Der Staatssicherheitsdienst der DDR hat Undergroundkünstler systematisch „zersetzt“. Die Schriftstellerin und Künstlerin Gabriele Stötzer „zersetzt“ heute ihre Stasiakten und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die Sprache der „Direktoren der Verdummung“ (Hans Arp).

Geheim­dienst­akten offen­baren in der Regel wenig über die Beob­ach­teten, viel hingegen über die diffusen Ängste der Beob­achter. Diese Ängste lassen sich bis in die kleinsten Poren der Akten, ihre Narra­tive, Wörter, Abkür­zungen, Satz­zei­chen und Auslas­sungen zurück­ver­folgen. Als die Schrift­stel­lerin und Künst­lerin Gabriele Stötzer am 12. Februar im Cabaret Voltaire aus ihrer Stasi­akte las und eine Opern­sän­gerin ihr von der Stasi konstru­iertes angeb­li­ches Delikt träl­lerte, verwan­delte sich die aus den Voka­beln spre­chende Angst in schrille Töne.

die feindlich-negative Grund­ein­stel­lung der Person, ihre Ziel­stel­lung, feind­li­ches Gedan­kengut zu verbreiten und sich mit weiteren feindlich-negativen Personen als Gleich­ge­sinnte zusam­men­zu­schließen, ist geeignet, die Ziel­stel­lung von Feind­zen­tren bei der Orga­ni­sie­rung eines poli­ti­schen Unter­grundes in der DDR verwirk­li­chen zu helfen.

Die gebets­müh­len­ar­tige, ja beschwö­rende Wieder­ho­lung der Feind­vo­kabel – feindlich-negative Person, feindlich-negative Grund­ein­stel­lung, Feind­zen­tren und feind­li­ches Gedan­kengut – lässt nicht nur einen Führungs­of­fi­zier erkennen, der stil­si­cher Stasi­deutsch beherrscht, sondern hämmert eine Vokabel in die Akten, die den ‚Feind‘ erst produ­ziert. Denn hinter der Feind­vo­kabel im Fall von Stötzer steckt nicht etwa eine Bomben­le­gerin, sondern eine Studentin, die die DDR verbes­sern und nicht umstürzen wollte, und eine Künst­lerin, die sich über das gängige Frau­en­bild der DDR lustig machte. Die Stasi nannte sie eine ‚Femi­nistin‘, damals in der DDR eine Feind­vo­kabel, die als West­im­port galt.

Die Verbin­dung zwischen Stasi und Dada zieht Gabriele Stötzer aller­dings nicht deshalb, weil auch die Dada­isten 1916 in Zürich von der Frem­den­po­lizei beob­achtet wurden. Damals empfahl der Schwei­ze­ri­sche Inlands­nach­rich­ten­dienst (die ‚Poli­ti­sche Polizei‘), Hugo Ball und Emmy Hennings wegen der „Propa­gie­rung revo­lu­tio­närer Ideen“ des Landes zu verweisen. Stötzer will, um Hans Arp noch einmal zu zitieren, die Aufmerk­sam­keit von sich weg hin auf die „Direk­toren der Verdum­mung“ lenken, auf deren Reali­täten stif­tenden sprach­li­chen Unsinn.

Stötzer ist indes nicht die einzige Künst­lerin, die sich mit ihren eigenen Akten beschäf­tigt. Erst kürz­lich erschien Igno­ranz als Staats­schutz? – Max Frischs penible Akten­lek­türe, die David Gugerli und Hannes Mangold heraus­ge­geben haben. Frisch hat nach dem Studium seiner Fiche, die der Schweizer Staats­schutz über zwei­und­vierzig Jahre lang, zwischen 1948 und 1990, anlegte, eine regel­rechte Rück­an­eig­nung betrieben. Er hat die gröss­ten­teils lächer­li­chen Einträge über Treffen mit Intel­lek­tu­ellen aus dem Osten akri­bisch korri­giert, er hat sie ironisch kommen­tiert, und vor allem hat er sie ergänzt, und zwar um viel rele­van­tere Ereig­nisse als jene, die der Staats­schutz ein bis zweimal pro Jahr meist aus zweiter Hand notiert hatte. Vermut­lich ist Frischs Stasi­akte ‚genauer‘, als es die drei­zehn Seiten von der Poli­ti­schen Polizei der Schweiz sind.

