Im 19. Jahrhundert wussten die Zeitgenossen in mancher Hinsicht mehr über Epidemien als heute. Im Jahr 1867 tobte in Köln wieder einmal die Cholera – und bereits im darauf folgenden Jahr lag eine kartographische Analyse vor, in der alle rund fünfhundert Todesfälle auf dem Stadtplan eingezeichnet waren. Eine vergleichbare Seuchenkarte, welche die Sozialgeographie der Corona-Pandemie abbilden könnte, sucht man heute in Köln vergeblich. Zwar existieren Karten zu Inzidenzwerten in Bundesländern, Kreisen und manchen Bezirken, doch sind diese mit ihren großen Maßstäben und Durchschnittswerten kaum dazu geeignet, die Zusammenhänge zwischen sozialräumlichen Lebenslagen und der Anfälligkeit für die Seuche sichtbar zu machen.
Epidemie-Karten, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden, visualisieren gesundheitliche Ungleichheiten. Über die ungleichen Effekte der Corona-Pandemie auf Arme und Reiche wurde in Deutschland bis zuletzt jedoch nur wenig bekannt. Im November veröffentlichte das Kölner Gesundheitsamt ähnlich wie in Bremen und Dortmund zwar endlich Daten über Infektionszahlen nach Stadtbezirken, doch ergaben diese nur ein grobes Bild. Auf Anfrage teilte das Kölner Gesundheitsamt mit, dass eine detaillierte Analyse in Arbeit sei, ließ aber eine Veröffentlichung offen. Dabei wäre es ein Leichtes, eine anonymisierte Heatmap der rund fünfhundert Kölner Corona-Toten zu erstellen.
Die fehlenden Karten als Symptom

Stadtplan von Köln mit Kreuzen für die Choleratoten in den nördlichen Viertel der Stadt, 1867, publiziert 1868 (Ausschnitt); Quelle: Historische Archiv der Stadt Köln
Die fehlenden Karten sind nur ein Symptom für weitergehende Wissensdefizite. Selbst örtliche Bundestagsabgeordnete verfügen über keine Daten zu den sozioökonomischen Dimensionen des Infektionsgeschehens in ihren Wahlkreisen, wie ein Kölner Büro im November auf Anfrage mitteilte. Auch insgesamt verlief die wissenschaftliche Erforschung dieser Frage in Deutschland bislang deutlich zögerlicher als in anderen Ländern. Eine Auswertung der internationalen Literatur am Robert Koch-Institut (RKI) ergab im Sommer 2020, dass bis zu diesem Zeitpunkt in Deutschland erst eine einzige Studie zum Thema Ungleichheit und Covid-19 entstanden war. Noch dürftiger ist das Angebot der amtlichen Statistik. Die Website des Statistischen Bundesamtes zu den „Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesellschaft“ enthält keinerlei Analysen nach Einkommen oder ähnlichen Indikatoren der Ungleichheit – als ob diese in der Pandemie hierzulande überhaupt nicht existiere.
Das Fehlen von aussagekräftigen Statistiken zu den ungleichen Effekten von Corona hat sich im öffentlichen Diskurs deutlich bemerkbar gemacht. Zwar werden laufend neue Daten bekannt, da Forschungseinrichtungen wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und andere Institute entsprechende Studien initiiert haben. Zudem wurde der Mythos vom egalitären Virus schon seit Frühjahr 2020 in Berichten in Frage gestellt. Die Berichterstattung zu diesem Thema basierte jedoch weitgehend auf anekdotischer Evidenz über Ausbrüche in Schlachthöfen oder in von Migrant:innen bewohnten Hochhäusern wie jenem in Göttingen, und nicht auf flächendeckenden, repräsentativen Statistiken.
Die Evidenz der gesundheitlichen Ungleichheit
Der Vergleich zu den USA und dem Vereinigten Königreich ist frappierend: Dort wurden die disproportionalen Effekte der Pandemie auf ethnische Minderheiten und sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen längst auf breiter Basis erfasst. Das Problem der gesundheitlichen Ungleichheit war daher auch im politischen Diskurs deutlich präsenter. In den USA zeigten Studien, dass etwa doppelt so viele Schwarze wie Weiße an Covid-19 starben – ein Befund, der die Black-Lives-Matter-Proteste zusätzlich befeuerte.
Im Vereinigten Königreich verknüpften Statistiker:innen den offiziellen Index of Multiple Deprivation, eine sozialgeographische Armutsstatistik, mit Daten über Corona-Todesfälle, was schon im Frühjahr 2020 fast in Echtzeit den Beweis erbrachte: Je ärmer die Gegend, desto höher die Mortalität. Diese Statistik informierte auch den jüngsten Bericht des Experten Michael Marmot, der die Realität der health inequalities in Großbritannien dramatisch unterstrich; weitere Berichte wie der Lawrence Review der Labour Party wiesen zudem auf weitere Dimensionen der Ungleichheit hin, vor allem auf die stärkeren ökonomischen Auswirkungen der Pandemie auf ethnische Minderheiten.
