Kulturalistische Klischees und Verallgemeinerungen von „uns“ und den „Anderen“ blockieren klares Denken und verhindern gute Analysen. Das gilt nicht nur beim Sprechen über „die Fremden“, sondern auch, wenn wir uns auf unsere eigene Gesellschaft beziehen.

  • Janina Kehr

    Janina Kehr lehrt Medizingeschichte und Medical Anthropology an der Universität Zürich. Sie forscht zu Public Health, Gesundheitsökonomie und Vorstellungen von Staatlichkeit und Moderne in Europa und ist assoziiertes Mitglied des Zentrums Geschichte des Wissens.

Die Gescheh­nisse der Silves­ter­nacht am Kölner Haupt­bahnhof produ­zierten eine Flut von poli­ti­schen Kontro­versen und State­ments in den euro­päi­schen Medien, auch auf dieser Platt­form. Beson­ders promi­nent wurde ein Beitrag in der fran­zö­si­schen Tages­zei­tung Le Monde von Kamel Daoud, einem in Alge­rien tätigen Jour­na­listen und beken­nenden Reli­gi­ons­kri­tiker, mit dem Titel „Köln, Ort der Phan­tasmen“. Darin schil­derte Kamel Daoud die Gewalt gegen Frauen in der Silves­ter­nacht am Kölner Bahnhof als eine Folge der „sexu­ellen Misere in der arabisch-muslimischen Welt“ und ihres „kranken Verhält­nisses zur Frau, zum Körper, und zur Lust“. Die isla­mi­sche „Kultur“, und damit alles, was „dem Durch­schnitts­mann“ der arabi­schen Welt nach seiner „Entwur­ze­lung“ durch Migra­tion bliebe, sei der eigent­liche Grund für die Gewalt gegen Frauen in Köln. „Der Flücht­ling“, so Daoud, käme nämlich aus der „kultu­rellen Falle“, die von seiner patho­lo­gi­schen Bezie­hung zu Gott und zur Frau bestimmt sei, nicht so schnell heraus, wie es manch ein „Welt­ver­bes­serer“ gerne hätte. Die Kultur „des“ Muslims sei das Gegen­teil der west­li­chen Moderne mit ihren frei­heit­li­chen Werten. Diese Kultur der Migranten zu igno­rieren und in ihm immer nur das Opfer zu sehen, sei in höchstem Masse unan­ge­bracht, gar tödlich, so Daoud. Statt­dessen müsse der Flücht­ling zu west­li­chen Werten wie Gleich­heit und Frei­heit erzogen werden, was harte Arbeit an sich und „den Anderen“ bedeute.

Frei­heit gegen Deter­mi­nismus – Vernunft gegen Affekt

Es dauerte nicht lange, und es meldete sich ein Kollektiv von Historiker_innen und Anthropolog_innen in Le Monde zu Wort. Am 11. Februar publi­zierten sie einen Gegen­bei­trag zu dem von Daoud gezeich­neten, sexua­li­sierten und deter­mi­nis­ti­schen Bild „der Welt Allahs“. Sie warfen ihm vor, in seinem Artikel „die abge­tre­tensten orien­ta­lis­ti­schen Klischees zu recy­clen“ und damit die isla­mo­phoben Fanta­sien einer immer grösser werdenden euro­päi­schen Öffent­lich­keit zu bedienen. Die Argu­mente Daouds seien „essen­tia­lis­tisch“, „kultu­ra­lis­tisch“ und „psycho­lo­gi­sie­rend“; sie wider­spie­gelten eine „fanta­sierte Geogra­phie“ zweier irre­du­zi­bler Welten: einer „Welt der Unter­wer­fung und der Entfrem­dung“ auf der einen Seite – dem Orient –, und einer Welt der „Befreiung und des Aufge­klärts­eins“ auf der anderen – dem Okzident.

Jean Lecomte du Nouÿ: Le rêve d’orient, 1874, Quelle: artrenewal.org

Solch eine unüber­wind­bare Anders­heit zwischen „uns“ und „den Anderen“ sei seit Jahr­zehnten in der Anthro­po­logie und Geschichte als nicht halt­bares Gedan­ken­ge­bilde erkannt worden, das in kolo­nialen Macht­be­zie­hungen verhaftet sei. Heute noch solch ein Porträt vom „Kampf der Kulturen“ zu zeichnen, werde weder der „Realität multi­pler Formen der Ungleich­heit und Gewalt gegen Frauen in Europa und Nord­ame­rika“ gerecht, noch „den“ Muslimen – mehr als eine Milli­arde Menschen in den unter­schied­lichsten Ländern –, die in Daouds State­ments allein auf die Bezie­hung des Mannes zu Gott und „der“ Frau redu­ziert würden. Es entstünden gefähr­liche „Amal­game“, wie das Bild eines „Stroms poten­ti­eller sexu­eller Raub­tiere“ von Geflüch­teten und Asyl­su­chenden, das als neue Gefahr für Europa darge­stellt würde, in einem Klima immer restrik­ti­verer Asyl­po­litik. Pegida hätte es nicht besser machen können – so das Autor_innen-Kollektiv.

