
Nicht nur in der deutschen Bundeshauptstadt läuft der Wahlkampf mit voller Kraft. Auch in Bayern und Hessen ist schon Vorwahlkampf für den Herbst. Nur so lässt sich erklären, wie es die Berliner Silvesternacht auf die nationale Aufmerksamkeitsbühne gebracht hat. Dennoch ist bemerkenswert, wie, ja, fast schon automatisiert die diskursive Eskalation eingesetzt hat: Bundesinnenministerin Nancy Faeser spricht von „gewaltbereiten Integrations-Verweigerern“; Jens Spahn macht die „ungeregelte Migration“ verantwortlich; die Berliner CDU will die Vornamen von Tatverdächtigen mit deutscher Staatsangehörigkeit erfahren; eine FDP-Bundestagsabgeordnete diagnostiziert „kulturelle Überfremdung“; die CSU möchte die Gelder für den Stadtstaat umgehend kürzen; der durch Zeitungen und Talkshows tourende „Integrationsexperte“ Ahmad Mansour konstatiert, der Hass auf Staat und Polizei sei selbst eine Art Rassismus; die Bild-Zeitung fordert und die AfD verspricht schnelle Abschiebungen und sogar Ausbürgerungen. All diese öffentlichen Aussagen wurden getroffen, bevor man sich überhaupt einen genauen Überblick darüber verschaffen konnte, was in der Silvesternacht in Berlin geschehen ist.
Inzwischen musste die Polizei die Zahl der durch Böller verletzten Beamten ebenso deutlich nach unten korrigieren wie die der Festgenommenen – und feststellen, dass es sich bei den Polizisten attackierenden Männern mehrheitlich um Deutsche handelte. Ein genauerer Blick lohnt sich, um die hinter der Eskalation der öffentlichen Debatte liegenden diskursiven Dynamiken besser zu verstehen. Diese dürften allerdings all jenen altbekannt sein, die sich mit der jüngeren Geschichte des Rassismus in Deutschland befassen. Wie gewohnt, verfährt die Skandalisierung höchst ahistorisch, selektiv und postfaktisch. Sie folgt den gut etablierten Mustern des Diskurses um Integration und diejenigen Menschen in Deutschland, die aus dessen Sicht zunächst und zumeist als Problem erscheinen.
Diskursive Eskalationsstrategien
Die Skandalisierung beginnt, wo die „Berliner Silvesternacht“ zu einem eigenständigen Problem gemacht wird. Dies ist nicht selbstverständlich. Zusammenschnitte älterer Tagesschau-Sendungen, wie sie in populären Tweets geteilt wurden, führen schnell vor Augen, dass Ausschreitungen und Randale in der Silvesternacht nichts Neues und kein Spezifikum migrantisch geprägter städtischer Räume sind. So begleitete den Jahreswechsel Gewalt in anderen und vor allem auch kleineren Städten, was aber kaum mediale und politische Resonanz gefunden hat. Im sächsischen Borna etwa griffen an Silvester Randalierer – einigen Zeugen zufolge unter „Sieg Heil“-Rufen – Rathaus und Polizei an. Auf solche Fälle aufmerksam zu machen, ist kein whataboutism, keine Verharmlosung der Gewalt in der Hauptstadt. Vielmehr macht ein solcher Realitätsabgleich die selektive mediale und politische Skandalisierung von Gewalt sichtbar, die sich auch im größeren Maßstab feststellen lässt. Die an Aggressivität und Organisationsgrad deutlich besorgniserregenderen Angriffe auf Polizist*innen, aber auch Journalist*innen und Gegendemonstrant*innen bei ‚Querdenker‘-Demos etwa haben für kein vergleichbares Erregungsniveau gesorgt. Schon droht die gut vernetzte Reichsbürger-Bewegung im Vergleich zur „migrantischen Gefahr“ heruntergespielt zu werden.
