Im Jahr 2012 wurde im britischen Commercial Court der kostspieligste Privatstreit der Geschichte ausgetragen. Die russischen Oligarchen Boris Beresovskij und Roman Abramovič hatten beide ihre Milliardenvermögen in den 1990er Jahren „verdient“, als die Grenzen zwischen Geschäftsmännern und Kriminellen noch sehr durchlässig waren. Der High Court musste Begriffe wie kryša (wörtl. ‚Dach‘, bedeutet Gewährleistung eines Schutzes gegen den Staat und Kriminelle für illegale Geschäfte) und otkat (wörtl. ‚Rückzahlung‘, bedeutet z.B. die Zurückzahlung eines bestimmten Betrags bei der durch Absprache gewonnenen Ausschreibung bzw. beim Staatsauftrag) definieren, die aus dem russischen bzw. sowjetischen kriminellen Slang stammten. Der Fall offenbarte nicht nur, wie eng Wirtschaft, Politik und Kriminalität im postsowjetischen Raum miteinander verflochten waren. Vielmehr handelte es sich um einen der seltenen, aber bedeutsamen Fälle eines osteuropäischen Beitrags zur ,westlichen‘ Rechtstradition. Etwas überspitzt formuliert ließe sich sagen, die ponjatija, das informelle ,Recht‘ der sowjetischen und postsowjetischen Kriminellen, seien Bestandteil des europäischen Rechts geworden. Dieser Fall war symptomatisch und folgenreich vor allem wegen der Richtungsumkehr: Osteuropäische Denkweisen und Praktiken wurden im ,Westen‘ von der breiten Öffentlichkeit rezipiert. Wie sich ein paar Jahre später herausstellte, war das viel mehr als ein anekdotischer Einzelfall. Die mit dem Staat und der Mafia vernetzen Neureichen aus der ehemaligen UdSSR wollten nicht nur wie andere reiche ,Nichtwesteuropäer‘ den westlichen Luxus konsumieren, sondern auch ihre ponjatija in die westliche Welt exportieren, notfalls mit Nachdruck. Wie kam es dazu?
Geschichte und kein Ende

Aleksandr Dimitrov, „Auf Arbeit“, www.lib.ru
Die kulturelle (und für einige Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR auch politische) Hegemonie lag scheinbar beim ,Westen‘. Der Glaube daran kam am prägnantesten in Francis Fukuyamas berüchtigter These über das Ende der Geschichte zum Ausdruck. Die Vorstellung von einem Siegeszug liberaler Demokratien und Marktwirtschaften rund um den Globus war aber nicht nur eine Chiffre der naiven Überheblichkeit des ,Westens‘, sondern vielmehr ein Ausdruck des mangelnden Wissens über den Ostblock. Eines Unwissens, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in ein freundliches Desinteresse am ,globalen Osten‘ überging, insbesondere, wenn es um Erfahrungen, Denkweisen, Weltanschauungen, Affekte, Wünsche, Begehren und Neurosen ging, mit einem Wort um alles, was die ,Ostmenschen‘ bewegte. Dieses Desinteresse kam nicht nur aus der intellektuellen Ecke, in der Francis Fukuyama stand.
Für bedeutende Teile der ,westlichen‘ Linken war die Sowjetunion lange Zeit eine Alternative zum kapitalistischen System. Aber vor allem war die Sowjetunion für sie eher eine Projektionsfläche eigener Vorstellungen von einer gerechteren Welt. Ein tatsächliches Interesse an den Menschen und Vorgängen in der Sowjetunion gab es kaum. Es war auch kein Zufall, dass insbesondere vor dem Erscheinen von Solschenizyns Der Archipel Gulag im ,Westen‘ (1974), aber auch danach, es vielen linken Intellektuellen sehr schwer gefallen ist, die Gräueltaten des Stalinismus anzuerkennen und ihren naiven Glauben an den ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ in der UdSSR aufzugeben. Auch heute bleibt Putins Russland für viele ein Gegenpol zum neoliberalen Welthegemon. Dabei wird oft übersehen, dass der Kapitalismus in Russland und den ehemaligen Republiken der Sowjetunion (mit Ausnahme der baltischen Staaten) eher der von Marx beschriebenen ursprünglichen Akkumulation ähnelt als einem Nachfolger des Modells der (scheinbaren) sozialen Gleichberechtigung.
