Die Geschehnisse der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof produzierten eine Flut von politischen Kontroversen und Statements in den europäischen Medien, auch auf dieser Plattform. Besonders prominent wurde ein Beitrag in der französischen Tageszeitung Le Monde von Kamel Daoud, einem in Algerien tätigen Journalisten und bekennenden Religionskritiker, mit dem Titel „Köln, Ort der Phantasmen“. Darin schilderte Kamel Daoud die Gewalt gegen Frauen in der Silvesternacht am Kölner Bahnhof als eine Folge der „sexuellen Misere in der arabisch-muslimischen Welt“ und ihres „kranken Verhältnisses zur Frau, zum Körper, und zur Lust“. Die islamische „Kultur“, und damit alles, was „dem Durchschnittsmann“ der arabischen Welt nach seiner „Entwurzelung“ durch Migration bliebe, sei der eigentliche Grund für die Gewalt gegen Frauen in Köln. „Der Flüchtling“, so Daoud, käme nämlich aus der „kulturellen Falle“, die von seiner pathologischen Beziehung zu Gott und zur Frau bestimmt sei, nicht so schnell heraus, wie es manch ein „Weltverbesserer“ gerne hätte. Die Kultur „des“ Muslims sei das Gegenteil der westlichen Moderne mit ihren freiheitlichen Werten. Diese Kultur der Migranten zu ignorieren und in ihm immer nur das Opfer zu sehen, sei in höchstem Masse unangebracht, gar tödlich, so Daoud. Stattdessen müsse der Flüchtling zu westlichen Werten wie Gleichheit und Freiheit erzogen werden, was harte Arbeit an sich und „den Anderen“ bedeute.
Freiheit gegen Determinismus – Vernunft gegen Affekt
Es dauerte nicht lange, und es meldete sich ein Kollektiv von Historiker_innen und Anthropolog_innen in Le Monde zu Wort. Am 11. Februar publizierten sie einen Gegenbeitrag zu dem von Daoud gezeichneten, sexualisierten und deterministischen Bild „der Welt Allahs“. Sie warfen ihm vor, in seinem Artikel „die abgetretensten orientalistischen Klischees zu recyclen“ und damit die islamophoben Fantasien einer immer grösser werdenden europäischen Öffentlichkeit zu bedienen. Die Argumente Daouds seien „essentialistisch“, „kulturalistisch“ und „psychologisierend“; sie widerspiegelten eine „fantasierte Geographie“ zweier irreduzibler Welten: einer „Welt der Unterwerfung und der Entfremdung“ auf der einen Seite – dem Orient –, und einer Welt der „Befreiung und des Aufgeklärtseins“ auf der anderen – dem Okzident.

Jean Lecomte du Nouÿ: Le rêve d’orient, 1874, Quelle: artrenewal.org
Solch eine unüberwindbare Andersheit zwischen „uns“ und „den Anderen“ sei seit Jahrzehnten in der Anthropologie und Geschichte als nicht haltbares Gedankengebilde erkannt worden, das in kolonialen Machtbeziehungen verhaftet sei. Heute noch solch ein Porträt vom „Kampf der Kulturen“ zu zeichnen, werde weder der „Realität multipler Formen der Ungleichheit und Gewalt gegen Frauen in Europa und Nordamerika“ gerecht, noch „den“ Muslimen – mehr als eine Milliarde Menschen in den unterschiedlichsten Ländern –, die in Daouds Statements allein auf die Beziehung des Mannes zu Gott und „der“ Frau reduziert würden. Es entstünden gefährliche „Amalgame“, wie das Bild eines „Stroms potentieller sexueller Raubtiere“ von Geflüchteten und Asylsuchenden, das als neue Gefahr für Europa dargestellt würde, in einem Klima immer restriktiverer Asylpolitik. Pegida hätte es nicht besser machen können – so das Autor_innen-Kollektiv.
Wider Kulturalismen – des Eigenen und des Fremden
Kaum waren beide Positionen publiziert, ging der Schlagabtausch zwischen Intellektuellen, Schriftsteller_innen und Politiker_innen in ganz Frankreich weiter, und er wurde auch in deutschen und Schweizer Medien ausgetragen. In den Debatten, für die stellvertretend die zwei Hauptpositionen in Le Monde gelten können, ging es selten nur um Köln. Es ging um wesentlich mehr: nämlich um die Deutungshoheit in der europäischen „Flüchtlingskrise“, um die Deutungshoheit über „westliche“ Werte, und damit auch um die Deutungshoheit über Migration und Integration. Die einen warnen vor der „Naivität“ des Westens im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden, der die Augen vor Fragen des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen und Moralitäten in kulturrelativistischer und pseudo-humanistischer Façon verschliesse, und dabei seine freiheitlichen Werte opfere. Die anderen warnen vor gefährlichen, kolonial anmutenden rhetorischen „Amalgamen“ von Islam und Barbarei, „Rasse“ und Kultur, Politik und Religion, die allen Flüchtenden und Asylsuchenden schade, unabhängig von ihren heterogenen Werten und Erfahrungen, ihrer unterschiedlichen Herkunft und Zukunft, und das in einem die Aussengrenzen zunehmend dicht machenden Europa.