Die meisten künst­le­ri­schen Ausein­an­der­set­zungen mit Geheim­dienst­akten findet man jedoch in Osteu­ropa. So hat die 1984 aus der DDR ausge­reiste Cornelia Schleime in ihrer Stasi­serie beson­ders banale Sätze aus ihren Akten foto­gra­fisch reenactet, solche, in denen ihre „asoziale Lebens­weise“ beklagt wird. Sie montierte dazu frivol deka­dente Selbst­por­traits auf fünf­zehn verschie­dene origi­nale Akten­blätter: Mal sieht man sie Bravo lesend auf dem Bett fläzen, mal nackt in einem Mohn­feld tanzen oder vor einer ameri­ka­ni­schen Limou­sine posieren. Auch Schleime visua­li­siert Ängste, und zwar solche, die sich hinter dem Wort „asoziale, anti­so­zia­lis­ti­sche Lebens­weise“ verbergen. Der unga­ri­sche Künstler György Galántai wiederum hat seine Akten im Netz öffent­lich gemacht, er zeigt sie in seinem Kunst­ar­chiv artpool, und zwar auch als eine Art Doku­men­ta­tion von Perfor­mance Art in Ungarn. Das erste Happe­ning in Buda­pest wurde von niemandem so genau und detail­liert doku­men­tiert wie vom Inlandsgeheimdienst…

Doch zurück zu Gabriele Stötzer. Ihre fast voll­ständig erhal­tene und umfang­reiche Akte heute zu lesen, ist nicht nur wichtig, um zu verstehen, wie auto­ri­täre Systeme funk­tio­nieren, sondern auch literatur- und kunst­his­to­risch rele­vant. Dass man sie zu Forschungs­zwe­cken lesen kann, ist Stötzer selbst zu verdanken. Sie besetzte am 4. Dezember 1989 mit einer Gruppe von Frauen die Erfurter Stasi­zen­trale, um die Räume zu versie­geln und die Akten vor der Vernich­tung zu schützen. Im Falle von Stötzer handelt es sich um mehrere Tausend Seiten „Sach­stands­be­richte“ von Führungs­of­fi­zieren, Beob­ach­tungs­pro­to­kolle von über zwanzig verschie­denen Inof­fi­zi­ellen Mitar­bei­tern (IMs), konfis­zierte Briefe, Beob­ach­tungs­fotos, Skizzen ihrer Wohnung, ihrer privaten ‚Galerie im Flur‘, Proto­kolle der Über­wa­chung des Freun­des­kreises. Auslöser der Bespit­ze­lung war ein Brief mit drei­und­achtzig Unter­schriften, den sie 1976 an Margot Honecker, der dama­ligen Bildungs­mi­nis­terin der DDR, als Protest gegen die Exma­tri­ku­la­tion ihres Kommi­li­tonen Wilfried Linke geschrieben hatte. Die Folge dieser Kritik war ihre eigene Exma­tri­ku­la­tion, verbunden mit einem Hoch­schul­verbot, das für die ganze DDR galt. Als sie im selben Jahr dann auch noch eine von promi­nenten Berliner Schrift­stel­lern orga­ni­sierte Unter­schrif­ten­ak­tion gegen die Ausbür­ge­rung von Wolf Bier­mann in Erfurt unter­schrieb, wurde es der Stasi zu bunt: Stötzer wurde – damals drei­und­zwan­zig­jährig – verhaftet und zu einem Jahr ohne Bewäh­rung wegen „Staats­ver­leum­dung“ ins berüch­tigte Frau­en­ge­fängnis Hoheneck in Stoll­berg nach Sachsen verurteilt.

