Nur wenige Dinge sind so verpönt wie das Spoilern eines Films oder einer Serie. Dabei ist der Spoiler ein junges Phänomen.

  • Simon Spiegel

    Simon Spiegel ist Senior Researcher am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung http://zff.openlibhums.org/ und schreibt für zahlreiche Publikationen über Film und verwandte Themen. Er veröffentlicht regelmässig auf simifilm.ch und utopia2016.ch.

Angeb­lich leben wir in Zeiten der gesell­schaft­li­chen Spal­tung, von Bubbles und weit ausein­an­der­klaf­fenden Vorstel­lungen, was man öffent­lich (noch) sagen darf oder sollte. In einem Punkt scheint aber über alle poli­ti­schen Lager und sozialen Gruppen hinweg Konsens zu herr­schen: Das Ende eines Films oder einer Serie zu verraten, ist einer der schlimmsten gesell­schaft­li­chen Fauxpas. Sei es in der Kaffee­pause, beim gemein­samen Feier­abend­bier, in einer Abend­ge­sell­schaft, auf Social Media oder in einer Zeitungs­re­zen­sion – wer verrät, dass James Bond am Ende von No Time to Die stirbt oder dass der vermeint­lich senile alte Mann in Squid Game in Wirk­lich­keit der Draht­zieher des tödli­chen Wett­kampfes ist, kann sich sofor­tiger allge­meiner Ächtung sicher sein. Spoi­lern, wie das Ausplau­dern entschei­dender Wendungen gemeinhin genannt wird, gilt als Erz-Unsitte, ja, als gera­dezu aggres­siver Akt, dem man entschieden entge­gen­treten muss.

Die Angst vor dem Spoi­lern ist zu einem derart grund­le­genden Element des Redens und Schrei­bens über fiktio­nale Inhalte geworden, dass leicht vergessen geht, dass wir es mit einem jungen Phänomen zu tun haben. Natür­lich war es schon immer möglich, das Ende eines Buches zu verraten, aber die heute allseits gras­sie­rende Spoiler-Phobie ist eine neue Erschei­nung, die viel darüber aussagt, wie sich unser Umgang mit Filmen und Serien seit der Jahr­tau­send­wende verän­dert hat.

Verän­derte mediale Bedingungen

Harry Potter „Spoiler Alert“, Quelle: tshirtpulse.com

Schon der Begriff „Spoiler“ selbst ist relativ jung. Als frühester Fundort gilt ein Post aus dem Jahre 1982 in einer Newsgroup-Diskussion. Thema ist der zweite Star-Trek-Film The Wrath of Khan. Zwar dauerte es noch rund zwei Jahr­zehnte, bis der Terminus in den allge­meinen Sprach­ge­brauch über­ging, dass aber ausge­rechnet in einem Online-Medium und in Zusam­men­hang mit einem Science-Fiction-Film zum ersten Mal vor einem Spoiler gewarnt wird, ist kein Zufall. Denn Spoiler, wie wir sie heute kennen und fürchten, sind eng mit der Verbrei­tung des Inter­nets und dem Siegeszug bestimmter erzäh­le­ri­scher Formen verknüpft.

Dass das Verraten wich­tiger Plot­wen­dungen erst mit Twitter und Konsorten zum Problem wird, ist nicht weiter erstaun­lich. Flächen­de­ckendes Spoi­lern setzt Medien mit grosser Reich­weite voraus wie Blogs und vor allem soziale Medien. Mittels Twitter und Face­book kann ich Tausende von Menschen ohne Verzö­ge­rung errei­chen. Vor allem ist es all jenen, die an meinen Enthül­lungen nicht inter­es­siert sein sollten, prak­tisch unmög­lich, sich ihnen zu entziehen. Eine Rezen­sion in einem klas­si­schen Print­me­dium kann ich allen­falls über­blät­tern. Bis ich aber gemerkt habe, dass ich den Inhalt eines bestimmten Tweets lieber nicht wissen will, habe ich diesen bereits gelesen.