Das Wissen zeigt Wirkung. Jüngst wurde daraus die Forderung abgeleitet, deprivation und ethnicity als gleichberechtigte Risiko-Faktoren neben hohem Alter anzuerkennen – und betroffene Gruppen bevorzugt zu impfen. Die von COVID-19 entblößten krassen Ungleichheiten wurden zuletzt von Keir Starmer, dem Vorsitzenden der Labour Party, in den Mittelpunkt einer neuen Vision für eine gesellschaftliche Umkehr gestellt. Solche Statements und Analysen wie den Lawrence Review sucht man auf den Websites der SPD oder der Grünen vergeblich.
Die britische Multiple Deprivation-Statistik
Die Gründe für die deutsche Ignoranz liegen auch in der Geschichte, nicht zuletzt in der historischen Entwicklung statistischer Infrastrukturen, durch die Länder wie Großbritannien einen Wissensvorsprung erhielten. Das zeigt insbesondere die Geschichte des Index of Multiple Deprivation (IMD), der es britischen Statistiker:innen erlaubte, die ungleichen Effekte des Corona-Virus in kürzester Zeit großflächig nachzuweisen. Die Anfänge des IMD reichen im Grunde bis in die 1960er Jahre zurück, als die Studien von Sozialwissenschaftlern wie Peter Townsend in Großbritannien zu einer Wiederentdeckung der Armut führten. Die Welle von Forschungen brachte das Konzept der „relativen Deprivation“ hervor, das Townsend in den 1970er Jahren mit seinen Arbeiten maßgeblich prägte – und das schließlich auch dem IMD zugrunde liegen sollte. Das Konzept begründete einen neuen, multiperspektivischen Blick auf Armut: Deprivation definierte sich demnach nicht allein durch geringes Einkommen, sondern durch eine Vielzahl von Dimensionen, die im sozialräumlichen Umfeld zusammentrafen.
Der neue sozialräumliche Blick auf Armut inspirierte in den späten 1960er und 1970er Jahren auch das so genannte urban programme. In dieser Initiative arbeiteten Londoner Ministerien, Kommunalverwaltungen, Sozialwissenschaftler und Aktivisten zusammen, um neue lokale Ansätze für die sozialen Probleme britischer Städte zu entwickeln. Der Diskurs über die inner cities war in den USA aufgekommen, wo er vor allem um die schwarzen Slums kreiste und teilweise rassistisch konnotiert war. In Großbritannien bestand ein zentrales Anliegen darin, neues Wissen über soziale Trends auf der lokalen Ebene zu erhalten, das es Planer:innen und Forscher:innen ermöglichen sollte, die „Inseln“ der Deprivation in Städten präzise lokalisieren zu können.
Das urban programme ordnete sich in einen breiteren progressiven Kontext ein: In den frühen 1970er Jahren entdeckte die Gesellschaft nach der Armut auch die ökonomische Ungleichheit wieder, also die Einkommens- und Vermögensverteilung über das gesamte Spektrum von unten bis oben. Das neue gesellschaftliche Interesse verband sich mit einem zeitgleichen Trend zu wissensbasierter Sozialpolitik, der sich nicht nur die erstarkenden zivilgesellschaftlichen Organisationen und viele Wissenschaftler:innen verpflichtet fühlten, sondern auch Teile der Staatsbürokratie und Regierung. In diesem Gesamtkontext entstand in den 1970er Jahren eine neue Statistik der geographischen Deprivation, die das ganze Land bis hinab zu den kleinsten lokalen Verwaltungseinheiten sozio-ökonomisch vermessen sollte. Nach der neoliberalen Wende von 1979 wurde die Produktion von Statistiken über ökonomische Ungleichheit wieder zurückgefahren, doch am Ende der 1990er Jahre wurden diese Vorläufer schließlich zum heutigen IMD weiterentwickelt.
Statistische Blindstellen in Deutschland
Eine vergleichbare Vorgeschichte lässt sich für die Bundesrepublik nicht erzählen. Erst im Jahr 2017 wurde hier erstmals ein Deutscher Index der Sozio-Ökonomischen Deprivation (GISD) konstruiert – federführend war nicht zufällig das Robert-Koch-Institut, das den Index für die Analyse von gesundheitlichen Ungleichheiten nutzen wollte. Der GISD ist mit einer Abdeckung von rund 5.000 Gemeindeverbänden und Bezirken genauer als die amtliche Armutsberichterstattung, aber nicht so hochauflösend wie der englische IMD mit seinen fast 33.000 „small areas“. Zudem liegt im GISD etwas weniger Gewicht auf der Einkommensungleichheit, die nur in Form regionaler Durchschnittsverdienste einbezogen wird, aber nicht anhand von präziseren Sozialdaten über relative Armut wie im IMD. Gleichwohl: Die erste RKI-Analyse des GISD anhand von über 186.000 Corona-Fällen bestätigte im Herbst 2020 den vermuteten Zusammenhang mit sozioökonomischer Deprivation. In der öffentlichen Diskussion in Deutschland fanden diese Ergebnisse freilich kaum Beachtung.
