Der „Deutsche Katechismus“ war mitnichten immer so verbindlich wie heute. Gerade mal vier Jahre ist es her, dass Benjamin Netanjahu Gespräche mit dem damaligen deutschen Außenminister Sigmar Gabriel absagte, weil dieser insistierte, israelische Menschenrechtsgruppen, darunter B’Tselem, zu treffen. Heute ist dies unvorstellbar (auch bedingt durch den umstrittenen Bundestagsbeschluss zum BDS); wahrscheinlich würden die jüngst als „desperate Germans“ bezeichneten Deutschen B’Tselems neuen „Apartheid-Bericht“ wohl eher wie ein „ketzerisches Dokument“ behandeln. Deutsche Medien hatten nicht einmal über den Report berichtet. Ein desillusionierter jüdischer Freund brachte die abgründige Ironie auf den Punkt: Wenn Juden und Jüdinnen Menschen zu Opfern machen können, macht sie dies zu normalen Menschen. Wenn Deutsche also Israel kritisierten, würde ihnen das — ganz anders als deren erstickender Philosemitismus — endlich das Gefühl geben, lebendig zu sein.
Mein Teilausstieg aus dem Katechismus begann, als ich jene Ironie erkannte. Die Tatsache, dass ich diesen Essay gegen meinen akademischen Instinkt schreibe, lässt jedoch darauf schließen, dass die quasireligiöse Bindung sich auch in meine DNA eingeschrieben hat. In einem Video für das Projekt Menschen mit Nazihintergrund näherte ich mich kürzlich meiner eigenen Biographie vor dem Hintergrund historischer Verflechtungen und Widersprüche. Das war befreiend. Geprägt von den unterschiedlichen Welten, in denen ich heranwuchs, bringen mich die monolithisch angelegten historischen Kategorien Nachkriegsdeutschlands nicht weit. Das ausschließlich weiße Deutschland, das oft vorausgesetzt wird, ist ein Konstrukt. Durch (zum Teil erzwungene) Migration haben sich klare Kategorien längst aufgelöst: Deutschland ist schon lange multikulturell, mehrsprachig, und multireligiös. Viele von uns leben Bindestrich-Identitäten.
Nun sind wir jedoch bis heute mit einer Version von Geschichte konfrontiert, die Grenzen zieht, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Deutschland braucht ein inklusives Narrativ, das auch jenen Rechnung trägt, die es ruhig und dennoch mit Nachdruck einfordern. Nur so können wir Deutschlands Platz in einer (noch nicht ganz) postkolonialen Welt verstehen und selber auch an Relevanz gewinnen.
Das große Versäumnis des Katechismus liegt für mich in seiner Abkoppelung von der Gegenwart. Da wäre zum Beispiel Punkt Nr. 4 des Katechismus: „Antisemitismus ist ein Vorurteil sui generis und er war ein spezifisch deutsches Phänomen. Er sollte nicht mit Rassismus verwechselt werden.“ Nein. Wir müssen die historischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Antisemitismus und Rassismus verstehen, um jeweils spezifische Vorurteile zu bekämpfen und Allianzen aufzubauen. Oder Nr. 3: „Deutschland trägt für die Juden in Deutschland eine besondere Verantwortung und ist Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet.“ Genau deshalb schließt unsere Verantwortung europäischen Imperialismus und diskriminierende Praktiken in dieser Region mit ein, die durch unsere Loyalität zu Israel verstärkt wurden. Dies impliziert, unterschiedliche, teils widersprüchliche jüdische Perspektiven zu respektieren.
Statt Ungleichheiten zu bekämpfen, marginalisierte der selbstbezogene Katechismus die Belange Schwarzer und aus Nahost stammender migrantischer Einwohner:innen – unter der falschen Annahme, dass diese nicht auch gleichzeitig jüdisch sein könnten. Es ist diese Blindheit, die mich im Rückblick auf westdeutsche Vergangenheitsaufarbeitung ratlos zurücklässt: Warum gingen Lichterketten gegen rassistische Morde an Bewohnern von Flüchtlingsheimen (in Ost und West) und das ritualisierte Gedenken an die Pogromnacht nie mit Rassismusbekämpfung in Bezug auf Schulkinder ethnischer Minderheiten einher, welche die bis heute andauernden Morde hätten verhindern können? Warum wurden Juden und Jüdinnen, oft selbst Migrant:innen, nicht wie normale Menschen behandelt, die sich vielleicht nur bedingt für einen Besuch in der örtlichen Synagoge, für Israel oder für Holocaustgedenkrituale interessieren?

