Mit Wörtern Fakten schaffen: wie so etwas in der journalistischen Praxis funktioniert, zeigt auf irritierende Weise der NZZ-Neologismus „spätegalitär“. Es lohnt sich, solche Kaltstellungen demokratischer Grundprinzipien etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

  • Sabine Haupt

    Sabine Haupt ist Autorin, Publizistin und Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg. 2015 erschien ein Erzählband von ihr, 2018 erscheint ein Roman. Homepage: sabinehaupt.ch

Dass Sprache weder mime­tisch noch neutral ist, ist allge­mein bekannt. Sie liefert kein Abbild der Wirk­lich­keit, allen­falls model­liert sie diese. Es ist sinn­voll, sich diese Binsen­weis­heit des kommu­ni­ka­tiven Handels auch im sprach­li­chen Alltag immer wieder vor Augen zu halten. Vor allem, wenn vermeint­lich Selbst­ver­ständ­li­ches nur en passant erwähnt wird. Wir sollten so genau wie möglich lesen, hell­hörig sein, Sprache ernst nehmen. Denn die inter­pre­tie­rende, ja ideo­lo­gie­kri­ti­sche Funk­tion des Verste­hens ist unab­dingbar bei Äuße­rungen, die ihre subjektiv-parteiischen Haltungen und Prämissen ganz bewusst, oft mit entspre­chendem rheto­ri­schem Aufwand, verschleiern und mit vermeint­li­chen Fakten ‚tunen‘.

Die kogni­tive Lingu­istik bezeichnet dieses Phänomen der sprach­li­chen Mani­pu­la­tion als „Poli­ti­sches Framing“: Meta­phern und Anspie­lungen auf andere Kontexte – im natio­na­lis­ti­schen Diskurs beispiels­weise auf das Bild der Familie – trans­por­tieren impli­zite Bedeu­tungen, provo­zieren Emotionen und prägen Einstel­lungen. Was das genau heißt, zeigt ein aktu­elles Beispiel: Am 21. Juli war in der NZZ folgender Kommentar von Feuil­le­ton­chef René Scheu zu lesen: „Am Beispiel der Ehe für alle lässt sich die poli­ti­sche Dynamik späte­ga­li­tärer Gesell­schaften sehr schön studieren.“ Ein auf den ersten Blick harm­loser Satz, der in der Online-Fassung des Arti­kels mit einem weiteren Beitrag desselben Autors verlinkt ist, in dem – im Anschluss an die umstrit­tene Opfer­theorie des fran­zö­si­schen Kompa­ra­tisten und Kultur­anthro­po­logen René Girard – die narziss­ti­sche Wehlei­dig­keit unter „Bewohner[n] der egali­tärsten Gesell­schaften der Moderne“ beklagt wird.

Mani­pu­la­tive Kommunikation

Nun ist das Attribut „späte­ga­litär“ zunächst einmal ein simpler Neolo­gismus. Der Duden kennt das Wort nicht, die Google-Suchanfrage ergibt keinen einzigen Beleg, nicht einmal den zitierten NZZ-Artikel. Was genau ist gemeint? Inwie­fern wäre unsere Gesell­schaft als „späte­ga­litär“ zu bezeichnen?

„Spät-“: Diese Vorsilbe hat es in sich. Analog zu anderen bekannten lexi­ka­li­schen Todes­an­zeigen wie „post­mo­dern“, „post­fe­mi­nis­tisch“, „post­de­mo­kra­tisch“ oder „post­human“ wird hier die Spät­zeit eines sozialen Phäno­mens oder einer gesell­schaft­li­chen Strö­mung einge­läutet und verkündet. Das der Vorsilbe Folgende – also die Moderne, der Femi­nismus, die Demo­kratie oder der Mensch – wird für obsolet erklärt. In dem zitierten NZZ-Artikel funk­tio­niert die Abschaf­fung des Egali­tären genauso wie es der kali­for­ni­sche Linguist George Lakoff für diese Form der mani­pu­la­tiven Kommu­ni­ka­tion als grund­le­gende Stra­tegie beschreibt, nämlich ganz en passant, das heißt ohne expli­zite gedank­liche und argu­men­ta­tive Ausein­an­der­set­zung, so als sei das Ende der gesell­schaft­li­chen Egalität eine triviale Selbst­ver­ständ­lich­keit und nur noch eine Frage der Zeit.