Lost in Translation

Aleksandr Dimitrov, „Shiva der Korruption“, Quelle: world.lib.ru
Doch nicht nur die ,erste Welt‘ hat die ,zweite Welt‘ missverstanden. Auch umgekehrt projizierte die ,zweite Welt‘ ihre Wünsche, Sehnsüchte und Begehrlichkeiten auf die ,erste Welt‘. Auch wenn das Interesse des ,Ostens‘ für den ,Westen‘ deutlich größer war als umgekehrt, kann man kaum behaupten, dass die kurzen Einblicke in das westliche Leben, die man im Osten hatte, zu einem besseren Verständnis jenes Labens geführt hätten. Die bulgarische Literaturwissenschaftlerin Miglena Nikolchina hat dieses gegenseitige Missverständnis auf den Punkt gebracht, indem sie von „heterotopischen Homonymien“ sprach. Man hatte zwar scheinbar die gleichen Worte und Dinge, fasste sie aber unterschiedlich auf. Daher waren die Übersetzungsschwierigkeiten, nachdem der eiserne Vorhang seine in der von Winston Churchill verwendeten Metapher ,schützende‘ Funktion verlor, vorprogrammiert. Statt der einfachen Ausdehnung der westlichen Welt- und Wertvorstellungen nach Osten, wie man viel zu leichtfertig angenommen hatte, sickerte auch der ursprünglich kleine und kaum bemerkbare Strom an sowjetischen und postsowjetischen Wert- und Weltvorstellungen in den Westen.
Fünfundzwanzig Jahre nachdem die drei Welten anfingen, zu einer globalen Welt zu verschmelzen, begann man, sich über „kulturelle Konterrevolutionen“, Kleptokratien und über die Rückkehr rechtsradikalen Gedankenguts zu wundern. Doch waren diese Entwicklungen keineswegs zufällig und unvorhersehbar. Was die ,erste Welt‘ übersehen bzw. nicht ernst genug genommen hatte, waren nicht die sichtbaren Entwicklungen auf der Oberfläche, sondern die verborgenen politischen und ökonomischen Veränderungen in den tieferen Schichten der Gesellschaften. Heute können wir im Rückblick Aspekte aufspüren, die die Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks, die 1989/1991 zur ,Freiheit‘ strebten, in jene autoritäre Kleptokratien verwandelten, die ihren langen Schatten mittlerweile auf die ehemalige ,erste Welt‘ werfen.
„Schatten auf dem Weg“

Aka Mortschiladze, Quelle: wikipedia
Welche „unsichtbaren Veränderungen“ haben die Gesellschaften in der Sowjetunion geprägt? Der georgische Schriftsteller Aka Mortschiladse versucht in seinem Buch Schatten auf dem Weg. Unbekannte Geschichten aus der Sowjetzeit in Georgien (Georgisch 2014, deutsche Übersetzung: Mitteldeutscher Verlag 2018) die Entwicklung in der UdSSR nach dem Tod Stalins bis zur Perestroika überwiegend am Beispiel Georgiens zu rekonstruieren. Der Titel seines Buches, der einen sowjetgeorgischen Spielfilm aus dem Jahr 1956 zitiert, ist eine Anspielung sowohl auf die sowjetische Schattenwirtschaft als auch auf die inoffizielle Seite des Lebens in der Sowjetunion generell, die auch für die westlichen Ostexperten weitestgehend unbekannt blieb. Mortschiladse beschreibt die Genealogie einer Gesellschaft, die die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in ihrer großartigen Momentaufnahme des Zerfalls der UdSSR (Secondhand-Zeit, 2013) festgehalten hat. Für die Entwicklungen, von denen Mortschiladse in seinem Buch erzählt, war der Tod Stalins eine Zäsur. Die Entstalinisierung, auch wenn sie das Ende des Terrors bedeutete, war nicht mit der Auflösung des Unrechtsstaates verbunden und hat die Wunden des Terrors und des Krieges nicht geheilt. Sie hat die totalitäre in eine posttotalitäre Gesellschaft überführt. Das bedeutete, dass zwar in den Jahren nach dem Tod des Diktators und in den Jahren des Chruščevschen Tauwetters Freiräume entstanden, diese jedoch nicht nur von KünstlerInnen genutzt wurden. In jenen Jahren wurden auch die Grundsteine für die Architektur der späten Sowjetunion gelegt, die auf der informellen Allianz zwischen den illegalen Fabrikanten und Geschäftsmännern, genannt del’cy oder cechoviki, den Anführern der organisierten Kriminalität (genannt vory v zakone, zu deutsch: Diebe im Gesetz) und der Parteibürokratie basierte. Die Rede ist von der inoffiziellen Ordnung der Sowjetunion, der „Schattenwelt“.