Die verän­derten medialen Bedin­gungen sind nur die eine Seite. Ebenso wichtig ist, dass sich die Art und Weise, wie Holly­wood – und in der Folge auch zahl­reiche andere Film­in­dus­trien – Geschichten erzählt, funda­mental verän­dert hat. Seit rund einem Vier­tel­jahr­hun­dert boomen soge­nannt komplexe Erzähl­formen; damit werden in der Film­wis­sen­schaft Filme und Serien bezeichnet, deren Plots mit uner­war­teten Wendungen aufwarten, bei denen sich am Ende heraus­stellt, dass alles ganz anders war, als es zu Beginn den Anschein machte.

Charlie Brown, Quelle: bbs.boingboing.net

Zwar lebt auch der klas­si­sche Krimi in der Tradi­tion von Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie davon, dass just jene Figur als Mörder entlarvt wird, von der man es am wenigsten vermu­tete. Letzt­lich bleiben die Über­ra­schungen hier in engen Grenzen, das Arsenal an mögli­chen Auflö­sungen ist beschränkt. Wenn es nicht der Gärtner war, war es eben jemand aus der Verwandt­schaft oder der vermeint­lich blinde Milch­mann. Was nie zur Debatte steht, ist, dass gar kein Mord statt­ge­funden hat und dass das herr­schaft­liche Anwesen in Wirk­lich­keit nur ein Traum­ge­bilde ist. Genau dies wird Ende der 1990er Jahre jedoch zum erzäh­le­ri­schen Normal­fall. In Bryan Singers The Usual Suspects (1995) entpuppt sich ein Gross­teil der Film­hand­lung als Erfin­dung des vermeint­li­chen Simpels Verbal Kint, in The Sixth Sense (1999) von M. Night Shya­malan wird erst zum Schluss enthüllt, dass der von Bruce Willis gespielte Prot­ago­nist eigent­lich tot ist, während sich in Fight Club (1999) der geheim­nis­volle Tyler Durden als mentale Projek­tion der Haupt­figur erweist und in The Matrix – eben­falls 1999 erschienen – die ganze Welt eine grosse Compu­ter­si­mu­la­tion ist.

Die Plots und vor allem die Welten­kon­struk­tionen werden auf einmal deut­lich komplexer. Oder viel­mehr: Die beiden Ebenen lassen sich immer weniger klar vonein­ander trennen. In einem Film wie The Matrix oder einer Serie wie Game of Thrones ist die Hand­lungs­welt nicht mehr nur blosser Hinter­grund, sondern bestimmt mass­geb­lich den Plot; um zu verstehen, was es in Game of Thrones mit den White Walkers auf sich hat, welche die Westeros zu über­rennen drohen, muss man die Geschichte dieses Univer­sums kennen. Das Frei­legen der Regeln der erzählten Welt wird zuse­hends zum Motor der Hand­lung, und wenn einmal klar ist, wie diese funk­tio­nieren, ist auch das zentrale Rätsel gelöst.

Keine Über­ra­schung bei Hamlet

Das Ende eines Films konnte man immer schon verraten, doch das klas­si­sche Holly­wood­kino zeichnet sich nur sehr bedingt durch über­ra­schende Enden aus. Dass John Wayne am Ende des Westerns sieg­reich in die Weite der Prärie reiten wird, wissen wir eigent­lich schon von Anfang an, dass Julia Roberts und Richard Gere nach vielen Kompli­ka­tionen doch noch zusam­men­finden, eben­falls. In vielen tradi­tio­nellen Genres gibt es nichts zu spoi­lern, das wirk­lich von Belang wäre, da das Ende ohnehin fest­steht. Hierin unter­scheidet sich der Film nicht vom klas­si­schen Drama. Dass es für Ödipus und Hamlet kein Happyend geben kann, ist nur dann eine Über­ra­schung, wenn man nicht weiss, was die Gattungs­be­zeich­nung „Tragödie“ bedeutet.