© Gerard Julien/AFP, Quelle: stern.de

Es gibt seman­tisch harm­lose Verwen­dungen der Vorsilbe „spät-“ – etwa in Wörtern wie „Spät­nach­richten“ oder „Spät­schicht“. Doch die impli­ziten Verwen­dungen mit ihren versteckten, unter­schwel­ligen Botschaften sind mindes­tens genauso häufig. Aus der histo­ri­schen Retro­spek­tive mögen Epochen­be­zeich­nungen wie „Spät­an­tike“ oder „Spät­gotik“ als unpro­ble­ma­tisch erscheinen, heikler als solche retro­spek­tiven Epochen­be­zeich­nungen sind aller­dings prospek­tive, oft von poli­ti­schem Wunsch­denken geprägte Begriffe wie „spät­mo­dern“ oder „spät­ka­pi­ta­lis­tisch“. Denn hier klas­si­fi­ziert nicht etwa die Geschichts­wis­sen­schaft­lerin aus gebüh­render histo­ri­scher Distanz, sondern der sich als Prophet bzw. Futu­ro­loge gerie­rende Philosoph.

Welche Spreng­kraft das Präfix „spät-“ in der Tages­po­litik annehmen kann, wissen wir spätes­tens seit Guido Wester­welles verrä­te­ri­scher Attacke gegen den Sozi­al­staat, der – so der dama­lige Partei­vor­sit­zende der deut­schen FDP – Sozi­al­emp­fänger zu „spät­rö­mi­scher Deka­denz“ verführe. Ausge­rechnet Harz IV-Empfänger als Nach­fahren jener Caesaren zu apostro­phieren, die mit ihrer Verschwen­dungs­sucht für den Unter­gang des Römi­schen Reiches verant­wort­lich waren: Auf diese krea­tive Volte demago­gi­scher Verdre­hungs­kunst muss man erst einmal kommen!

Quelle: futur-drei.com

Weniger anek­do­tisch als jene neoli­be­rale Fehl­leis­tung aus dem Jahr 2010 ist der klas­si­sche geschichts­phi­lo­so­phi­sche Topos des soge­nannten „Spät­ka­pi­ta­lismus“. Die von Werner Sombart 1902 analog zu gängigen architektur- und kunst­ge­schicht­li­chen Epochen­ein­tei­lungen geprägte Glie­de­rung des Kapi­ta­lismus in drei Phasen bezeichnet – im gängigen marxis­ti­schen Verständnis – die kriti­sche Endphase des Kapi­ta­lismus, in der dieser seine selbst­zer­stö­re­ri­schen Kräfte zur vollen Entfal­tung bringe.

Was gängige Begriffe wie „spät­ka­pi­ta­lis­tisch“ oder „spät­mo­dern“ aber ganz grund­sätz­lich von einem Neolo­gismus wie „späte­ga­litär“ unter­scheidet, ist dies: Während zumin­dest hinsicht­lich der Grund­an­nahme, unsere Gesell­schaft sei momentan (noch…) kapi­ta­lis­tisch oder (noch…) modern, ein breiter Konsens besteht, lässt sich das von ihrem vorgeb­lich „egali­tären“ Charakter wohl kaum behaupten. Die Bezeich­nung „späte­ga­litär“ operiert also gleich mit zwei gedank­li­chen Unter­stel­lungen: 1. mit der Annahme, die Epoche der Egalität komme an ihr Ende, was nun aller­dings 2. voraus­setzt, dass es eine solche Egalität über­haupt je gegeben habe. Und damit kommen wir zum eigent­li­chen Kern dieser begriff­li­chen Falsch­mün­zerei. Die Vorsilbe „spät-“ fungiert hier als rheto­ri­scher Exis­tenz­be­weis: Etwas, das bald zu Ende geht, muss ja wohl einmal exis­tiert haben. Logisch! Das versteht jedes Schulkind.