Wider Kultu­ra­lismen – des Eigenen und des Fremden

Kaum waren beide Posi­tionen publi­ziert, ging der Schlag­ab­tausch zwischen Intel­lek­tu­ellen, Schriftsteller_innen und Politiker_innen in ganz Frank­reich weiter, und er wurde auch in deut­schen und Schweizer Medien ausge­tragen. In den Debatten, für die stell­ver­tre­tend die zwei Haupt­po­si­tionen in Le Monde gelten können, ging es selten nur um Köln. Es ging um wesent­lich mehr: nämlich um die Deutungs­ho­heit in der euro­päi­schen „Flücht­lings­krise“, um die Deutungs­ho­heit über „west­liche“ Werte, und damit auch um die Deutungs­ho­heit über Migra­tion und Inte­gra­tion. Die einen warnen vor der „Naivität“ des Westens im Zusam­men­hang mit Flücht­lingen und Asyl­su­chenden, der die Augen vor Fragen des Zusam­men­le­bens unter­schied­li­cher Kulturen und Mora­li­täten in kultur­re­la­ti­vis­ti­scher und pseudo-humanistischer Façon verschliesse, und dabei seine frei­heit­li­chen Werte opfere. Die anderen warnen vor gefähr­li­chen, kolo­nial anmu­tenden rheto­ri­schen „Amal­gamen“ von Islam und Barbarei, „Rasse“ und Kultur, Politik und Reli­gion, die allen Flüch­tenden und Asyl­su­chenden schade, unab­hängig von ihren hete­ro­genen Werten und Erfah­rungen, ihrer unter­schied­li­chen Herkunft und Zukunft, und das in einem die Aussen­grenzen zuneh­mend dicht machenden Europa.

Arnold Böcklin: Die Frei­heit, 1891, Quelle: wikipedia.org

Tatsäch­lich verhin­dern kultu­ra­lis­ti­sche Klischees und Verall­ge­mei­ne­rungen, wie sie in den Debatten deut­lich werden, gute Analysen. Das trifft nicht nur auf dieje­nigen zu, die über „die Anderen“ oder „die Fremden“ spre­chen, sondern auch auf dieje­nigen, die sich auf die eigene Gesell­schaft beziehen. Deshalb ist es notwendig, solch stili­sie­rende Argu­men­ta­ti­ons­weisen genau zu analy­sieren, hinter denen das Bild eines erneuten ‚Kampfes der Kulturen’ steht, wie es das Autor_innenkollektiv zeichnet. Dabei aber nur gegen die Essen­tia­li­sie­rung und Gene­ra­li­sie­rung „der Anderen“ aufzu­treten, ist nicht ausrei­chend. Es sollte immer auch gefragt werden, warum in der euro­päi­schen Öffent­lich­keit kultu­ra­lis­ti­sche und reduk­tio­nis­ti­sche Tendenzen so hart­nä­ckig bestehen bleiben, und zwar sowohl im Hinblick auf die „eigenen“ Werte – wie Frei­heit, Gleich­heit, Brüder­lich­keit –, als auch die vermeint­lich „anderen“.

Die Stili­sie­rung von Gegen­sätzen zwischen „uns“ und „den Anderen“, Frei­heit und Unter­wer­fung, Emotio­na­lität und Ratio­na­lität hat unter anderem deshalb Konjunktur, weil euro­päi­sche Gesell­schaften, ihre Politik und ihre öffent­li­chen Debatten nach wie vor über­wie­gend auf moderne Kate­go­rien zurück­greifen, die über binäre Diffe­ren­zie­rungen funk­tio­nieren. Unsi­cher­heiten, Unrein­heiten und Wider­sprüche der aufklä­re­ri­schen Moderne werden dabei viel zu selten thema­ti­siert und ausge­halten, genauso wenig wie die Ambi­va­lenzen der modernen poli­ti­schen Utopien von Frei­heit und Gleich­heit. Sind „wir“ denn wirk­lich so modern, frei und gleich, wie immer wieder vorge­geben wird? Wer will Frei­heit und Gleich­heit, für wen – und wieviel? Aktuell stellt sich dabei aber auch die Frage: Wie können wich­tige poli­ti­sche Ideale wie Frei­heit und Gleich­heit und ihre wider­sprüch­liche Umset­zung kriti­siert werden, ohne dass wir den Glauben an sie verlieren?