Drei türkischstämmige Karlsruher starben, als im Oktober 1996 ein Hinterhaus in der Markgrafenstraße ausbrannte. Laut Polizei war es Brandstiftung. Wer die Toten auf dem Gewissen hat, ist bis heute nicht geklärt; Quelle: bnn.de
Die von Moses zitierte vorherrschende Idee, dass „die Deutschen nett und weltoffen sein“ sollten, „statt Jüdinnen und Juden zu ermorden“, schien nur auf diese zuzutreffen, nicht aber auf andere. Für mich, in den 1990er Jahren mit dem Gedanken aufgewachsen, dass man als fremd wahrgenommener Mensch jederzeit damit rechnen muss, tödlich mit Molotowcocktails verletzt zu werden, stellten sich die überschwänglichen Reaktionen auf die Ankunft von Flüchtlingen im Jahr 2015 als bizarre Übersprungshandlung dar. Weiße Deutsche, die, mit Windeln und Feuchttüchern ausgerüstet, an Bahnhöfen unbeholfen wildfremde Menschen umarmen – dies war zwar ohne Zweifel Teil einer wichtigen politischen Entscheidung, wirkte gleichzeitig aber wie ein hysterisches Bemühen um Absolution.
Es überraschte mich nicht, dass die Stimmung kippte, sobald klar wurde, dass „Assimilation“ nicht unbedingt die Norm war, die alle Einwanderer:innen anstrebten. Der Katechismus war Teil dieses Assimilierungsprozesses; da er jedoch Rassismus und Islamophobie gewissermaßen Vorschub leistete, war er zugleich eine tödliche Falle. Integration war indes ebenso wenig eine Garantie zum Überleben. Die durch rechtsextremen Terror schicksalhaft miteinander verbundenen Namen Hanau und Halle schrieben sich dauerhaft in unser Gedächtnis ein. Sie stärkten jedoch die intersektionalen Bündnisse zwischen diskriminierten Gruppen, die eine lange Geschichte haben.
Nach dem Massaker in Hanau fanden Faschingsfeiern statt – eine Mahnwache zum Gedenken an die Toten wurde nicht bewilligt. Antisemiten durften bei „Querdenker“-Demonstrationen auf der Straße marschieren, und manche können sich sogar zur Wahl stellen. Zieht man eine Bilanz dieser Asymmetrien – ganz zu schweigen von der endlosen Geheimniskrämerei um die NSU-Morde, der surrealen Mbembe-Debatte oder der Tatsache, dass sich einige linke Juden und Jüdinnen nicht geschützt fühlt – stellt sich die Frage: Hat Deutschland einen grotesken Tiefpunkt seiner Geschichte erreicht? Wenn Antisemitismus und Rassismus in Deutschland „keinen Platz“ haben, warum beanspruchen sie dann immer noch so viel Raum? Wer bestimmt die zukünftigen Bedingungen für Erinnerungskultur in einem Land, in dem, aus Sicht weiter multiethnischer Teile der Gesellschaft, Entnazifizierung schlicht und ergreifend nie stattgefunden hat?
Geschichte ist komplex
Der deutsche Geschichtskanon von Tätern, Befreiern und Opfern ist zu einem pädagogischen Moralstück geworden, das die dramatis personae in ihren Rollen fixierte, während andere ausgeschlossen wurden. Doch wie Dirk Moses zeigte, verwehrt sich Geschichte eindeutiger Kategorien. Manche Juden und Jüdinnen in Deutschland fühlen sich heute zum Beispiel eher als Befreier:innen, denn als Opfer, wenn ihre Vorfahren etwa für die Sowjets kämpften. Schwarze wurden zu vergessenen Opfern der nationalsozialistischen Rassenpolik, obwohl viele für die alliierten Truppen kämpften. Einige Muslime versteckten Juden, wieder andere kämpften für die Nazis, die sie wiederum nur als „Mittel zum Zweck“ betrachteten. Viele in Deutschland lebende Menschen lassen sich nicht eindeutig einer Kategorie wie Täter, Befreier und Opfer zuordnen, geschweige denn Geschlecht, Religion oder race. Rassentheorie befeuerte Antisemitismus, stützte sich immer auf reine, pseudowissenschaftliche Kategorien, immer auch an soziale Projektionen und Vorurteile gekoppelt. Lassen wir intersektionale Ansätze außer Acht, so laufen wir Gefahr, irreführende Kategorien zu perpetuieren, statt sie abzuschaffen, um Geschichte in ihrer ganzen Komplexität gerecht zu werden.
