Es ist nicht das erste Mal, dass das Selbstbild des „Asyllandes Schweiz“ und die reflexartige Abwehr von Flüchtlingen kollidieren. 1942 sprach Albert Oeri von „Grausamkeit auf Vorrat“. Können die Lehren der Geschichte uns davor bewahren, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen?

Ikone der schweizerischen Flüchtlingsabwehr während des Zweiten Weltkriegs; Quelle: Werner Rings, Die Schweiz im Krieg, 1974, S. 331

Ikone der schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­ab­wehr während des Zweiten Welt­kriegs; Quelle: Werner Rings, Die Schweiz im Krieg, 1974

Der kürz­lich zum SVP-Oberexperten der Asyl­po­litik avan­cierte Aargauer SVP-Nationalrat Andreas Glarner hatte das neben­ste­hende Bild wohl nicht vor Augen, als er am 3. Mai 2016 in einem Inter­view mit dem Tages-Anzeiger forderte: „Die Schweiz muss ihre grüne Grenze mit einem Stachel­draht­zaun abrie­geln.“ Dieses Bild ist das wohl am häufigsten repro­du­zierte visu­elle Doku­ment zur schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­po­litik während des Zweiten Welt­kriegs. Es zeigt Flücht­linge an einer mit Stachel­draht verstärkten Grenze und darüber die Flagge des Landes, dessen Selbst­bild davon ausgeht, dass es schon immer ein beson­ders aufnah­me­be­reites Asyl­land gewesen sei. Kurz zuvor hatte man an der „Landi 39“, der Schwei­ze­ri­schen Landes­aus­stel­lung von 1939 in Zürich, in diesem Sinne lesen können: „Die Schweiz als Zufluchtsort Vertrie­bener, das ist unsere edle Tradi­tion.“ Das Bild von der stachel­draht­be­wehrten Grenze wurde in Werner Rings einfluss­rei­chem Volks­buch Die Schweiz im Krieg von 1974 einge­setzt, und es fand inzwi­schen den Weg in manche Schul­bü­cher. Hat Andreas Glarner es je zur Kenntnis genommen und, wenn ja, was hat er sich dabei gedacht? Sollte er es gesehen und sollte er sich dabei sogar etwas gedacht haben, könnten dies vor allem zwei Gedanken gewesen sein: „Ja, das war schreck­lich damals, jetzt ist es aber ganz anders.“ Oder: „Ja, man konnte eben nicht alle rein­lassen, aber aufge­nommen haben wir schon einige.“

Das mit dem „Stachel­draht“ tat Glarner nach­träg­lich leid, er habe in der Hitze des Gefechts über­trieben. Sogar die Basler Blocher-Zeitung bezeich­nete die Wort­wahl als unglück­lich, fand aber die deswegen aufge­kom­mene Debatte eine „lächer­liche Wort­klau­berei“ (4. Mai 2016). Auch wenn man die Haltung, aus der diese Formu­lie­rung entsprungen ist, verab­scheut, kann man es begrüssen, dass sie sich derart scho­nungslos offen­bart hat. Jetzt weiss man wenigs­tens, wes Geistes Kind hier das Wort erhalten hat. Der Stachel­draht steht auch für eine Mentalität.

Glarner hat seine Forde­rung mit dem Nach­satz begründet: „Es wird zu einer Flücht­lings­in­va­sion kommen.“ Was ist das für eine „Inva­sion“, die kommen wird oder kommen soll, damit man heroisch-patriotisch dage­gen­halten kann? Seit Monaten wird dieses Horror­sze­nario herbei­ge­schwatzt. Glarner spricht auch von „Völker­wan­de­rung“ und greift damit, ohne sich dessen bewusst zu sein, nach einem histo­risch belas­teten Begriff, der eine Sache bezeichnet, die es histo­risch nicht in der Form, wie gemeinhin ange­nommen, gegeben hat. Er selbst hat als Gemein­de­am­mann dafür gesorgt, dass Oberwil-Lieli 10 (in Worten: zehn) vom Kanton zuge­teilte Asyl­su­chende nicht aufnimmt und es vorzieht, sich mit 290’000 Franken frei­zu­kaufen. Die Gemeinden sollen nicht wie „Schwämme“ Asyl­su­chende aufnehmen, sondern Wider­stand leisten, verkün­dete er.