Wir sind nie modern gewesen – aber sind wir schon postmigrantisch?

In seinem philo­so­phi­schen Essay Wir sind nie modern gewesen argu­men­tiert Bruno Latour, dass in der west­li­chen Moderne Politik noch nie von Reli­gion getrennt gewesen sei, genauso wenig wie Wir von den Anderen oder die Natur von der Kultur. Das Argu­ment entwi­ckelte er schon zu Beginn der 1990er Jahre. Die Moderne, so Latour, sei ledig­lich die hart­nä­ckige Vorstel­lung, die wir Modernen uns ständig von uns selbst machten, indem wir so täten, als würden wir Politik von Reli­gion, uns von den Anderen, Frei­heit von Unter­wer­fung etc. trenn­scharf unter­scheiden können. Die gelebte Realität, die Umwelt, die poli­ti­schen Prak­tiken lehrten uns aber ständig das Gegen­teil: Gewalt gegen Frauen in Europa, Rassismus in egali­tären Demo­kra­tien, Abnahme von bürger­li­chen Frei­heiten in Europa. Unsere Welt, so Latour, sei bevöl­kert von Hybriden und von Vermi­schungen, von Unrein­heiten und Über­set­zungen, die aber einer stän­digen Reini­gung, einer konti­nu­ier­liche Läute­rung unter­zogen würden, um unser so geschätztes Bild der aufge­klärten, frei­heit­li­chen Moderne aufrecht zu erhalten.

Piet Mondrian: Broadway Boogie-Woogie, 1943; Quelle: piet-Mondrian.org

In den Debatten um Migra­tion und Flücht­linge, um musli­mi­sche Männer und west­liche Frauen, um eine neu zu erfin­dende deut­sche Iden­tität und den Erhalt fran­zö­si­scher, repu­bli­ka­ni­scher Werte ist das nicht anders. In Deutsch­land, in Frank­reich und auch in der Schweiz scheint es heut­zu­tage öffent­lich kaum möglich, poli­ti­sche Wider­sprüche, Ambi­va­lenzen, Vermi­schungen und Hybri­di­täten der Gegen­wart auszu­halten, und sie explizit als solche zu thema­ti­sieren, jenseits von richtig und falsch, gut oder schlecht, Wir oder Sie. 

Mit dem Konzept des „Post­mi­gran­ti­schen“ haben Kultur­schaf­fende und Geistes- und Sozialwissenschaftler_innen nun einen Versuch unter­nommen, eine Gegen­wart zu fassen, die voll ist von Vermi­schungen und Hybri­di­täten. Das Konzept des Postmi­gran­ti­schen will dabei einer­seits eine neue Zustands­be­schrei­bung euro­päi­scher Gesell­schaften liefern, in der Migra­tion schon lange der Alltag vieler Menschen ist – auch derje­nigen, die gar nicht mehr migriert sind, aber dennoch weiterhin als fremd wahr­ge­nommen werden, sei es auf Grund ihres Ausse­hens, ihrer Reli­gion oder anderer zuge­schrie­bener Merk­male. Ande­rer­seits möchte das Konzept des Post­mi­gran­ti­schen auch verständ­lich machen, inwie­fern Migra­tion nach wie vor ein gesell­schafts­po­li­ti­sches Problem darstellt, und für wen. Post­mi­gran­tisch bedeutet dann eine Perspek­tive auf Gesell­schaft, in der Migra­tion zugleich Alltag und Problem ist; und es bedeutet eine Perspek­tive, in der Vermi­schungen und Ambi­va­lenzen explizit in den Blick genommen werden, um vermeint­liche Sicher­heiten über das Eigene und das Fremde zu destabilisieren. 

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Der Begriff post­mi­gran­tisch ist damit auch eine wissenschaftlich-politische Utopie und ein Aufruf, anders über die gesell­schaft­liche Gegen­wart nach­zu­denken als im Rahmen der stän­digen Dicho­to­mi­sie­rungen zwischen Selbst und Anderem, Hier und Dort, Reli­gion und Aufklä­rung, die im gelebten Alltag oft keinen Sinn ergeben. Ein Denken eben nicht in denje­nigen Gegen­satz­paaren, die die Debatten um die Ereig­nisse am Kölner Haupt­bahnhof struk­tu­riert haben. Allein, führt das Konzept wirk­lich über die oben aufge­zeigten modernen Gegen­sätze hinaus? Und können insbe­son­dere die Wider­sprüche der migran­ti­schen Moderne mit ihm gefasst werden? Für wen kann das Konzept Gültig­keit erlangen? Für welche Gesell­schaften, für welche Migrationen?