So wie sich kaum mehr bestreiten lässt, dass Antisemitismus und Anti-Blackness eng miteinander verwoben waren, wird es schwierig, informierte Geschichtsdebatten zu führen, wenn nicht endlich auch Forschung berücksichtigt wird, die zeigt, dass sich Kolonialismus in Afrika, die Vorgeschichte des Holocaust und Imperialismus im Osmanischen Reich immer wieder überschnitten haben, mit Konsequenzen bis heute. Moses‘ Argument, dass Orientalismus dem deutschen Okzidentalismus immanent war und auf viele Weise mit dem deutschen Imperialismus verwoben, hat immenses Potenzial, um der deutschen Debatte Komplexität und ein holistischeres Geschichtsbewusstsein zu verleihen. Neuere Forschung widmet sich Bürger:innen der Türkei, die während des „Dritten Reiches“ in Deutschland lebten und während der Pogromnacht befürchteten, für Juden gehalten zu werden. Kürzlich veröffentlichte die israelische Zeitung Haaretz einen Artikel von Esra Öyzürek über muslimische Schüler:innen, die beim Besuch im Konzentrationslager mit Empathie reagierten: Sie hatten Angst, die nächsten zu sein. In einer israelischen Zeitung publiziert, wurde auch dieser Beitrag in Deutschland ignoriert, da er sich dem nationalen Narrativ widersetzte.
Als Historikerin, die vor allem über die Zeit um 1900 forscht, bin auch ich verblüfft über den Widerstand, mit dem jeder noch so offensichtlichen und oft seit langem gut erforschten Kontinuität und Kontextualisierung – sei es „Lebensraum“, Rassentheorie oder koloniales Sammeln – begegnet wird. Das Wort Genozid in Bezug auf Namibia brachte mir selbst wenige Tage vor der offiziellen Anerkennung des Namens der Bundesregierung Kritik ein. Auch die Einbettung von Rassentheorie in einen europäischen Kontext erzeugte Misstrauen. Warum, wenn selbst die Holocaust-Ausstellung des Imperial War Museum im chauvinistischen Tory-Großbritannien den Briten Francis Galton als Europas treibende Kraft der Rassentheorie verstanden wissen will? Wenn Deutschland die Deutungshoheit über die Ursprünge seines Rassenwahns beansprucht, warum schweigen die dortigen Museen und Universitäten weitgehend über ihren eigenen Beitrag im Kaiserreich? Stattdessen werden Museen dort wissentlich nach bekennenden Antisemiten benannt.
Es war weniger kompliziert, als der Holocaust quasi aus dem Nichts erschien – und dann plötzlich verschwand. Die aktuelle Abwehr gegen einen neuen Zugang löst den Holocaust jedoch nicht nur aus dem Kontext der Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts, sondern irritierenderweise auch aus dem aktuellen Forschungskontext. „Historikerstreit 2.0.“ ist somit ein irreführender Begriff. Ziel ist es nicht, den Holocaust oder dessen Singularität zu „relativieren“, sondern Nuancen zu benennen und neue Kontexte zu erschließen. Michael Rothberg, selbst kein Historiker, hat seine Thesen, dass Erinnerung kein Nullsummenspiel sei, bereits vor einer Dekade publiziert. Seither hat sich in der Forschung viel getan. Es handelt sich dabei um im peer-reviewed Verfahren begutachtete internationale Forschungsergebnisse. Warum wird diese aktuelle Forschung – auch daraus resultierende Essays, wie zuletzt auf dem NFS Blog – weithin ignoriert und dekontextualisiert, statt in Zeitungen unter anderem von Fachexpert:innen rezipiert und diskutiert zu werden?