Mit Neolo­gismen Fakten schaffen

Doch wir alle haben uns an solche und ähnliche Erschlei­chungen in öffent­li­chen Diskursen längst gewöhnt. Sie gehören zur poli­ti­schen Polemik wie das Feuer zur Lunte. Dass Poli­tiker versu­chen, mit Neolo­gismen Fakten zu schaffen, ist nichts Neues. Jeder Medi­en­kon­su­ment kennt das Getöse über „Gleich­ma­cherei“, „Sozi­al­neid“ und ähnliche Angriffe auf Grund­prin­zi­pien des Sozi­al­staats. Neu ist, dass ein vormals seriöses Feuil­leton sich unter dem eifrig geschwenkten Banner einer soge­nannten „libe­ralen Streit­kultur“ an solch frag­wür­digen Rhetorik-Kunststückchen inzwi­schen betei­ligt, mancher­orts sogar an vorderster Front. Da werden subjek­tive Befind­lich­keiten zu Fakten umge­münzt, Idio­syn­kra­sien zu Theo­rien, „égalité“ verkommt zu „Gleich­ma­cherei“. Denn wo in unserer Gesell­schaft wäre sie de facto denn aufzu­finden, jene von den Apos­teln der indi­vi­du­ellen Frei­heit immer wieder als deka­denter Popanz beschwo­rene „Egalität“, die angeb­lich ihrem natür­li­chen histo­ri­schen Ende entgegengeht?

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Quelle: faz.net

Die Gegen­rech­nung ist schnell gemacht, die Ergeb­nisse altbe­kannt: Sie reichen von den skan­da­lösen Einkom­mens­un­ter­schieden zwischen Ange­stellten und Mana­gern börsen­no­tierter Konzerne, Lohn- und sons­tigen Diskri­mi­nie­rungen von Frauen, Benach­tei­li­gung sozi­al­schwa­cher Fami­lien in exis­ten­zi­ellen Berei­chen wie Wohnung, Bildung und Gesund­heit, über Steu­er­flucht und Steu­er­ver­mei­dung, bis hin zu Details des Kultur­be­triebs, wenn z.B. das Lucerne-Festival seinen klas­si­schen Orches­tern normale bis üppige Gagen bezahlt, während es die Musi­ke­rInnen des ange­schlos­senen Weltmusik-Festival „In den Strassen“ für lau auftreten lässt… Man pole­mi­siert gegen Mindest­lohn, Vermö­gens­ab­gabe, Frau­en­quote und „poli­ti­sche Korrekt­heit“, weil solche (späte­ga­li­tären…) Eingriffe in vermeint­lich „freie“ Märkte deren „natür­li­ches“ Gleich­ge­wicht zerstören, während sozi­al­wis­sen­schaft­liche Studien klar belegen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich seit Beginn der neoli­be­ralen Wirt­schafts­po­litik zu Beginn der 1980er Jahre drama­tisch vergrö­ßert hat.

Kari­katur von Lothar Riemen­schneider, Quelle: themen-der-zeit.de

Der Tendenz des Neoli­be­ra­lismus, poli­ti­sche Entschei­dungen zu entde­mo­kra­ti­sieren und in die Chef­etagen der Konzerne zu verlegen, kommt dabei die tech­nisch und medial gestützte Selbst­aus­beu­tung der Lohn­ab­hän­gigen entgegen, die sich mit zum Teil unfassbar naiver Begeis­te­rung digi­talen Kontroll- und Stan­dar­di­sie­rungs­me­cha­nismen unter­werfen. Die Betreiber dieser neuen Form des digi­talen Mitmach­ka­pi­ta­lismus sträuben sich bezeich­nen­der­weise keines­wegs gegen „egali­täre“ Tendenzen, ganz im Gegen­teil: Man duzt sich und arbeitet an einer möglichst homo­genen Unter­neh­mens­kultur, in der tech­ni­sche und ästhe­ti­sche Normen entwi­ckelt werden, die geeignet erscheinen, den globalen Main­stream zu bestimmen. Mode, Sprache, Medien, Küche: Wohin man auch schaut, geht es um die möglichst globale Durch­set­zung möglichst einfa­cher Stan­dards, kurz: um Unifor­mi­sie­rung und damit um die Entwer­tung komplexer, schwer zu regu­lie­render Indi­vi­dua­lität. Ange­sichts dieser zuneh­menden Stan­dar­di­sie­rung erweist sich die Klage über die vermeint­lich egali­tären Exzesse des Sozi­al­staates nun voll­ends als ideo­lo­gi­sches Ablenkungsmanöver.