Das einzig Gute an der über­trie­benen Sturm­war­nung ist, dass sich Bund, Kantone und Gemeinden sorg­fältig abge­spro­chen haben, wie eine even­tuell anfal­lende Belas­tung durch Flücht­linge zu verteilen sei. Dabei ist der Schweiz vorbild­lich etwas gelungen, was die EU bisher wegen mangelnder Soli­da­rität nicht nur gegen­über den Flücht­lingen, sondern auch unter den Aufnah­me­staaten nicht zustande gebracht hat.

Grenzwache bei Schaffhausen, Zweiter Weltkrieg [ohne Jahr]; Quelle: srf.ch

Grenz­wache bei Schaff­hausen, Zweiter Welt­krieg [ohne Jahr]; Quelle: srf.ch

Glarner und Gleich­ge­sinnte ziehen es aber vor, statt zivilen Schutz mili­tä­ri­sche Grenz­ver­tei­di­gung zu fordern, dies übri­gens gegen den Willen der profes­sio­nellen Grenz­wache. Auch dies­be­züg­lich eine Wieder­ho­lung der Jahre 1939-1945, als die Miliz­sol­daten das Land nicht nur gegen den gar nicht einge­tre­tenen mili­tä­ri­schen Ernst­fall, sondern auch gegen die hilfs­be­dürf­tigen Flücht­linge vertei­digen mussten. Das betrifft im Übrigen auch die Dämo­ni­sie­rung des Schlep­per­we­sens, das nur darum ein Betä­ti­gungs­feld hat, weil keine regu­lären Flucht­wege bestehen (z.B. das Botschafts­asyl, das mit der Asyl­ge­setz­re­vi­sion von 2013 abge­schafft wurde).

 

Der Karikaturist setzt voraus, dass das „volle Boot“ eine allgemein bekannte Metapher ist; Quelle: Basler Zeitung vom 8. August 2015

Der Kari­ka­tu­rist setzt voraus, dass das „volle Boot“ eine allge­mein bekannte Meta­pher ist; Quelle: Basler Zeitung vom 8. August 2015

Könnte in unserer Zeit wieder einmal das Bild vom „vollen Boot“ daran erin­nern, wie schnell man eine Abwehr­hal­tung einnimmt, für die man sich nachher schämen muss? Diese Meta­pher ist tatsäch­lich ein starkes, zugleich ist es aber auch ein offen­sicht­lich schwa­ches Bild: Es kann uns daran erin­nern, dass es 1942 mit rund 10’000 in die Schweiz geflo­henen Menschen völlig zu Unrecht beschworen worden ist. Und es bewirkt doch recht wenig, weil der Bezug abstrakt bleibt. Inter­es­sant wäre aller­dings, was Poli­tiker Glarner, der sich anläss­lich seines Inter­views im Tages-Anzeiger mit einer „Schwei­zerkuh“ abbilden liess, zu einem Bild, wie es sogar in der ansonsten nicht beson­ders kriti­schen Basler Zeitung vom 8. August 2015 zu sehen war, zu sagen wüsste. Ihm stünden frei­lich die auch schon mehr­fach gehörten Ausflüchte zur Verfü­gung, dass man nur die ‚falschen‘ Flücht­linge abwehren wolle, um die ‚rich­tigen‘ aufnehmen zu können, und dass man den Flücht­lingen besser vor Ort helfe als in der dafür nicht geeig­neten Schweiz.

Unmenschlichkeit der Gegenwart später gemäss gehabter Praxis mit Entschuldigungen „wiedergutmachen“? Quelle: Weltwoche Nr. 28, 1997

„Haben die eigent­lich nichts draus gelernt, was wir mit den Juden gemacht haben?“ Quelle: Le Temps vom 5. Mai 1998

Unmenschlichkeit der Gegenwart später gemäss gehabter Praxis mit Entschuldigungen „wiedergutmachen“? Quelle: Weltwoche Nr. 28, 1997

Unmensch­lich­keit der Gegen­wart später gemäss gehabter Praxis mit Entschul­di­gungen „wieder­gut­ma­chen“? Quelle: Welt­woche Nr. 28, 1997

In den 1990er Jahren, während des Kriegs in Ex-Jugoslawien, zeich­nete der mitt­ler­weile noch bekannter gewor­dene Schweizer Kari­ka­tu­rist Patrick Chapatte die beiden neben­ste­henden Kari­ka­turen (veröf­fent­licht in der alten Welt­woche und Le Temps) und thema­ti­sierte so das Ritual der nach­träg­li­chen Exkul­pa­tion sowie die hart­nä­ckige Verwei­ge­rung, aus histo­ri­scher Erfah­rung zu lernen. Doch was helfen warnende Hinweise darauf, dass die jetzt einge­nom­mene Haltung einmal ein Thema und ein „dunkler Fleck“ der Geschichte werden wird und man dann nicht gut dasteht und sich mit einer Selbst­ent­schul­di­gung etwas Erleich­te­rung verschaffen muss? Glarner und Seines­glei­chen lassen Zweifel an der Wirk­sam­keit von solchen Rück­be­zügen auf die Geschichte aufkommen. Die Geschichte „hilft“ in solchen Fällen nur, wenn entspre­chende Sensi­bi­lität vorhanden ist. Sie kann diese sicher stärken. Fehlt sie jedoch, ist da nichts zu machen.