Bemerkenswert an der diskursiven Eskalation sind insofern nicht nur die bemühten rassistischen Bilder und Argumentationen, die sich etwa in den zu Beginn zitierten Kommentaren – von AfD über CDU bis hinein in die SPD und Grünen, vom Boulevard bis in die bürgerlichen Medien – unverhohlen Ausdruck verschaffen. Bemerkenswert und besorgniserregend ist vor allem der weniger explizite, in gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Deutungsmuster eingelassene Rassismus, der ein soziales Klima hervorbringt, in dem solche Reaktionen naheliegend erscheinen. Er sorgt dafür, dass rassistische Interpretationen Resonanz in einer breiten Öffentlichkeit finden und – dies ist besonders erheblich – für die zum Problem erklärten Betroffenen erwartbar werden. Sie lernen hier, welchen Platz ihnen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zugebilligt wird. Damit artikuliert sich in den Kommentaren und Wortmeldungen ein überkommenes und letztlich antidemokratisches Gesellschaftsverständnis, das uns daran hindert, die sozialen Verhältnisse angesichts der Herausforderungen der Zeit solidarisch zu gestalten. Damit wird das vermeintlich diagnostizierte Problem – Spaltung der Gesellschaft – verschärft bzw. überhaupt erst produziert.
Das Phantasma der Integration
Symptomatisch für diese sich selbst unterlaufende Logik ist der Diskurs der Integration. Zur Erinnerung: Fahrt aufgenommen hat die Rede von der Integration Ende der 1990er Jahre, als die CDU nach einer Möglichkeit suchte, die staatsbürgerschaftliche Modernisierung und Demokratisierung des Landes aufzuhalten. Die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder bemühte sich damals um eine Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechts, die sich insbesondere in der Schaffung des „Doppelpasses“ niederschlagen sollte. „Ja zur Integration. Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft“ hieß das Bekenntnis einer von CDU und CSU auf den Straßen ausgetragenen Unterschriftenkampagne, die insbesondere im hessischen Landtagswahlkampf 1999 hohe Wellen schlug. Die Bundesregierung knickte ein, die Rede von der Integration nahm Überhand und die Liberalisierung des Staatsbürgerrechts wurde einstweilen verschoben – und dann aufgeweicht. In der gegenwärtigen Stimmungsmache gegen die aktuell diskutierte weitere Erleichterung der Einbürgerung, die als „Verramschen“ der deutschen Staatsbürgerschaft attackiert wird, wiederholen rechtskonservative Kreise das Manöver. Die gegenwärtige politische Kampagne gegen „Leute, die eigentlich in Deutschland nichts zu suchen haben“, so Friedrich Merz, und die autoritär-nationalistische Drohung mit einem Verbot der Mehrsprachigkeit auf deutschen Schulhöfen sind in diesen Kontext einzuordnen.
Integration wird in diesem Zusammenhang stets als Ausweg und Angebot beschworen. Dass sie gescheitert sei, zeige der mangelnde Respekt der „nicht-deutschen“ Randalierer vor der Staatsgewalt. „Respektlosigkeit“ wird in der öffentlichen Debatte allzu schnell zum Ausdruck einer insgesamt mangelhaften Legitimation des politischen Systems und einer allgemeinen Krise des sozialen Zusammenhalts in Deutschland erklärt: zum „Demokratiedefizit“. Integration wird so als Lösung für die unterschiedlichsten Problemlagen präsentiert, kann sich als wohlfeile Rede hartnäckig im öffentlichen Diskurs halten und lässt sich immer wieder als politische Waffe einsetzen, obwohl die mit diesem Konzept verbundenen Probleme längst hinreichend bekannt sind.
Diese Probleme fangen damit an, dass „Integration“ die Gegenüberstellung eines national gedachten „Wir“ und „der Anderen“ und damit die mehr als bloß symbolische Ausschließung von großen Teilen der Bevölkerung in Deutschland fortschreibt, von denen viele von Geburt an eine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen – und das betrifft bei weitem nicht bloß junge Menschen. Die gleichzeitige Homogenisierung des ihnen gegenübergestellten „Wir“ führt in einen überholten argumentativen Nationalismus, der angesichts transnationaler Verflechtungen sozialer Beziehungen und Zugehörigkeiten, ökonomischer Strukturen und Prozesse und kultureller Formationen geradewegs naiv erscheint. Forderungen nach mehr oder besserer Integration gehen stets davon aus, dass das integrierende „System“ gutwillig ist und allen dieselben, oder doch zumindest faire Chancen bietet, die zu Integrierenden aber leider nicht immer mitspielen. Sie müssen daher in Konfliktfällen zur Ordnung gerufen werden oder sind gleich ganz zu entfernen. Der Integrationsimperativ bereitet so nicht auf die Realitäten von Gegenwart und Zukunft unserer durch und durch von Migration geprägten Gesellschaft vor – es sei denn, man wünscht sie sich in autoritärem Gewand.
