Ich wollte es tun, sechs Wochen lang die Weltwoche lesen, so ganz nach dem Motto: „Sechs Wochen Weltwoche. Ein Selbstversuch“. Geschafft habe ich immer nur das Editorial. Danach musste ich das Blatt – angewidert vom Vokabular – weglegen, so auch die letzte Ausgabe, die am 30. März unter dem Titel „Islam“ erschien. Manchmal möchte man dann einfach nur noch sagen: „Schluss jetzt, Roger Köppel, es reicht!“
Dabei war vieles von dem, was da zu lesen war, eigentlich nur das, was sonst auch in diesem Blatt geschrieben steht, wenn es um die Themen Flüchtlinge, Asyl, Islam, Muslime geht – die übliche offizielle SVP-Litanei eben. In Stichworten: die „Zuwanderungspolitik“ der EU sei unverantwortlich, ja „krank“; Muslime seien nicht „integrierbar“, wie an den Terroranschlägen zu sehen sei; überhaupt gefährdeten Muslime unser Leben, da sie „aus Gebieten“ kämen, „in denen Stammesfehden und Blutrache an der Tagesordnung“ wären; zudem lebten sie „mittelalterliche Auffassungen von männlicher Ehre“ mit „tödlichem Eifer“ aus. Am Ende des Editorials dann noch der hinlänglich bekannte Hieb, die neue Asylgesetzrevision werde „die Schweiz noch attraktiver für Asylbetrüger und falsche Flüchtlinge“ machen; „Gratisanwälte“ sicherten diesen nur – „beschleunigt“ – ihren Aufenthalt in der Schweiz. Et cetera pp., Sie kennen das alles.
Oder wurden da etwa doch neue Töne angeschlagen? Die Huffington Post reagierte auf das Editorial – offenbar alarmiert, weil der „Schweizer Medienmogul“ im wahrsten Sinne des Wortes schweres Geschütz aufgefahren hatte: „Europa ist im Begriff sich selber abzuschaffen“, hatte Roger Köppel in seinem Editorial posaunt und dies folgendermaßen begründet:
Die grössenwahnsinnige ‚Wir-schaffen das‘-Mentalität hat in der europäischen Geschichte regelmässig Katastrophen verursacht. Vermutlich dachten die europäischen Staatenlenker ähnlich, als sie ihre Armeen im Sommer 1914 in einen vermeintlich kurzen Krieg schickten: ‚Wir schaffen das.‘ Vier Jahre und Millionen von Toten später sah man den Irrtum ein. Ausbaden mussten es die Völker, nicht die Regierenden. –Roger Köppel
Das ist zynisch und schon bei wenig Licht betrachtet, historisch dumm. Dass es nicht das einzige war, das einem zumindest für einen Moment die Sprache verschlagen konnte, erfuhr allerdings nur, wer das Editorial selber las: Der Chefredakteur der Weltwoche belebte darin nämlich zwei Worte wieder, von denen man eigentlich dachte, dass sie vor einem halben Jahrhundert aus guten Gründen in der Versenkung verschwunden seien: die Rede vom „Massenexperiment“ (das angeblich unverantwortliche, nicht mandatierte Politiker derzeit an „unseren Gesellschaften“ durchführten) und das Adjektiv „entmenscht“. Letzteres dient Köppel, wenig verklausuliert, zur Charakterisierung der Attentäter, die für den IS im Einsatz sind. Das geht definitiv zu weit: Wer anfängt, von „entmenscht“ zu sprechen, ist nur noch einen Handbreit davon entfernt, Menschen wieder als „Untermenschen“ zu klassifizieren und ihnen Rechte zu verweigern. Auch Kriminelle waren bzw. sind, was immer sie Abscheuliches getan haben, Menschen. Darauf müssen wir allein als Verteidiger rechtsstaatlicher Prinzipien insistieren.
Der Artikel der Huffington Post ging durch die sozialen Medien, einige Leser empörten sich, andere beschwichtigten, Köppel sei nicht wirklich einflussreich; in diesem Sinne fiel auch die Bemerkung, er sei ‚bloß‘ ein „Schreibtischtäter“. Nun ja, man kann ihn so nennen, den Chefredakteur der Weltwoche, und viele andere seiner aktiven ParteikollegInnen ebenso. Doch Schreibtischtäter zu sein, schmälert ihre Bedeutung leider nicht. Zwar reihen sie sich gerne selber in „das Volk“ ein, in dessen Namen sie zu reden vorgeben, weil sie angeblich so gut wissen, was es will; doch in erster Linie verstecken sich damit hinter dem sogenannten Willen „des Volkes“, um ihre eigene Verantwortung als Individuen herabzusetzen. Doch Schreibtischtäter haben Gewicht: Denn sie ergreifen das Wort, bemächtigen sich der Sprache, ganz bewusst und gezielt, und sie setzten sie ein in Zeitungen wie der Weltwoche (früher nannte man das, für alle erkennbar, Parteiorgan).