foto bernd hiepe in u-haft 199o

Gabriele Stötzer bei ihrer Perfor­mance „U-Haft“ (1990). Foto: Bernd Hiepe

Die Akten von Stötzer umfassen vier „opera­tive Vorgänge“ (OV) und zeugen von einer unun­ter­bro­chenen Bespit­ze­lungs­tä­tig­keit zwischen 1976 und 1989. Die Stasi stufte Stötzer in dieser Zeit als eine „operativ bear­bei­tete Person“ ein. Mit „Bear­beiten“ beschreibt die Staats­si­cher­heit ihre eigent­liche Tätig­keit sehr genau. Über­wa­chung und Beob­ach­tung waren stets nur Voraus­set­zung für „Bear­bei­tung“. Zum „Bear­beiten“ gehörte vor allem das „Zersetzen“ und das „Liqui­dieren“. Mit „Zersetzen“, einem anderen wich­tigen Wort der Stasi­tä­tig­keit, bezeich­neten die Stasi­funk­tio­näre das „Zersplit­tern“, „Lähmen“, „Desor­ga­ni­sieren und Isolieren“ von oppo­si­tio­nellen Gruppen und Einzel­per­sonen. Nach Stasi-Richtlinie 1/76 etwa war damit die „syste­ma­ti­sche Diskre­di­tie­rung des öffent­li­chen Rufes, des Anse­hens und des Pres­tiges auf der Grund­lage mitein­ander verbun­dener wahrer, über­prüf­barer diskre­di­tie­render sowie unwahrer, glaub­hafter, nicht wider­leg­barer und damit eben­falls diskre­di­tie­render Angaben“ gemeint (Lexikon des MFS (Minis­te­rium für Staatssicherheit).

Die Stasi wies ihre Inof­fi­zi­ellen Mitar­beiter (IM) also zur freien Erfin­dung von Tatsa­chen an. Die IMs bekamen „Legenden“, um die „syste­ma­ti­sche Orga­ni­sie­rung beruf­li­cher und gesell­schaft­li­cher Miss­erfolge zur Unter­gra­bung des Selbst­ver­trauens“ (MFS-Lexikon) zu orga­ni­sieren. Oder man „liqui­dierte“ ihre Galerie und andere künst­le­ri­sche Aktionen und machte sie dann „verdächtig, unfähig zu sein, geplante Akti­vi­täten erfolg­reich durch­führen“ zu können (BSTU, AOP „Toxin“, 0011). Der Histo­riker Ilko-Sascha Kowal­czuk zählt in seinem Buch Stasi Konkret über zwei Seiten weiterer Beispiele für gängige „Zerset­zungs­prak­tiken“ von Oppo­si­tio­nellen auf, darunter auch die bewusste Streuung des Gerüchtes, man arbeite mit der Stasi zusammen!

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Serie mit Transvestiten, Privatarchiv Gabriele Stötzer

Serie mit Trans­vestit, Privat­ar­chiv Gabriele Stötzer

Im Fall von Gabriele Stötzer rich­tete die Stasi die „Zerset­zungs­ar­beit“ nicht nur auf die Person, sondern auch auf die Kunst. Alle Inof­fi­zi­ellen Mitar­beiter setzten die Worte „künst­le­risch“ oder „Kunst“ in Stöt­zers Akten stets in Anfüh­rungs­zei­chen, werteten ihre lite­ra­ri­schen Texte als „unin­ter­es­sant“ und „unver­ständ­lich“ ab. Doch damit nicht genug, die Stasi beschloss auch, „Voraus­set­zungen für die straf­recht­liche Verfol­gung zu schaffen“. Mit anderen Worten: Die Staats­si­cher­heit versuchte Stötzer für Taten zu verhaften, die sie selbst in Auftrag gegeben hatte! Die Stasi schleuste dabei Inof­fi­zi­elle Mitar­beiter als Foto­mo­delle in Stöt­zers Foto­ak­tionen ein. Inter­es­sierte sich Stötzer beim Foto­gra­fieren für geschlech­ter­über­grei­fende Aktionen, was sich im engen Bekann­ten­kreis herum­sprach, vermit­telte die Stasi prompt einen Trans­ves­titen. Auftrag: Stötzer zu porno­gra­phi­schen Szenen zu animieren, die dann „straf­recht­lich rele­vant“ hätten werden können. Stötzer berichtet, dass sie, als sie die Bilder das erste Mal halb­öf­fent­lich zeigte, dann auch eine Anklage wegen Porno­grafie erhielt, die in den Stasi­akten nicht enthalten ist und auch sonst nicht auffindbar sei. Wollte sie in Erfurt Super-8-Filme mit Punks machen, in denen es um das Besteigen von phal­li­scher Archi­tektur ging, schleuste die Stasi einen beson­ders akro­ba­ti­schen Punk in die Szene ein, der dann als IM „Breaky“ in 2 Filmen Haupt­ak­teur wurde.