Histo­ri­sche Argu­mente setzen beim grossen Publikum ein mini­males Wissen voraus. Mit der seit 1995 sich wieder inten­si­vie­renden Vergan­gen­heits­de­batte wäre diese Voraus­set­zung an sich gegeben. Nach 1998 dürfte aber die Wirkungs­kraft der Vergan­gen­heit, die vorüber­ge­hend wieder zurückkam und nur scheinbar nicht vergehen wollte, wieder nach­ge­lassen haben.

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Anders liegen die Dinge bei sozialen Klein­gruppen, bei denen es, ihrer Sensi­bi­lität entspre­chend, eine leben­dige Konti­nuität zwischen dem „Damals“ und dem „Heute“ gibt, wie die Stel­lung­nahme der jüdi­schen Insti­tu­tionen im Refe­ren­dums­kampf von 2006 zur Verschär­fung des Asyl­ge­setzes zeigten. Eine leben­dige und entspre­chend stär­kere Konti­nuität gab es sodann auch im enga­gierten Milieu der Flucht- und Flücht­lings­helfer. Der Geschichts­bezug stärkte in diesem Fall ihr Selbst­ver­ständnis. Bei den Indif­fe­renten und den aktiven Leug­nern des histo­ri­schen Flücht­lings­dramas kann eine solche „leben­dige Tradi­tion“ aus nahe­lie­genden Gründen nicht wirken. Die Geschichte selbst bewirkt gar nichts. Die Kräfte, welche die Geschichte ins Spiel bringen, können an ihr zwar Orien­tie­rung und Kraft gewinnen, der Wirkung ihrer auf die Geschichte bezo­genen Argu­men­ta­tion sind jedoch enge Grenzen gesetzt.

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Kommen­tare auf der Facebook-Seite von Andreas Glarner, Juni 2016; Quelle: facebook.com/andreas.glarner.3?fref=ts

Das Glarner-Interview kam im Vorfeld der Abstim­mung zum Asyl­ge­setz vom 5. Juni zustande. Der Inter­viewte wollte die Asyl­po­litik des Bundes denun­zieren und war sich auch für persön­liche Verun­glimp­fung nicht zu gut (Justiz­mi­nis­terin Simo­netta Somma­ruga sei bloss eine „Klavier­spie­lerin“, hiess es etwa). Er dürfte die ange­strebte und für die Sicher­stel­lung von Anhän­ger­schaft ange­strebte Reso­nanz erhalten haben. Die bekämpfte Vorlage dagegen wurde mit 66,8 Prozent der Stimmen ange­nommen. Das ist für eine derar­tige Vorlage eine fast haus­hohe Zustim­mung. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass das Ja einer Verschär­fung des Asyl­ge­setzes galt, die auf Druck der SVP zustande kam, aber aus der SVP-eigenen Wider­sprüch­lich­keit zugleich bekämpft wurde.

Die Geschichte spielte in diesem Abstim­mungs­kampf keine Rolle. Im Zentrum stand die Frage der Effi­zienz der Asyl­prü­fung. Die Gegner der Vorlage versuchten mit tatsa­chen­wid­rigen und irre­füh­renden Behaup­tungen Stim­mung zu machen, indem sie den Bürge­rinnen und Bürgern etwa in Aussicht stellten, dass ihnen zur Unter­brin­gung von Asyl­su­chenden das Haus wegge­nommen („enteignet“!) werden könne. Sie befürch­teten, dass es nach der Annahme der Asyl­re­form schwie­riger sein werde, aus diesem Thema weiterhin poli­ti­schen Profit zu schlagen. Noch am Abstim­mungs­abend wurde an die seit längerem erho­bene Forde­rung nach „sofor­tigen“ Grenz­kon­trollen erin­nert. Womit wir wieder zumin­dest in der Nähe des Stachel­drahts wären.