Quelle: autorwolfgangpache.de
Sprache erzeugt Stimmungen, Vorstellungswelten – Roger Köppel et. al. wissen das genau. Anders ist nicht zu verstehen, warum sie die absurde Parole ausgeben, die Schweiz sei „auf dem Weg zur Diktatur“ und dies in Varianten immerzu wiederholen; oder im letzten Editorial der Weltwoche, gar unverblümt Nazi-Vokabular reaktivieren, das Individuen oder Gruppen das Mensch-Sein abspricht. Oder warum sie schliesslich im Kontext der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und die Millionen von Toten verweisen. Als taugte dieser historische Vergleich auch nur ein Quäntchen, um die gegenwärtige Situation zu beschreiben! Er tut es nicht, und ich bin sicher, der Autor weiß das. Er setzt dieses angebliche „Lernen aus der Geschichte“ zynisch als ein strategisches Mittel ein, um Menschen gegen eine liberale Flüchtlingspolitik aufzuwiegeln und gegen die anstehende Asylgesetzrevision in Stellung zu bringen. Es winkt die Abstimmung am 5. Juni.
Man kennt diese Strategie von den Rechtspopulisten. Eigentlich ist sie so flach, dass man darüber ermüden könnte. Doch ganz erfolglos ist sie leider nicht, wie die letzten 20 Jahre zeigen. In dieser Zeit hat sich das Misstrauen gegenüber Flüchtlingen zunehmend verschärft, ebenso die Asylgesetzgebung – vorbereitet und flankiert durch Schreibtischtäter, die sich ihrer Sprechweisen sehr bewusst waren. Daran hat sich auch gegenwärtig nichts geändert. Es ist kein Zufall, dass Roger Köppel in seinem Editorial nur noch von „Zuwanderung“, „Migration“ und „Völkerwanderung“ spricht – nicht aber von „Flüchtlingen“. Köppels Sprechen ist hier ganz bewusst Handlung; seine Sprechweise ist höchst sensibel gegenüber Rechtsansprüchen, die mit dem Begriff des „Flüchtlings“ verbunden sind. Dieser impliziert nämlich, dass man ihre Flucht als kriegs- oder verfolgungsbedingt anerkennt, und die internationale Flüchtlingspolitik schränkt in solchen Fällen aus guten Gründen die Souveränität der Staaten ein. Denn Flüchtlinge haben Rechte, unter anderem das Recht, ein Gesuch auf Asyl zu stellen.
„Wanderern“ und „Migranten“ steht dieses Recht indes nicht zu. Wer Menschen aus Syrien oder Eritrea zu „Migranten“ erklärt, bereitet damit sprachlich ihre Entrechtung vor, denn die eigenen Grenzen kann man vor diesen Menschen beruhigt schließen. Paradoxerweise könnte man sie sogar abweisen und sich vormachen, man habe das Asylrecht, das ja nur für ‚echte‘ Flüchtlinge gelte, auf diese Weise verteidigt. Tatsächlich aber würden in diesem Augenblick Menschen, die in ihrer Not geflohen sind, gewissermaßen zu Staatenlosen gemacht. Das ist verheerend. Denn auch wenn Staatenlose heute theoretisch nicht gänzlich rechtlos sind, braucht es Instanzen, die diese Rechte für sie sicherstellen. Doch wer soll das sein, wenn Staaten, sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen? Natürliche Menschenrechte, die man einfach ‚hat‘, ohne dass sie jemand für einen sichert, gibt es nicht. Wenn Staaten an dieser Stelle versagen, sollten sie schleunigst aufhören, für sich reklamieren, der Schutz der Menschenrechte läge ihnen am Herzen.
Es gilt also, aufmerksam zu sein, wenn Schreibtischtäter sprechen. Denn sie sind darauf aus, nicht nur Sprechweisen und Bedeutungen zu verschieben, sondern auch Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen zu ändern. Gerade in einem Land, in dem durch Volksabstimmungen über die Ausformulierung von Rechtsnormen mitentschieden wird, ist das nicht belanglos.