Lange Zeit bleiben im Kino Über­ra­schungen wie jene am Ende von The Empire Strikes Back, als Luke Skywalker erfahren muss, dass Darth Vader sein Vater ist, die Ausnahme. Mitt­ler­weile stellen sie den Normal­fall dar. Kein James-Bond- oder Mission: Impos­sible-Film, in dem nicht mindes­tens ein Maul­wurf auf hoher Ebene entlarvt wird, und in den jüngsten Star-Wars-Filmen kommt man kaum noch nach vor lauter uner­war­teten Verwandt­schafts­be­zie­hungen und Wieder­auf­er­ste­hungen vermeint­lich verstor­bener Figuren. Filme­ma­cher wie M. Night Shya­malan und Chris­to­pher Nolan haben den mehr oder weniger raffi­nierten Twist sogar zu ihren Marken­zei­chen gemacht.

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Dass komplexes Erzählen just in den 1990er-Jahren populär wird, hängt eben­falls mit verän­derten medialen Rahmen­be­din­gungen zusammen. Lange Zeit waren Filme auf einma­liges Sehen hin ausge­richtet. Im Normal­fall sah man einen Film einmal im Kino und allen­falls Jahre später im Fern­sehen. Frei­lich konnte man sich im Kino einen Film mehr­mals zu Gemüte führen, aber alles in allem war dies doch eher die Ausnahme. Dreh­buch­au­torinnen und Regis­seure hatten entspre­chend einer Zuschauerin vor Augen, die sich einen Film nicht beliebig oft anschauen konnte, die nicht in der Lage war, an die entschei­dende Stelle zurück­zu­springen, um ganz genau hinzu­hören, was der Held im Drogen­de­li­rium murmelt, oder um geduldig zu entzif­fern, welche Ziffern­folge auf dem zerknit­terten Zettel steht.

Laura Palmer aus „Twin Peaks“ (1990), Regie: David Lynch, Quelle: villagevoice.com

Mit dem Siegeszug digi­taler Medien – zuerst der DVD, später Streaming-Angeboten – änderte sich dies grund­le­gend. Nun stand der Film jeder­zeit zur Verfü­gung, konnten Szenen und einzelne Einstel­lungen in aller Gründ­lich­keit seziert und analy­siert werden. Parallel dazu entstanden mit News­groups, Online-Foren und Social Media neue Orte, an denen Gleich­ge­sinnte mitein­ander fach­sim­peln konnten. Auch das Disku­tieren über Filme ist nichts Neues, aber die Chance, in der Kaffee­pause auf jemanden zu treffen, der mit glei­cher Begeis­te­rung Über­le­gungen dazu anstellt, wer Laura Palmer ermordet hat, ist doch ziem­lich klein. Online findet sich dagegen rasch eine Commu­nity, mit der man die esote­rischsten Details in aller Ausführ­lich­keit disku­tieren kann.

Einer der Urtexte komplexen seri­ellen Erzäh­lens ist Twin Peaks, David Lynchs und Mark Frosts Anfang der 1990er Jahre erschie­nene Serie um den Mord an eben jener Laura Palmer in einem amerikanisch-kanadischen Grenz­städt­chen. Vieles, was heute bei Serien Allge­meingut ist – die Selbst­ironie, das Mischen von Genres und vor allem die verschach­telte Hand­lung, die mit immer neuen Über­ra­schungen aufwartet –, war erst in Twin Peaks in einer für ein Massen­pu­blikum konzi­pierten Form zu sehen. Neu war auch, dass sich im Usenet Diskus­si­ons­gruppen bildeten, in denen begeis­terte Fans die Serie disku­tierten, Theo­rien zur Iden­tität des Mörders entwi­ckelten und Rezepte für Kirsch­ku­chen austauschten.

Was bei Twin Peaks noch spontan, ohne jedes Zutun von Produk­ti­ons­seite her entstand, war bei Lost, der grossen Erfolgs­serie Mitte der Nuller­jahre, längst inte­graler Teil des Gesamt­kon­zepts. Heute gibt es kaum eine Serie oder Gross­pro­duk­tion, um die sich nicht eine einge­schwo­rene Commu­nity schart, deren Mitglieder jede Folge analy­sieren und auf einen tieferen Sinn hin abklopfen. Diese Gemeinden gilt es bei der Stange zu halten. Die Indus­trie tut dies auch nach Leibes­kräften, seit sie erkannt hat, dass Fans einen perfekten Multi­pli­kator darstellen. Denn Fans tragen die Begeis­te­rung für einen Film nach draussen, sie können über­zeu­gender dafür werben als jedes Plakat und nehmen der Werbe­ab­tei­lung damit einen wich­tigen Teil ihrer Arbeit ab.