Es ist nicht nur deshalb wichtig, Geschichte zu verkomplizieren, um die miteinander verflochtenen Erfahrungen – Leid, Widerstand und Befreiung – sichtbar zu machen, die Juden und Jüdinnen, Muslime und Muslima sowie Schwarze in Deutschland teilten, sondern auch, weil es weitere Ereignisse gibt, für die Deutschland eine Verantwortung trägt. Neben dem Völkermord an den Nama und Herero, gehören hierzu auch die Verbrechen an den Sinti und Roma, den sowjetischen, polnischen und homosexuellen Opfern des Holocaust sowie jenen des Euthanasieprogramms, denen Deutschland lange nicht angemessen gedachte. Doch könnten die zusätzlichen Denkmäler, die zweifelsohne noch errichtet werden, diesmal mit gleichen Rechten für jene einhergehen, die immer noch von Rassismus, Sexismus, Ableismus und Homophobie betroffen sind, dessen Ursprünge, wie Antisemitismus, nicht von weit her kommen, sondern schon lange bei uns und immer noch „chez nous“ sind? Denkmäler sind schon fast zu einem belastenden Symbol des politischen Stillstands geworden. Viele Betroffene wollen aber, statt rituell in Stein gehauen zu werden, lieber mit Geist und Verstand unter den Lebenden wandeln und selbst zur Erinnerungskultur beitragen.
Unsere Geschichten bitte inklusive
Für einige rechtskonservative Deutsche sind genau jene lebenden Juden, Einwanderer:innen und ihre Kinder, die neue Narrative aktiv mitgestalten wollen, zum Problem geworden: Jene ehrenamtlichen refugee guides, die sich vorstellen können, als mehrsprachige Geflüchtete die Kurator:innen einer neuen nationalen Dauerausstellung zu werden. Oder die muslimische Geschichtslehrerin, deren Hijab plötzlich ein Dorn im Auge ist – war er nicht in Ordnung, als ihre Mutter ihn trug und in derselben Schule die Toiletten putzte? Deutschland hat durch seine mehrsprachige Bevölkerung besonders wertvolles Kapital. Doch statt in Berlin-Neukölln Studierende zu rekrutieren, um zweisprachige Kulturdiplomat:innen, Archäolog:innen und Kunsthistoriker:innen auszubilden, die sich bei Ausgrabungen und den nun angeblich so wichtigen Restitutionsverhandlungen mit Kolleg:innen aus den Herkunftsländern verständigen können, werden diese Stärken als Hindernis betrachtet. Es gibt kein deutsches Pendant zur Londoner SOAS, der „School of Oriental & African Studies“. Die in Deutschland selten angebotenen Black Studies haben sogar eine problematische Geschichte, da Schwarze Wissenschaftler:innen von Planung und Lehre ausgeschlossen wurden. Ebenso gibt es in Deutschland immer noch keine Debatte über die „Dekolonisierung des Curriculums“, während die German Studies im Ausland aktiv dekolonisiert werden. Dieses Versäumnis überrascht kaum, wenn deutsche Medien zuweilen allen Ernstes so sprechen, als ob die Postcolonial Studies bedrohlicher seien als die AfD.
Geschichte ist nie neutral. Sie wird von jenen geprägt, die sie konstruieren. Damit eine inklusivere Version gelingt, spielt es eine Rolle, wer überhaupt Geschichte schreiben darf. „Wenn unsere Kolleg:innen der Nachwuchs der Nazis sind“, dann nicht deshalb, weil sie „als Deutsche geboren wurden“, so Wendy Shaw, eine international renommierte Expertin für islamische Kunst, sondern „weil viele von ihnen das Wesen von Autorität und Ausgrenzung nicht reflektiert haben und weil die weiß-patriarchalische Hierarchie im Herzen der Universitäten nicht durch ein funktionierendes System der Vielfalt und Inklusion ersetzt“ wurde. Als im vergangenen Jahr „Black Lives Matter-Statements“ die Webseiten von vorwiegend weißen Geschichtsfakultäten in den USA und Großbritannien füllten, entging es den Kolleg:innen im Ausland nicht, dass Historiker:innen in Deutschland schwiegen. Ein Tweet lautete: „Sogar mein Schwimmverein spricht sich für #BLM aus – aber deutsche Historiker tun es nicht.“ Die Beobachtung wurde für mich zum Aufhänger eines Blogeintrags zum Thema Rassismus, Geschichte und Wissenschaft, gefolgt von Lösungsvorschlägen, die unter anderem die Erhebung von Daten über ethnische Minderheiten in der Wissenschaft umfasste. Es ist nicht ohne Ironie, dass statistische Daten, die helfen könnten, Diskriminierung zu bekämpfen, ausgerechnet in Deutschland umstritten sind, weil sie einst die Verfolgung von Juden und Jüdinnen erleichterten. Geradezu beunruhigend ist jedoch, wenn befürchtet wird, solche Daten könnten auch heute noch in die falschen Hände geraten. Trotzdem werden wir paradoxerweise immer nach Beweisen gefragt, um Diskriminierung zu belegen.