Zugleich werden auf diese Weise gesellschaftliche und politische Zugehörigkeiten an doppelte – kulturalistische und ökonomistische – Bedingungen geknüpft. Nur wer von vornherein zum „Wir“ gehört, gehört auch vorbehaltlos dazu. Alle andern müssen sich ihre Zugehörigkeit immer erst verdienen und beständig unter Beweis stellen. Insofern geht auch die Kritik an einer letztlich ethnischen Volksdefinition nicht weit genug, wenn sie sich einer defensiven, ökonomisch verklärten Argumentation verschreibt und Zugehörigkeit an Leistung koppelt.
In vorauseilenden Gehorsam gegenüber rassistischen Einwänden wird so etwa immer wieder auf den „Fachkräftemangel“ sowie die Verdienste von Migrant*innen verwiesen („bereichert haben sie uns kulturell und geleistet haben sie viel“). Damit bedient man letztlich aber nur selbst wieder eine antidemokratische und rassistische Logik, in der Gruppen und ihre Mitglieder mit Blick auf ihren Wert und ihre Nützlichkeit hierarchisiert („gute“ vs. „schlechte Migrant*innen“) und immer nur teilweise inkludiert werden. Die tatsächlichen Defizite und Krisen von Demokratie und sozialem Zusammenhalt haben vor allem hier ihren Ursprung.
Es ist eine bittere Ironie, dass die an der Realität der Migrationsgesellschaft vorbeigehende Migrations- und Staatsbürgerschaftspolitik selbst signifikant zu den sozialen Defiziten in der migrantischen Bevölkerung beiträgt, die sie beständig beklagt, und damit Scheitern und Elend des Integrationsdiskurses besonders scharf vor Augen führt: Er scheitert, weil unter den Tisch fällt, dass die zu Integrierenden ohne die strukturellen Hürden, die vom Aufenthaltsrecht über das Bildungssystem bis hin zur politischen Teilhabe reichen, eigentlich schon längst integriert sein könnten. Und er ist elend, weil die Hürden im Integrationsdiskurs nicht nur unerwähnt bleiben, sondern von strukturellen Hindernissen und mangelnden staatlichen Anstrengungen zu individuellem Versagen umdefiniert werden. Die Schuld lässt sich so immer nur bei den vermeintlichen Integrationsverweigerern suchen. Darum ist auch der in der Diskussion der vergangenen Tage immer wieder hervorgebrachte soziale Einwand – die Sozialisation! der soziale Brennpunkt! – so zahnlos, solange dieser Vorstellung von „Integration“ nicht entschieden entgegengetreten wird.
Transformation des Rassismus
Das Resultat der verfehlten Integrationsideologie der letzten Jahrzehnte ist eine doppelte, politisch katastrophale Spaltung von oben: In sich selbst verstärkenden Wiederholungsschleifen wurde und wird ganzen Bevölkerungsgruppen nicht nur die Zugehörigkeit abgesprochen. Sie werden zum Problemfall oder sogar zur Gefahr für den sozialen Zusammenhalt. Das kommt an und spricht sich rum. Alle, die es wissen sollen (falscher Name, falsches Aussehen, falscher Hintergrund, falscher Pass, falsches Viertel), vernehmen, dass Zugehörigkeit, wenn überhaupt, dann nur bedingt und bis auf Weiteres, bei guter Führung gewährt wird – und solange wie von oben geduldet. Das ist fatal in einer Gesellschaft, in der staatlichen Statistiken zufolge inzwischen über ein Viertel einen „Migrationshintergrund“ haben, die sich also demokratisieren und modernisieren könnte und angesichts von sozialen Spaltungen und Krisen auch müsste. Doch mit der Debatte um die Berliner Silvesternacht droht ein weiteres Mal die Chance verpasst zu werden, ein neues, den sozialen Realitäten angemessenes Selbstverständnis zu begründen, das mit der rassistischen Logik des Integrationsdiskurses bricht.
Wer die rassistische Logik des Integrationsdiskurses benennt, erntet leicht Empörung. „Ein Problem zu benennen, kann nicht rassistisch sein“, hält etwa der Jurist Ademir Karamehmedovic der Kritik an der Diskursdynamik der aktuellen Debatte entgegen. Auch andere betonen, ihnen gehe es doch nur um Kultur, Religion, Sozialisation, Staatsverachtung – also sei das nicht rassistisch. Doch damit macht man es sich viel zu leicht. Die wissenschaftliche Diskussion der letzten zwei Jahrzehnte hat vielfach herausgearbeitet, dass es gerade die Verbindung von Kulturalisierung und Ökonomisierung ist, die es dem Rassismus erlaubt, sich unter sich verändernden Bedingungen neu zu formieren und zu reproduzieren – auch in Deutschland. Dass Rassismus bei uns lange Zeit als Rechtsextremismus sowie „Ausländer-“ und „Fremdenfeindlichkeit“ dethematisiert, pathologisiert und rationalisiert worden ist, ist Teil des Problems. Bis heute wird er kaum als ein zentraler und komplexer Modus aufgefasst, der unsere Gesellschaften strukturiert und desorganisiert.