J-Stempel in deut­schem Reise­pass, gemäss einer von Hein­rich Roth­mund mit deut­schen Stellen ausge­han­delten Verein­ba­rung von 1938; Quelle: migrosmagazin.ch

Ja, die Geschichte, sie spielte in der jüngsten Abstim­mungs­de­batte keine Rolle. Sie hätte aber eine spielen können. Der wegen seiner Zustän­dig­keit zu Flücht­lings­fragen von den Medien häufig ange­gan­gene Andreas Glarner erklärte nach der Abstim­mung, man müsse sich „einfach“ bewusst sein: „Je mehr Flücht­linge wir aufnehmen, desto schneller schwindet die Akzep­tanz in der Bevöl­ke­rung.“ (Tages-Anzeiger vom 9. Juni 2016) Wo stehen da die Glar­ners selber in dem hier als „einfach“ gegeben und unver­meid­lich darge­stellten Vorgang? Der für die schwei­ze­ri­sche Flücht­lings­po­litik während des Zweiten Welt­kriegs weit­ge­hend zustän­dige Poli­zei­chef Hein­rich Roth­mund hatte auch schon seine vom Anti­se­mi­tismus geprägte Flücht­lings­ab­wehr damit gerecht­fer­tigt, dass er den Anti­se­mi­tismus nicht verstärken wolle…

Auf dem Buckel von Asyl­su­chenden zu poli­ti­sieren, ist einfach und unge­fähr­lich, weil Flücht­linge nicht mit Stimm­zet­teln reagieren können. Und die Asyl­su­chenden sind die bevor­zugte Adresse, wenn man Frem­den­feind­lich­keit ausleben will. An ihnen wird in erster Linie die allge­meine Abwehr gegen „die Anderen“ durch­ex­er­ziert. Die in den 1970er Jahren im Vorder­grund stehende Feind­lich­keit gegen Arbeits­mi­gra­tion (Stich­wort: Schwarzenbach-Initiative) wurde in den 1980er Jahren vor allem zu einer Abwehr der Asyl­mi­gra­tion (Stich­wort: Asyl­ge­setz von 1987). Die Abwehr der Arbeits­mi­gra­tion erhielt abstim­mungs­tech­nisch erst mit der Massen­ein­wan­de­rungs­in­itia­tive von 9. Februar 2014 eine Neuauf­lage. Da zeigt sich sogleich, dass aus wirt­schaft­li­chen Über­le­gungen und Rück­sicht auf die EU der Abwehr Grenzen gesetzt sind, die in der Flücht­lings­po­litik weit weniger bestehen. Die Notwen­dig­keit, Flücht­lingen zu helfen, wie die Ableh­nung dieser Hilfe werden weiterhin zentrale Punkte der schwei­ze­ri­schen Politik sein. Inso­fern ist das bereits ein paar Wochen alte Inter­view mit dem SVP-Asyloberexperten Glarner leider keines­wegs veraltet.

 

Nach­trag: Glarner II

In einer befremd­li­chen Kumpanei bemühten sich „Stacheldraht“-Glarner und das Boulevard-Medium „Blick“ (8. Juli 2016), das doch etwas unvor­teil­hafte Image aufzu­po­lieren. Sie fuhren zusammen auf einem vier­tä­gigen Trip nach Grie­chen­land, wo sie zwei Flücht­lings­camps besuchten und wo sich Glarner dann mit einem Flücht­lings­baby im Arm, einer sieben Tage alten Tamam, ablichten liess. „Blick“ über Glarner: „Die Schick­sale der Kinder gehen dem zwei­fa­chen Fami­li­en­vater nahe.“ Für das Blatt und den Poli­tiker eine win-win-Situa­tion.

Das erin­nert nicht nur an die unzäh­ligen Bilder von Dikta­toren, die massen­me­dial insze­niert und propa­gan­dis­tisch verwertet Babies herzen, sondern auch an eine Geschichte von Hein­rich Roth­mund, der neben Bundesrat Eduard von Steiger der für die Grenz­schlies­sung von 1942 haupt­ver­ant­wort­liche Chef­be­amte. Ihm soll angeb­lich das Herz geschmolzen sein, als er an der Juragrenze mit der Realität der Flücht­linge konfron­tiert war. In einem Brief an seinen obersten Chef berich­tete er am 13. August 1942 über seine direkte Grenz­erfah­rung: Er sei dort einer „recht wenig erfreu­li­chen Gesell­schaft“ begegnet, habe es aber nicht über sich gebracht, diese zurück­zu­schi­cken, „da zwei herzige Kinder dabei waren“. Wieder in Bern zurück, setzte er seine Arbeit als Schreib­tisch­täter fort. „Herzige Kinder“ und eine herz­lose Politik vertragen sich bestens.