Arnold Böcklin: Die Freiheit, 1891, Quelle: wikipedia.org
Tatsächlich verhindern kulturalistische Klischees und Verallgemeinerungen, wie sie in den Debatten deutlich werden, gute Analysen. Das trifft nicht nur auf diejenigen zu, die über „die Anderen“ oder „die Fremden“ sprechen, sondern auch auf diejenigen, die sich auf die eigene Gesellschaft beziehen. Deshalb ist es notwendig, solch stilisierende Argumentationsweisen genau zu analysieren, hinter denen das Bild eines erneuten ‚Kampfes der Kulturen’ steht, wie es das Autor_innenkollektiv zeichnet. Dabei aber nur gegen die Essentialisierung und Generalisierung „der Anderen“ aufzutreten, ist nicht ausreichend. Es sollte immer auch gefragt werden, warum in der europäischen Öffentlichkeit kulturalistische und reduktionistische Tendenzen so hartnäckig bestehen bleiben, und zwar sowohl im Hinblick auf die „eigenen“ Werte – wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, als auch die vermeintlich „anderen“.
Die Stilisierung von Gegensätzen zwischen „uns“ und „den Anderen“, Freiheit und Unterwerfung, Emotionalität und Rationalität hat unter anderem deshalb Konjunktur, weil europäische Gesellschaften, ihre Politik und ihre öffentlichen Debatten nach wie vor überwiegend auf moderne Kategorien zurückgreifen, die über binäre Differenzierungen funktionieren. Unsicherheiten, Unreinheiten und Widersprüche der aufklärerischen Moderne werden dabei viel zu selten thematisiert und ausgehalten, genauso wenig wie die Ambivalenzen der modernen politischen Utopien von Freiheit und Gleichheit. Sind „wir“ denn wirklich so modern, frei und gleich, wie immer wieder vorgegeben wird? Wer will Freiheit und Gleichheit, für wen – und wieviel? Aktuell stellt sich dabei aber auch die Frage: Wie können wichtige politische Ideale wie Freiheit und Gleichheit und ihre widersprüchliche Umsetzung kritisiert werden, ohne dass wir den Glauben an sie verlieren?
Wir sind nie modern gewesen – aber sind wir schon postmigrantisch?
In seinem philosophischen Essay Wir sind nie modern gewesen argumentiert Bruno Latour, dass in der westlichen Moderne Politik noch nie von Religion getrennt gewesen sei, genauso wenig wie Wir von den Anderen oder die Natur von der Kultur. Das Argument entwickelte er schon zu Beginn der 1990er Jahre. Die Moderne, so Latour, sei lediglich die hartnäckige Vorstellung, die wir Modernen uns ständig von uns selbst machten, indem wir so täten, als würden wir Politik von Religion, uns von den Anderen, Freiheit von Unterwerfung etc. trennscharf unterscheiden können. Die gelebte Realität, die Umwelt, die politischen Praktiken lehrten uns aber ständig das Gegenteil: Gewalt gegen Frauen in Europa, Rassismus in egalitären Demokratien, Abnahme von bürgerlichen Freiheiten in Europa. Unsere Welt, so Latour, sei bevölkert von Hybriden und von Vermischungen, von Unreinheiten und Übersetzungen, die aber einer ständigen Reinigung, einer kontinuierliche Läuterung unterzogen würden, um unser so geschätztes Bild der aufgeklärten, freiheitlichen Moderne aufrecht zu erhalten.

Piet Mondrian: Broadway Boogie-Woogie, 1943; Quelle: piet-Mondrian.org
In den Debatten um Migration und Flüchtlinge, um muslimische Männer und westliche Frauen, um eine neu zu erfindende deutsche Identität und den Erhalt französischer, republikanischer Werte ist das nicht anders. In Deutschland, in Frankreich und auch in der Schweiz scheint es heutzutage öffentlich kaum möglich, politische Widersprüche, Ambivalenzen, Vermischungen und Hybriditäten der Gegenwart auszuhalten, und sie explizit als solche zu thematisieren, jenseits von richtig und falsch, gut oder schlecht, Wir oder Sie.