Derweil weigert sich die deutsche Wissenschaft anzuerkennen, dass sie große Teile der Gesellschaft von ihrem System ausschließt. Im Vereinigten Königreich hat ein Bericht der Royal Historical Society erhebliche Diskriminierungsmechanismen aufgezeigt und daraus einen Leitfaden entwickelt. Ähnliche Zahlen ließen sich auch in Deutschland finden. Diejenigen, die dort versuchen, ihre Institute zu diversifizieren, berichten von heftigem Widerstand, Stellen mit dem Hinweis zu versehen, dass Diversität explizit erwünscht sei. Wendy Shaws Professur an der FU Berlin läuft aus: Man hätte meinen können, dass sie auch angesichts ihres muslimisch-türkischen und amerikanisch-jüdischen Hintergrunds in einer Stadt wie Berlin unverzichtbar wäre.
Noch ohrenbetäubender als das Schweigen der deutschen Wissenschaft und Museen während der Black-Lives-Matter-Proteste, war das Schweigen, das bis heute nachhallt. Manchmal fühlt es sich an, als würde man wie Sisyphos einen Stein – vielleicht ein Denkmal? – einen steilen Trümmerberg hinaufschieben. Da auch ich nur befristet als Wissenschaftlerin eingestellt bin, kenne ich die Ängste der Kolleg:innen in einem System, das nur wenigen Dauerstellen gewährt. Es beruht immer noch weitgehend auf Selbstrekrutierung und Patronage – während die Tatsache, dass viele People of Color und solche ohne traditionellen „Habitus“ ohnehin nie entsprechende Patrone hatten, gewissermaßen unser „Alleinstellungsmerkmal“ ist. Manch eine:r äußerte, dass Kritik am System oder die Zeitinvestition in etwas, das nicht direkt den eigenen Karrierezielen dient, diesen am Ende ja auch schaden könnte. Was verrät das über ein Land, in dem die kollektive Pflicht „nie wieder“ lautet, während Antisemitismus und Rassismus immer wieder zurückkehren, und antirassistisch zu sein wahlweise als Risiko oder als Zeitverschwendung angesehen wird?
Ist es nicht zutiefst beunruhigend, dass Schwarze deutsche Geschichte meist von Schwarzen Wissenschaftler:innen geschrieben wird, die freiberuflich oder im Ausland tätig sind? Gelang es ihnen, zu bleiben, werden sie nicht selten zur Zielscheibe weiterer rassistischen Beschimpfungen (so erging es Maureen Maisha Auma, als sie darauf hinwies, dass das einzige Schwarze Personal an den meisten deutschen Universitäten, das Reinigungspersonal ist). Sind „wir“ mit diesen Zuständen einverstanden? Wie vielen ist bewusst, wie sehr diese Tatsachen mit dieser Debatte hier zusammenhängen? Ausgrenzung und stille Konformität setzen sich nicht trotz, sondern gerade weil sie Teil der Vergangenheit unseres Landes sind, immer weiter fort.
Es ist deshalb an der Zeit zu fragen, was hier eigentlich gerade genau vor sich geht. Innerhalb Deutschlands wenden sich viele desillusioniert vom traditionellen Feuilleton und den Museen ab und entscheiden sich für andere Räume wie Kunst, Literatur, Theater, Podcasts, sozialen Medien und Blogs. In unserem eigenen Blog, 100 Histories, schreiben Stimmen aus dem Globalen Süden eliminierte Geschichten aus Sicht der Orte und Menschen, von denen Museumsobjekte einst gewaltsam entwendet wurden, zurück in die weißen Narrative ein.
Wer wollen wir als Teilnehmende einer Debattenkultur in Zukunft sein? Während die Diskussion um die Pluralisierung der Erinnerungskultur als Generationenfrage dargestellt wird, sehe ich das Problem eher darin, dass sich Menschen, die sich eigentlich gegenseitig zuhören sollten, immer seltener im selben Raum befinden. Die Hohepriester, auf die sich Moses bezieht, hadern nicht nur mit der Idee des Ruhestands, sondern gehen irrtümlicherweise auch davon aus, dass ihre Geschichtsschreibung einst nicht ebenso von Ideologie geprägt war. Statt zuzuhören, bedienen sich einige nun einer fahrlässigen Rhetorik, die lebende Juden und Jüdinnen trifft – Philosemitismus mit eingeschlossen – oder diejenigen denunziert, die von Nachwirkungen des Kolonialismus täglich betroffen sind. Viele von uns haben älteren Generationen jahrzehntelang mit Respekt zugehört, Argumente bewundert und von ihnen gelernt, andere vielleicht im Stillen hinterfragt. Ist es wirklich zu viel, nun ebenfalls Gehör und Respekt zu verlangen?
