tierte Gesell­schaften laut Foucault nur finden und aufbringen, indem sie eine Grenze einführen: eine „Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss.“ So ist es möglich, dass die Über­griffe in der Kölner Silves­ter­nacht zum Argu­ment für Verschär­fungen des Grenz­re­gimes und der Asyl­praxis werden, die das Todes­ri­siko von Fami­lien und Kindern vor den sich schlies­senden Toren Europas erhöhen. So ist es möglich, dass Expo­nenten der AfD öffent­lich über Schiess­be­fehle gegen Menschen auf der Flucht nach­denken konnten, ohne damit ihre Wahl­chancen zu schmä­lern – ganz im Gegen­teil offenbar. So ist es möglich, dass eigent­lich kluge Menschen ins Lob der Grenze einstimmen und dabei die Grenze des öffent­lich Sag- und Mach­baren Stück für Stück nach rechts verschieben. So ist es möglich, dass heutige öffent­liche Intel­lek­tu­elle den „terri­to­rialen Impe­rativ“ über die mora­li­sche Pflicht zur huma­ni­tären Hilfe stellen, da es keine „mora­li­sche Pflicht zur Selbst­zer­stö­rung gebe“ – leben machen gegen innen, sterben lassen an den Rändern.

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Foucault nannte diese Zäsur zwischen dem, was leben soll, und dem, was sterben muss, beim Namen. Er nannte sie Rassismus.

 

Michel Foucault: In Vertei­di­gung der Gesell­schaft: Vorle­sungen am Collège de France (1975–76), Frank­furt am Main: Suhr­kamp 2009 [Über­set­zung der Zitate z. T. leicht angepasst].