Mortschiladse beschreibt Prozesse, die Kriminalität und Korruption von den Rändern der sowjetischen Gesellschaft in ihr Zentrum beförderten. Die Lebensweise des Kriminellen verwandelte sich zu einer Subkultur und wurde im populären Diskurs romantisiert (diese Tendenz hat Varlam Šalamov gesehen und in seinen Erzählungen davor gewarnt). Das kriminelle Ethos, die Spielregeln, nach denen die kriminelle Welt lebte, entwickelte sich zu einer parallelen Rechtskultur und einer informellen Gerichtsbarkeit, die oft einflussreicher – und in Augen vielen Sowjetbürger gerechter – war als die staatliche.
Auch die Korruption gehörte zu den merkwürdigen Freiräumen, die in der Tauwetterzeit in der Sowjetunion florierten. Korruption war bei aller Strenge des Regimes in der Sowjetunion auch früher nicht unbekannt, aber erst seit den 1950er Jahren durchzog sie alle gesellschaftlichen Schichten und wurde zu einer der wichtigsten Kommunikationsformen der Sowjetunion.
Pervertierte Freiheit

Schatten auf dem Weg, Mitteldeutscher Verlag 2018, aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani
Morchiladses Buch ist kein Sachbuch im herkömmlichen Sinne. Einen sachlichen und akademischen Stil wird man in diesem Buch vergeblich suchen. Der Icherzähler schildert über zweihundert Seiten hinweg seinem impliziten Gesprächspartner seine Geschichte: Er fängt an, schweift ab, erzählt Nebengeschichten und kommt immer wieder auf sein Hauptthema zurück. Kleinere faktische Ungenauigkeiten sind hier genauso einkalkuliert wie Zitate aus dem Gedächtnis, die erst in der kommentierten deutschen Übersetzung ausgewiesen wurden. Morchiladses Erklärung, wie sich die Sowjetunion von einem totalitären Staat dank einer Allianz der organisierten Kriminalität, der Schattenwirtschaft und des Staatsapparats in eine korrupte Kleptokratie verwandelte, ist eigenwillig. Trotzdem ist es ihm gelungen, ein Panorama zu entwerfen, das sich gerade aus der Vielzahl kleiner Geschichten und Anekdoten ergibt. Dabei kann Mortschiladses Werk auf Vorläufer zurückblicken, so etwa die großen kulturhistorischen Studien des georgischen Dichters und Essayisten Ioseb Grischaschwili über das Tbilissi des 18. und 19. Jahrhunderts: Sayat-Nova (1918) und Die literarische Bohème des alten Tbilissi (1927, in deutscher Übersetzung Niemals hat der Dichter eine schönere erblickt…, Nora, 2007). Auch die Tradition kulturwissenschaftlicher Städte- und Gesellschaftsportraits wie Walter Benjamins Paris, die Hauptstadt des XIX Jahrhunderts (1939) und Siegfried Krakauers Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937) führt Mortschiladze fort, wenn ihm auch deren geschichtsphilosophische Dimension fehlt.