Wer die Partei­dik­ta­turen in Osteu­ropa als bloße Kontroll- oder Beob­ach­tungs­ge­sell­schaften bezeichnet, verkennt eine wesent­liche poli­ti­sche Funk­tion des Inlands­ge­heim­dienstes: seinen Insze­nie­rungs­auf­trag. Es ist deshalb ganz richtig, wie dies schon der Histo­riker Malte Rolf tat, die osteu­ro­päi­schen Partei­dik­ta­turen als Insze­nie­rungs­dik­ta­turen zu bezeichnen. Rolf meinte aller­dings mit diesem Begriff etwas anderes, die perma­nente Insze­nie­rung von Ideo­logie in Ritualen und Festen. Hier bedeutet Insze­nie­rungs­dik­tatur, wie das Beispiel der Lektüre von Stöt­zers Akten zeigt: die perma­nente Insze­nie­rung von Ereig­nissen bei der Schaf­fung von ‚inneren Feinden‘. Man hat es quasi mit einem riesigen Bereich des ange­wandten Thea­ters zu tun, dessen Erfor­schung – aus thea­ter­wis­sen­schaft­li­cher Sicht – noch brach liegt. Bei Gabriele Stötzer versuchte die Stasi aktiv Delikte herbei­zu­führen, in anderen Fällen wurden künst­le­ri­sche Tätig­keiten des Under­grounds aktiv verhin­dert, so dass eine Zensur, d.h. ein Verbot nicht mehr nötig war, etwa wenn eine Galerie oder eine künst­le­ri­sche Aktion einfach verboten werden sollte. Die „Liqui­die­rung“ der Galerie von Gabriele Stötzer wurde etwa durch eine Wohnungs­kün­di­gung voll­zogen, in anderen Fällen insze­nierte man einen Wasser­rohr­bruch, wenn eine inof­fi­zi­elle Vernis­sage statt­finden sollte.

In Russ­land lässt sich diese Zensur­praxis übri­gens noch heute beob­achten. Im Dezember 2014 wurde im teatr.doc, dem bekann­testen Off-Theater Moskaus, die Vorfüh­rung des Doku­men­tar­films Stärker als Waffen (2014) von Igor Savy­chenko – ein Film über den Wider­stand auf dem Majdan und den Krieg in der Ost-Ukraine – verhin­dert, indem man eine Bomben­dro­hung simu­lierte. Kurz vor Beginn der Vorfüh­rung platzten etwa zwanzig Poli­zisten gemeinsam mit Beamten des Kultur­mi­nis­te­riums in den Keller, evaku­ierten die Zuschauer und demon­tierten beinahe nebenbei das Film­vor­führ­gerät, beschlag­nahmten den Film, verwüs­teten die Räum­lich­keiten und zerstörten Requi­siten. Die Film­vor­füh­rung konnte nicht mehr stattfinden.

Während in der aktu­ellen russi­schen Kultur­po­litik die Prak­tiken des Geheim­dienstes offen­sicht­lich über­dauert haben – auch und gerade deshalb, weil die Geheim­dienst­akten nicht einsehbar sind – lassen sich in anderen ehema­ligen Ostblock­staaten, u.a. in Ungarn, Tsche­chien und Polen, die ehema­ligen Geheim­dienst­ar­chive mitt­ler­weile gut erfor­schen. Das ist nicht nur für die Geschichts­schrei­bung von Partei­dik­ta­turen, sondern auch für die Kunst- und Lite­ra­tur­ge­schichts­schrei­bung aufschluss­reich. Zwar dürfte es sich von selbst verstehen, dass man Stasi­akten nicht einfach als (kunst-)historische Quellen zu den bespit­zelten Personen und Vorgängen heran­ziehen kann. Man sollte nie vergessen, dass die entspre­chenden Doku­mente in erster Linie das Funk­tio­nieren der Stasi selbst erhellen. Dies gilt auch, wenn z.B. in Ungarn die Akten durchaus bestimmte Lücken in der Geschichte der Perfor­mance Art füllen: Auch hier doku­men­tieren die Akten nicht einfach ein Happe­ning, sondern den Akt der Bespit­ze­lung. Jenseits des quasi­do­ku­men­ta­ri­schen Wertes ist es jedoch wichtig zu berück­sich­tigen, dass die in den Akten doku­men­tierten Bewer­tungen und Hand­lungen der IMs selbst reali­täts­prä­gend waren. IMs hatten auch den Auftrag, in die Kunst­pro­duk­tion einzu­greifen und die Aner­ken­nung und Arbeit von einzelnen Künst­lern gezielt zu verhin­dern. Bei der heutigen Kunst­ge­schichts­schrei­bung sollte man deshalb nicht auf einen von der Stasi mitpro­du­zierten Kanon hereinfallen.