Gleich­ma­cherei und soziale Ungleichheit

Denn wer genau hinhört, erkennt das spät­ka­pi­ta­lis­ti­sche (!) Paradox einer zuneh­menden kultu­rellen und psychi­schen Entin­di­vi­dua­li­sie­rung, sprich: Gleich­ma­cherei, bei wach­sender sozialer Ungleich­heit. Geht es um eine Recht­fer­ti­gung des Sozi­al­ab­baus, wird emsig das neoli­be­rale Bild des „freien“ Selfmade-Menschen poliert. Geht es aber darum, bestimmte wirt­schaft­liche und infor­ma­ti­ons­tech­ni­sche Stan­dards durch­zu­setzen, ist von Frei­heit und Indi­vi­dua­lität, Offen­heit und Viel­deu­tig­keit plötz­lich keine Rede mehr. Moderne Konsu­menten müssen sich binären Denk- und Kommu­ni­ka­ti­ons­mo­dellen („like“ / „unlike“) anpassen, tech­ni­sche, ästhe­ti­sche, körper­liche und soziale Stan­dards akzep­tieren, auf die sie keinen Einfluss mehr haben. Alltäg­liche Abläufe, bei denen wir unsere seit den 60er und 70er Jahren erkämpfte, komplexe und varia­ti­ons­reiche Indi­vi­dua­lität zugunsten einheit­li­cher tech­ni­scher Normen aufgeben, nehmen seit Jahren zu. Statt wie noch im bürger­li­chen Libe­ra­lismus des 19. Jahr­hun­derts das einzig­ar­tige Indi­vi­duum mit seiner unhin­ter­geh­baren Einma­lig­keit zu zele­brieren und ihm dabei ein Maximum an „Selbst­ver­wirk­li­chung“ einzu­räumen, entwi­ckelt sich seit der Jahr­tau­send­wende eine mit rasanter Geschwin­dig­keit fort­schrei­tende – meist durch digi­tale Programme unter­stützte – Stan­dar­di­sie­rung unserer gesamten Lebenswirklichkeit.

Quelle: entouraaj.com

Doch eine Kritik an solchen Spiel­arten markt­kon­former „Gleich­heit“, an der wach­senden Unifor­mi­sie­rung unserer Lebens­welt durch Algo­rithmen und Robotik, ist mit dem Schlag­wort „späte­ga­litär“ frei­lich nicht gemeint. Denn es sind dieselben Kreise, die sich einer­seits gegen egali­täre Sozi­al­struk­turen wenden, ande­rer­seits aber beden­kenlos kultu­relle, wirt­schaft­liche und tech­ni­sche Stan­dards propa­gieren und durchsetzen.

Wer glaubt, eine „Dynamik späte­ga­li­tärer Gesell­schaften“ diagnos­ti­zieren zu können, arbeitet einer Aushöh­lung des utopi­schen Gehalts der Gleich­heit zu, die ja nicht nur eine im engeren Sinne poli­ti­sche, sondern auch eine persön­liche und zwischen­mensch­liche Bedeu­tung hat. Denn Gleich­heit und Gerech­tig­keit sind nicht nur, wie der klas­si­sche Utili­ta­rismus glaubte, rational durch­dachte, womög­lich vertrag­lich fest­ge­legte gesell­schaft­liche Spiel­re­geln. Sie entspre­chen darüber hinaus – wie die ameri­ka­ni­sche Philo­so­phin Martha Nuss­baum gezeigt hat – einer emotio­nalen und mora­li­schen Haltung und sind damit letzt­lich auch eine Frage der Persön­lich­keit. Wenn die ideo­lo­gi­schen Frames, die raffi­nierte Jour­na­listen der Wirk­lich­keit über­stülpen, allzu eng werden, sollte die altmo­di­sche „schöne Seele“ (psychē kalē / ψυχὴ καλή), über die sich bereits Goethe lustig machte, viel­leicht doch ab und zu protes­tie­rend ihre Stimme erheben. Funda­men­tale ethi­sche Kate­go­rien lassen sich nicht mit saloppen Bemer­kungen und noncha­lanten Verdikten wie „späte­ga­litär“ abser­vieren. Gleich­heit ist kein aus der Mode gera­tenes Design.

Eine längere Fassung des Arti­kels befindet sich auf der Home­page der Verfas­serin „Blog Lit & Co“: sabinehaupt.ch/blog-lit-co/