Warum es so lange keinen etablierten Index dieser Art in Deutschland gab, erklärt sich durch die ganz andere Vorgeschichte. Während man im britischen urban programme der 1970er Jahre relative Deprivation kartographierte, ging es im westdeutschen Programm der „Stadterneuerung“ vor allem um Sanierung und Wiederaufbau. Die westdeutsche Stadtsoziologie beschäftigte sich zwar auch mit internationalen Ansätzen der Stadtökologie und Sozialraumanalyse, doch Armut war dabei höchstens am Rande ein Thema, so wie in der bundesdeutschen Soziologie insgesamt. Für sie blieb Deprivation noch lange ein Fremdwort und einen deutschen Peter Townsend brachte sie nicht hervor.
Dies war symptomatisch für einen größeren geschichtlichen Kontext: Seit der frühen Nachkriegszeit wurden Fragen der Armut und ökonomischen Ungleichheit in Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik der Bundesrepublik zum Großteil ausgeblendet. Eine vergleichbare Wiederentdeckung der Armut wie in den USA oder dem Vereinigten Königreich in den 1960er Jahren fand hier nicht statt. Ebenso gingen die transnationalen Diskussionen über die Einkommens- und Vermögensungleichheit während der 1970er Jahre weitgehend an der Bundesrepublik vorbei. Stattdessen führte man 1975/76 nur eine kurze, auch wahlkampftaktisch motivierte Debatte um die „Neue Soziale Frage“, die sich um das Ausmaß der Armut drehte – eine Frage, die auf Grund ungenügender Statistiken nicht entschieden werden konnte.
Erst in den 1980er Jahren lebte die Debatte über die „Neue Armut“ in der Bundesrepublik auf, und es dauerte bis in die 2000er Jahre, bis auch die Einkommens- und Vermögensverteilung zu einem größeren gesellschaftlichen Thema wurde. Bekannte Gründe dafür lagen in dem tief verwurzelten Selbstbild der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ und dem Kontext des Kalten Krieges, der die Beschäftigung mit solchen Themen erschwerte. Wichtig war außerdem die sichtbare Wohlstandsentwicklung und das Narrativ des „Wirtschaftswunders“.
Die Illusion der egalitären Gesellschaft
Weniger geläufig ist, dass der Erfolg dieser Narrative auch durch Nicht-Wissen bedingt war. Das sozialharmonische Bild der Mittelstandsgesellschaft wurde vom Soziologen Helmut Schelsky 1953 ohne breite statistische Grundlage formuliert. Und dass die Erträge des „Wirtschaftswunders“ lange vor allem bei den Top-Verdienern ankamen, zeigten erst spätere Analysen. Gewiss war die Ungleichheit während der Nachkriegsjahrzehnte vergleichsweise moderat ausgeprägt, doch der Trend zeigte nach oben. Heute wissen wir, dass schon in den 1970er Jahren die Einkommensanteile der oberen zehn Prozent über den europäischen Durchschnitt hinauswuchsen, während die unteren 50 Prozent abfielen.
Weil die amtliche Statistik die Einkommensverteilung jahrzehntelang vernachlässigte und oft nur in groben Kategorien nach den Anteilen von Selbständigen (Arbeitgeber:innen) und Arbeitnehmer:innen darstellte, blieben viele solcher Verteilungsprozesse im Dunkeln. Dies änderte sich erst ab den 1990er Jahren, als das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung der amtlichen Statistik auf diesem Feld zunehmend den Rang ablief.
Durch diese Vorgeschichte fehlte der Gesellschaft nicht nur präziseres Wissen, sondern auch statistische Literarizität bzw. Kompetenz. Die Kategorien, in denen die Welt heute über Ungleichheit spricht, wurden den Deutschen erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten geläufiger. Noch im Jahr 1997 präsentierte eine Titelstory im SPIEGEL die jüngsten Trends zur Einkommensverteilung im traditionellen Stil nach Selbständigen und Arbeitnehmer:innen – während in vielen anderen Ländern längst die deutlich transparentere Darstellung nach Perzentilen üblich war, also nach Prozentanteilen unterer und höherer Einkommensschichten. Dass man nach den relativen Anteilen der oberen 1 Prozent im Verhältnis etwa zu den unteren 50 Prozent fragen konnte, lernte die bundesdeutsche Gesellschaft vergleichsweise spät.
Die Art, wie Statistiken produziert und kommuniziert werden, sagt viel über die jeweilige Gesellschaft aus, und wenn statistische Transparenz fehlt, können bestehende Ungleichheitsregime kaum hinterfragt werden. Letzteres gehört zu den weniger bekannten Traditionen der „sozialen Marktwirtschaft“ in Deutschland. Die Erfahrung der Corona-Krise zeigt, wie weit diese in die Gegenwart reichen.