Doch warum sieht Mortschiladse ausgerechnet in der Tauwetterzeit die Gründe für die heutigen Missstände? „Das Land hatte bereits eine unregelmäßige und ‚entstellte‘ Entwicklung genommen, wie ein Gwynplaine […], dem Comprachicos schon als Kind das Gesicht verunstaltet haben […].“ (122). Der Vergleich mit den Comprachicos (eine Wortschöpfung Victor Hugos aus seinem Roman Der Mann mit dem Lachen [1896], mit der er Menschenhändler bezeichnete, die Kinder verunstalteten, damit sie als Zwerge oder Monster aufwuchsen, um sie dann zur Schau zu stellen und mit ihnen Geld zu verdienen) suggeriert eine fehlgeleitete Entwicklung. Fragt man sich beim Lesen, was denn genau entstellt wurde, so kommt man auf die Antwort, dass sowohl die kriminelle Subkultur als auch die Korruption entstellte Kommunikationsformen waren: Die kriminelle Subkultur drückte einen Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit aus, der sich unter sowjetischen Verhältnissen in dieser pervertierten Form artikulieren konnte. Die sowjetische Form der Korruption war eine pervertierte Form des kommunikativen Handelns, in der jedoch ebenfalls ein Wunsch nach Tätigkeit durchschimmerte, die nicht durch den Staat kontrolliert war. Es ist kein Zufall, dass Mortschiladse immer wieder auf die in der UdSSR ungeheuer populären ‚westlichen‘ Filme wie Tarzan, der Affenmensch (1932) oder Die glorreichen Sieben (1960) zu sprechen kommt, welche die Wünsche des Sowjetbürgers nach anderen, nichtstaatlich determinierten Formen des sozialen und kulturellen Zusammenlebens spüren ließen. Doch die sozialen Energien, die von diesen Wünschen nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung angetrieben wurden, konnten nicht politisch artikuliert werden und kamen daher anders zum Ausdruck.
Die Folge davon war nicht so sehr die Doppelmoral und nicht einmal die moralische Relativität, sondern die Tatsache, dass die Schattenwelt (also die Welt von Kriminellen und illegalen Fabrikanten und Geschäftsmännern) ihre Moralvorstellungen durchsetzen konnte. Diese Welt hat die Fragen der Moral „genau andersherum aufgefasst, als es in der normalen Zivilgesellschaft verstanden und empfunden wird. Sie entwertete alles, veränderte die Moral und die Verhältnisse.“ (205)
Die Vorstellung einer „normalen“ Zivilgesellschaft wirft zwar Fragen auf, weil sie die ,westliche‘ Zivilgesellschaft als Normalfall betrachtet. Möchte man derartige Fallstricke vermeiden, kann man diese Nichtnormalität, diese Perversion (denken wir an die Comprachicos-Metapher) als eine fehlgeleitete Form verstehen, die sowohl rechtlich als auch außerrechtlich im Begriff des „falschen Lebens“ (Adorno) zum Ausdruck kommt. Die Beschreibung des „falschen Lebens“ in seiner sowjetischen, sowohl totalitären als auch posttotalitären Ausprägung steht noch aus. Das Buch Mortschiladses ist nur ein Anfang. Ohne diese Beschreibung werden wir jedoch nicht in der Lage sein, zu verstehen, wie diese kriminelle informelle Kultur nach und nach zum Staat selbst wurde. Typisch für diese Kultur ist moralischer Relativismus, Erhebung des Geldes zum obersten Wert, hohe Gewaltbereitschaft bei der Konfliktlösung, Verachtung der Schwachen und damit aller Minderheiten (was sich insbesondere in der stark ausgeprägten Homophobie zeigt), ein stark hierarchisches Gesellschaftsbild, in dem die herrschende Klasse von allen geschriebenen Gesetzen ausgenommen ist. Die weltweite Renaissance der Rechtspopulisten (insbesondere jenseits des Atlantiks) ganz auf die Verbreitung dieser Kultur zurückzuführen, ist sicherlich übertrieben. Aber dennoch ist sie dafür ein wichtiger Faktor, zumal die Affinitäten und Vernetzungen zwischen postsowjetischen bzw. osteuropäischen „Kleptokratien“ und rechten Bewegungen weltweit kein Geheimnis sind.