So omni­prä­sent die Angst vor Spoi­lern scheint, sie betrifft effektiv nur einen bestimmten Teil des popu­lären Kinos. So ist beispiels­weise im Zusam­men­hang mit Doku­men­tar­filmen selten von Spoi­lern die Rede, obwohl auch in dieser Gattung das Ende keines­wegs immer absehbar ist. Im Arthouse-Bereich spricht man eben­falls deut­lich seltener von Spoi­lern. Die Vorstel­lung, dass man einen Film von Agnès Varda, Wim Wenders oder Jim Jarmusch spoi­lern kann, scheint regel­recht absurd.

Nichts ist mehr endgültig

Happyend für Thanos in „Aven­gers: Infi­nity War“, Quelle: movieplot.de

Dass in Holly­wood komplexe Erzähl­formen so beliebt sind und damit auch die Spoi­ler­ge­fahr stets akut ist, liegt nicht zuletzt daran, dass Twist-Filme einen anderen grossen Trend der Film­in­dus­trie ideal ergänzen. Denn in den Chef­etagen der grossen Studios denkt man längst nicht mehr nur in einzelnen Filmen, sondern vorrangig in Mega-Franchises, also in cross­me­dialen erzäh­le­ri­schen Universen. Das grosse Vorbild, dem alle nach­ei­fern, ist das Marvel Cine­matic Universe, bei dem die Comic­schmiede Marvel respek­tive Disney das Kunst­stück voll­bracht hat, über andert­halb Jahr­zehnte hinweg ein ganzes Geflecht von Filmen, Serien, Comics und Games rund um die Figuren Iron Man, Hulk, Thor, Black Widow, und wie sie alle heissen, zu errichten. Alles ist hier mit allem verknüpft, jeder Film verweist bereits auf den nächsten und kein Ende ist wirk­lich endgültig. Nicht einmal, als der Böse­wicht Thanos in Aven­gers: Infi­nity War die Bevöl­ke­rung des gesamten Univer­sums halbiert.

Dass diese Art der Endlos­ge­schichte kommer­ziell äusserst inter­es­sant ist, dass ein Studio viel lieber eine erfolg­reiche Reihe fort­setzt, anstatt mit einem neuen Stoff eine Bruch­lan­dung zu riskieren, liegt auf der Hand. Und was eignet sich hierfür besser als eine Form des Erzäh­lens, bei der eine uner­war­tete Wendung jeder­zeit alles wieder ändern kann? Bei der – wie eben in Aven­gers: Infi­nity War – selbst der totale Triumph des Böse­wichts nicht endgültig ist und im Folge­film wieder rück­gängig gemacht werden kann?

Die Perfek­tio­nie­rung dieses Modells führt dazu, dass der Druck perma­nent hoch bleibt. Der neue Block­buster mag zwar noch über­ra­schen­dere Enthül­lungen bringen und endlich erklären, warum Figur x im voran­ge­gan­genen Film so und nicht anders gehan­delt hat und was es wirk­lich mit Böse­wicht y auf sich hat. Während dem Publikum fort­lau­fend sugge­riert wird, dass nun wirk­lich und endlich der Höhe­punkt inklu­sive grosser Auflö­sung ansteht, ist der einzelne Film in der wirt­schaft­li­chen Logik der Studios wenig mehr als ein über­langer Trailer für das nächste Sequel, das bereits vor der Tür steht und noch umstür­zen­dere Über­ra­schungen verspricht. Es droht eine stän­dige Über­hit­zung, und es ist nicht voll­kommen verkehrt, wenn man in den gehäs­sigen Reak­tionen auf Spoiler auch eine Folge dieses konstant heiss­lau­fenden narra­tiven Perpe­tuum mobiles sieht.