David Favro: Gaiji, 2013; Quelle: regularmarvels.com

David Favro: Gaiji, 2013; Quelle: regularmarvels.com

Die soge­nannte „Flücht­lings­krise“ oder auch „Migra­ti­ons­krise“, mit ihren neuen und alten Abgren­zungs­me­cha­nismen, hat gesell­schaft­lich und poli­tisch viel verän­dert seit den 2010er Jahren, in denen das Konzept in Berlin entstand. Man muss daher fragen: Welche Migra­tionen sind „post“ und welche so gegen­wärtig und andau­ernd, dass man schlichtweg von „post“ nicht reden kann? Wie unter­scheiden sie sich? Gerade heute ist es wich­tiger denn je, konzep­tuell scharf gesell­schaft­liche Verän­de­rungen in den Blick zu nehmen, und dabei mit der Span­nung von akuter, poli­ti­scher Ereig­nis­haf­tig­keit und lang­samer Entwick­lung theo­re­tisch wie prak­tisch umzu­gehen. Dafür eignet sich das Präfix „post“, so wie beim Konzept des Post­mi­gran­ti­schen, aber denkbar schlecht. Post­mi­gran­tisch wird als Begriff schnell proble­ma­tisch und die dahin­ter­ste­henden Über­le­gungen miss­ver­ständ­lich, denn er legt eine lineare, fast teleo­lo­gi­sche Zeit­lich­keit unter­schied­lichster Migra­ti­ons­pro­zesse nahe, die so nie gegeben war und ist. Zudem kann er der ausge­spro­chenen Viel­falt, Ungleich­heit und fast schon tages­po­li­ti­schen Abhän­gig­keit von Migrations- und Flucht­wegen, -biogra­phien und -erfah­rungen schlichtweg nicht gerecht werden. Hier treffen unter­schied­liche Zeit­lich­keiten aufein­ander, die nicht leicht zu vereinbar sind: einmal eine Zeit des Lang- oder zumin­dest Mittel­fris­tigen, eine Zeit der Theo­rie­bil­dung und gesell­schaft­li­chen Trans­for­ma­tion; dann eine Zeit schneller Reak­tionen auf tages­ak­tu­elle Probleme, bei denen – gefühlt – immer weniger Stimmen zu Wort kommen, die gesamt­ge­sell­schaft­liche und lang­fris­tige Entwick­lungen analy­tisch in den Blick nehmen.

Wie kann sich sozial- und geis­tes­wis­sen­schaft­liche Theo­rie­bil­dung und Kritik, die auf lang­jäh­rige Diskus­sionen ange­wiesen ist, zu akuten poli­ti­schen und medialen Ereig­nissen verhalten, die rasch Antworten und Posi­tio­nie­rungen fordern, wie etwa „die Flücht­lings­krise“, die erneute Politik der Grenz­schlies­sung und die eska­lie­renden öffent­li­chen Debatten? Als Geistes- und Sozialwissenschaftler_in sollte man sich zumin­dest selbst desta­bi­li­sieren lassen dürfen von der histo­ri­schen Offen­heit von Ereig­nissen und Debatten der Gegen­wart, ohne immer für alles eine klare Antwort, eine gerechte Lösung oder eine eindeu­tige Posi­tion parat haben zu müssen. Das bedeutet auch, öfter anders über die „eigenen“ Gesell­schaften nach­zu­denken als durch die Anru­fung aufklä­re­ri­scher, binärer Kate­go­rien, wie es in Debatten um Migra­tion und Inte­gra­tion immer wieder geschieht. Warum nicht mehr Kultur­kritik des „Eigenen“ wagen, und sich selbst auch mal desta­bi­li­sieren lassen in seinem Wissen um richtig und falsch, hier und dort? Dies bedeutet, ständig weiter zu suchen nach Möglich­keiten, die Gegen­wart zu verstehen, jenseits von Prä- und Post-, Selbst und Anderen. Inwie­fern das Konzept des Post­mi­gran­ti­schen eine Möglich­keit bietet, mit der migran­ti­schen Moderne und ihren zeit­li­chen, konzep­tu­ellen und poli­ti­schen Span­nungen umzu­gehen, ist eine offene Frage. Sie braucht offene Debatten, und das besser heute als morgen.

Zitierte Lite­ratur:
Bruno Latour; Nous n’avons jamais été modernes: essai d’anthropologie symé­trique, Paris: La Décou­verte 1991.