Seine strukturierende und trennende Kraft lässt sich auf vielen gesellschaftlichen Feldern beobachten, etwa in der Wirtschaft. Während man in der aktuellen Debatte migrantisierten Jugendlichen die Zugehörigkeit abspricht, lässt man ihre Familienangehörigen – Eltern und Großeltern – seit der Zeit der „Gastarbeiter“ die unterbezahlte und prekarisierte Arbeit in Kliniken, Putzdiensten, in der Logistik und den Fabriken machen. Was dabei herauskommt, ist keine „migrantische Parallelgesellschaft“, die sich weigert, sich zu integrieren. Vielmehr ist genau die Verbindung der ökonomischen Realität migrantisierter Arbeit mit ihrer kulturellen und politischen Abwertung Teil der Gesellschaft und bringt die Distanzierung von „nationalem Wir“ und „den Anderen“ durch die gesellschaftliche Organisation ungeliebter Arbeit erst hervor. Rassismus spielt hierbei eine gleich mehrfache Rolle: Er hält einen segregierten Arbeitsmarkt am Laufen, legitimiert Ausschluss und Prekarisierung, und dient der Disziplinierung derer, die in diesem System der Verknappung und der Konkurrenz keinen Platz finden können oder finden möchten. Das Versprechen des Aufstiegs durch Leistung in einer durch sich verschärfende Konkurrenzkämpfe gekennzeichneten sozialen Lage gilt vordergründig zwar allen und polarisiert die Gesellschaft als solche, erweist sich aber als besonders hohl, wenn es mit rassistischen Strukturen und Diskursen einhergeht, die für den migrantisierten Teil der Gesellschaft eigene Barrieren errichten. Die Diskussion um Integration erweist sich ein weiteres Mal als Sackgasse, aus der es keinen Ausweg gibt.
Solidarische Perspektiven
In dieser Situation wird weder der Ruf nach der harten rechten Hand des Staates noch das sich schnell als ideologisch erweisende neoliberale „neue Aufstiegsversprechen“ an die Stelle der Suche nach alternativen Perspektiven für ein solidarisches Zusammenleben treten können. Der von oben betriebenen und von Teilen der Mehrheitsgesellschaft akzeptierten Spaltung kann nur durch Solidarität begegnet werden. Was es braucht, ist eine gesellschaftliche Praxis der Solidarität, die den Kreislauf von rassistischer Stigmatisierung durch Polizei, Medien und Politik, sozialem Ausschluss und Aufforderung zur Integration und Leistung unterbricht. Sie müsste allen, die hier leben, gleichen Zugang zu Bildung und Freizeitangeboten, zum Gesundheitssystem und zu Wohnraum, zu Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, zu kulturellen und medialen Praktiken und zur politischen Selbstbestimmung bieten. Dass Kinder von Migrant*innen von politischen und sozialen Rechten ausgeschlossen sind und eben keinen gleichen Zugang zu vermeintlichen Gemeinschaftsgütern und öffentlicher Infrastruktur haben, ist hinreichend belegt und gerade im Zuge der Covid-19-Pandemie nochmal besonders deutlich geworden. Eine nicht-rassistische Rechtfertigung hierfür gibt es nicht – und von Integrationsverweigerung zu reden, macht es nicht besser. Für eine solidarische Gesellschaft hingegen braucht es politische Verantwortung, kollektiven Einsatz und unablässigen Mut im Kampf für tatsächlich gleiche Rechte in allen Lebensbereichen und widerständigen Erfindungsreichtum. Und zwar im Dienst einer solidarischen, demokratischen und nachhaltigen Gestaltung sozialer Verhältnisse, die sich vom Diskurs der Integration und dem ihm zugrundeliegenden antidemokratischen Phantasma einer homogenen Gemeinschaft endgültig verabschieden muss.
Mit Abstand das Beste, was mir bisher zu diesem „Thema“ unter die Augen bzw. zu Ohren gekommen ist. Vielen Dank für diese ausgezeichnete Analyse.