Mit dem Konzept des „Postmigrantischen“ haben Kulturschaffende und Geistes- und Sozialwissenschaftler_innen nun einen Versuch unternommen, eine Gegenwart zu fassen, die voll ist von Vermischungen und Hybriditäten. Das Konzept des Postmigrantischen will dabei einerseits eine neue Zustandsbeschreibung europäischer Gesellschaften liefern, in der Migration schon lange der Alltag vieler Menschen ist – auch derjenigen, die gar nicht mehr migriert sind, aber dennoch weiterhin als fremd wahrgenommen werden, sei es auf Grund ihres Aussehens, ihrer Religion oder anderer zugeschriebener Merkmale. Andererseits möchte das Konzept des Postmigrantischen auch verständlich machen, inwiefern Migration nach wie vor ein gesellschaftspolitisches Problem darstellt, und für wen. Postmigrantisch bedeutet dann eine Perspektive auf Gesellschaft, in der Migration zugleich Alltag und Problem ist; und es bedeutet eine Perspektive, in der Vermischungen und Ambivalenzen explizit in den Blick genommen werden, um vermeintliche Sicherheiten über das Eigene und das Fremde zu destabilisieren.
Der Begriff postmigrantisch ist damit auch eine wissenschaftlich-politische Utopie und ein Aufruf, anders über die gesellschaftliche Gegenwart nachzudenken als im Rahmen der ständigen Dichotomisierungen zwischen Selbst und Anderem, Hier und Dort, Religion und Aufklärung, die im gelebten Alltag oft keinen Sinn ergeben. Ein Denken eben nicht in denjenigen Gegensatzpaaren, die die Debatten um die Ereignisse am Kölner Hauptbahnhof strukturiert haben. Allein, führt das Konzept wirklich über die oben aufgezeigten modernen Gegensätze hinaus? Und können insbesondere die Widersprüche der migrantischen Moderne mit ihm gefasst werden? Für wen kann das Konzept Gültigkeit erlangen? Für welche Gesellschaften, für welche Migrationen?

David Favro: Gaiji, 2013; Quelle: regularmarvels.com
Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ oder auch „Migrationskrise“, mit ihren neuen und alten Abgrenzungsmechanismen, hat gesellschaftlich und politisch viel verändert seit den 2010er Jahren, in denen das Konzept in Berlin entstand. Man muss daher fragen: Welche Migrationen sind „post“ und welche so gegenwärtig und andauernd, dass man schlichtweg von „post“ nicht reden kann? Wie unterscheiden sie sich? Gerade heute ist es wichtiger denn je, konzeptuell scharf gesellschaftliche Veränderungen in den Blick zu nehmen, und dabei mit der Spannung von akuter, politischer Ereignishaftigkeit und langsamer Entwicklung theoretisch wie praktisch umzugehen. Dafür eignet sich das Präfix „post“, so wie beim Konzept des Postmigrantischen, aber denkbar schlecht. Postmigrantisch wird als Begriff schnell problematisch und die dahinterstehenden Überlegungen missverständlich, denn er legt eine lineare, fast teleologische Zeitlichkeit unterschiedlichster Migrationsprozesse nahe, die so nie gegeben war und ist. Zudem kann er der ausgesprochenen Vielfalt, Ungleichheit und fast schon tagespolitischen Abhängigkeit von Migrations- und Fluchtwegen, -biographien und -erfahrungen schlichtweg nicht gerecht werden. Hier treffen unterschiedliche Zeitlichkeiten aufeinander, die nicht leicht zu vereinbar sind: einmal eine Zeit des Lang- oder zumindest Mittelfristigen, eine Zeit der Theoriebildung und gesellschaftlichen Transformation; dann eine Zeit schneller Reaktionen auf tagesaktuelle Probleme, bei denen – gefühlt – immer weniger Stimmen zu Wort kommen, die gesamtgesellschaftliche und langfristige Entwicklungen analytisch in den Blick nehmen.
Wie kann sich sozial- und geisteswissenschaftliche Theoriebildung und Kritik, die auf langjährige Diskussionen angewiesen ist, zu akuten politischen und medialen Ereignissen verhalten, die rasch Antworten und Positionierungen fordern, wie etwa „die Flüchtlingskrise“, die erneute Politik der Grenzschliessung und die eskalierenden öffentlichen Debatten? Als Geistes- und Sozialwissenschaftler_in sollte man sich zumindest selbst destabilisieren lassen dürfen von der historischen Offenheit von Ereignissen und Debatten der Gegenwart, ohne immer für alles eine klare Antwort, eine gerechte Lösung oder eine eindeutige Position parat haben zu müssen. Das bedeutet auch, öfter anders über die „eigenen“ Gesellschaften nachzudenken als durch die Anrufung aufklärerischer, binärer Kategorien, wie es in Debatten um Migration und Integration immer wieder geschieht. Warum nicht mehr Kulturkritik des „Eigenen“ wagen, und sich selbst auch mal destabilisieren lassen in seinem Wissen um richtig und falsch, hier und dort? Dies bedeutet, ständig weiter zu suchen nach Möglichkeiten, die Gegenwart zu verstehen, jenseits von Prä- und Post-, Selbst und Anderen. Inwiefern das Konzept des Postmigrantischen eine Möglichkeit bietet, mit der migrantischen Moderne und ihren zeitlichen, konzeptuellen und politischen Spannungen umzugehen, ist eine offene Frage. Sie braucht offene Debatten, und das besser heute als morgen.