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie es etablierten Medien und Museen, Schaltstellen einer sich wandelnden Erinnerungskultur, gelingen soll, nicht an Relevanz zu verlieren, wenn sie sich jetzt nicht auf neue internationale Forschungsansätze einlassen – und ihr Personal entsprechend anpassen. Meinungsartikel über die Nachwirkungen des Kolonialismus werden immer noch von weißen Autor:innen statt von Betroffenen geschrieben. Publikationen über koloniale Raubkunst folgen meist einem weißen Retterkomplex. Doch was, wenn Herkunftsgemeinschaften nicht alle ihre Objekte zurückhaben wollen, nur weil Europa nun beschlossen hat, dass sie sie loswerden wollen? Wer bestimmt die Konditionen für ihre Rückgabe?
In Großbritannien fragen Kulturschaffende of Colour, darunter die Gruppe Museumdetox, was Museen seit Black Lives Matter erreicht haben. Warum meinen deutsche Institutionen, sich solchen Gesprächen entziehen zu können – in derselben Woche, in der heftige Kritik an den Reparationszahlungen an Namibia für den Genozid geübt wurde? Das Humboldt-Forum wäre die einmalige Chance gewesen, vernachlässigte Teile deutscher Geschichte aufzuarbeiten und im gleichen Atemzug die Kurator:innenlandschaft zu diversifizieren. Stattdessen wurde vier Tage nach der Ermordung George Floyds auf der Kuppel ein Kreuz errichtet – nicht zuletzt auch ein Symbol weißer christlicher Vorherrschaft. Nun müssen jüdische, muslimische und Schwarze Mitarbeiter:innen, deren Vorfahren vielleicht im Namen des Christentums in den Kolonien Gewalt, den Raub von Objekten und Zwangsmissionierung erfahren haben, unter seinem Dach arbeiten – sofern sie eingestellt werden. Um die Ecke des Humboldt-Forums forderten Black-Lives-Matter Demonstrant:innen kurz darauf lautstark Gerechtigkeit, während andernorts in Europa Statuen von Kolonialherren und Sklavenhändlern fielen. Ein Paradox, dass an Perfidität kaum zu übertreffen ist.
All dies verdient Satire. Mir erschien der Sarkasmus in Moses Essay, der einigen Leser:innen missfallen hat oder entgangen zu sein scheint, daher beim ersten Lesen angemessen. Dass ein Wissenschaftler, der auf marginalisierte Stimmen hört, mit einem populistischen Autor in einen Topf geworfen wird, statt dass man sich ernsthaft und genau mit den zentralen Punkten seiner Argumentation – ein Plädoyer für eine inklusivere Geschichtsschreibung – auseinandersetzt, zeigt zweierlei: erstens, dass viele diese Polarisierung in ihrer auf wenige Aspekte reduzierten Kritik an Dirk Moses immer wieder perpetuieren; und, zweitens, wie sehr sie sich von den Anliegen der jüngeren, multikulturellen Bevölkerung entfernt haben. Doch während die einen um Macht und Deutungshoheit fürchten, fürchten andere um ihr Leben. In ihrem Essay über das Schweigen der Juden und Jüdinnen in Deutschland schreibt Wendy Shaw: „Es ist sinnvoll und wichtig, die Systeme, die Gewalt aufrechterhalten, zu analysieren und zu untergraben, um neue Systeme aufzubauen, die eine Wiederholung der Schrecken der Vergangenheit vermeiden. Ob Deutsche oder Nicht-Deutsche, unsere kollektive Sünde ist nicht das Versagen, die Vergangenheit zu erkennen, sondern unsere Unfähigkeit, ihre Wiederholung zu verhindern.“ Es wird Zeit, Erinnerungskultur radikal umzudenken. Die Vergangenheit wurde nicht im Geringsten bewältigt. Wenn große Teile der postmigrantischen Gesellschaft befürchten, die nächste Zielscheibe zu sein, ist es an der Zeit, sich einzugestehen, dass der bisherige Ansatz schlicht und ergreifend nicht funktioniert hat.