Wie muss man die Nation denken? Gab es die „gute alte Zeit“? Sind „identity politics“ gut oder schlecht? Ist die Bürgergesellschaft ein Opfer der Geister, die sie rief? Was ist Populismus? Fragen über Fragen an den Historiker Jörg Baberowski.

  • Jörg Scheller

    Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste. Er schreibt regelmäßig Beiträge unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT, frieze magazine und ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Bereits als 14-Jähriger stand er mit einer Metalband auf der Bühne. Heute betreibt er einen Heavy Metal Lieferservice mit dem Metal-Duo Malmzeit. Nebenbei ist Scheller zertifizierter Fitnesstrainer. www.joergscheller.de

Im Sommer dieses Jahres tauschte ich mich mit Jörg Babe­rowski via E-Mail aus. Seine Thesen aus mehreren Essays für diverse Medien waren mir in höchstem Maße einseitig und unred­lich erschienen. Gerade deshalb, so meine Haltung, ist es jedoch wichtig, die direkte Konfron­ta­tion zu suchen. In unserem Mail­ver­kehr ging es unter anderem darum, dass es in Zeiten wach­sender Pola­ri­sie­rung mehr denn je wichtig ist, Konflikt­par­teien jenseits von hyste­ri­schen Talk­shows mitein­ander ins Gespräch zu bringen, statt diese immer weiter ausein­an­der­zu­rü­cken zu lassen, bis keine Kommu­ni­ka­tion, sondern nur noch Gewalt möglich ist. So, und nur so funk­tio­niert die Demo­kratie, auch wenn es kontrain­tuitiv und schmerz­haft ist. Vor diesem Hinter­grund schlug ich Babe­rowski vor, ihm meine Kritik­punkte in ausführ­li­cher Form zu schi­cken und bat ihn, darauf schrift­lich zu reagieren. Der Austausch sollte dann an geeig­neter Stelle veröf­fent­licht werden. Babe­rowski willigte ein und betonte die Sinn­haf­tig­keit eines solchen Austauschs, bei dem nicht nur zu den Bekehrten gepre­digt wird. Allein, die Monate und mehrere Dead­lines verstri­chen. Mal waren es gesund­heit­liche Gründe, mal Zeit­mangel. Babe­rowski betonte, er wolle ja eigent­lich, doch am Ende sagte er das Unter­fangen ab. Wir verein­barten, dass ich meine Kommen­tare und Fragen online publi­zieren und er sich gege­be­nen­falls dazu äußern werde.

Wir haben Jörg Babe­rowski ange­boten, seine Antworten auf dieser Platt­form zu publi­zieren; er wird dies in den kommenden Wochen tun (Red.).

I.

In einem Essay für die NZZ schreiben Sie, der Natio­nal­staat sei unab­dingbar für Schutz- und Wohl­fahrts­funk­tionen. Dies ist zunächst einmal eine bloße Behaup­tung. Ihr zugrunde liegt die Prämisse: Weil es so war, muss es so sein und so bleiben. Wieso aber sollte ein Schutz- und Wohl­fahrts­system, das Natio­nal­grenzen über­schreitet, nicht möglich sein? Stellen wir uns einen Menschen vor, der vor der „Erfin­dung der Nation“ (Bene­dict Anderson) lebte. Ähnlich wie manche Deut­sche heute sagen: „Warum soll ich für die Grie­chen zahlen!“ hätte er sagen können: „Für mich als Mann­heimer gibt es keinen Grund, mit diesen Faul­pelzen in Bremen soli­da­risch zu sein! Und warum sollte ich einen Finanz­aus­gleich für die in Erfurt zahlen? Was haben die aus Berlin in poli­ti­schen oder recht­li­chen Fragen bei uns mitzu­ent­scheiden?“ Ein Bürger des antiken Athens wiederum hätte ein weit verstreut lebendes demo­kra­ti­sches Kollektiv mit 80 Millionen Mitglie­dern, in dem sogar Frauen mitbe­stimmen dürfen – vulgo: Deutsch­land – wohl als absurd empfunden. Sprich, der Natio­nal­staat als „imagi­nierte Gemein­schaft“ (Anderson) ist bereits ein – para­doxer – Schritt in Rich­tung Globa­li­sie­rung, da er lokale, triba­lis­ti­sche Gemein­schaften tran­szen­diert und zugleich dynas­ti­sche, von Geburts­lot­te­rie­ge­winn­lern geführte Regime ablöst. Müsste man nicht an diese Dynamik anknüpfen und den Natio­nal­staat weiter, nicht enger denken?

II.

Ähnlich wie Poli­tiker der AfD blicken Sie wehmütig auf die jüngere Vergan­gen­heit Deutsch­lands zurück: „Die Herzen der Milieus und ihrer Parteien schlugen noch im glei­chen Rhythmus.“ War das wirk­lich der Fall oder ist dieses buko­li­sche Bild nicht viel­mehr eine Über­re­ak­tion auf die gegen­wär­tige turbu­lente Umbruchs- und Über­gangs­zeit? Die Nach­kriegsära war doch auch gekenn­zeichnet von massiven sozialen Umbrü­chen, von der 68er-Bewegung, von der außer­par­la­men­ta­ri­schen Oppo­si­tion, von Graben­kämpfen inner­halb der Parteien – man denke an Helmut Schmidt vs. Erhard Eppler in der SPD –, vom disrup­tiven kultu­rellen Einfluss der Verei­nigten Staaten von Amerika auf Europa, usw. Verklären Sie nicht die vermeint­lich „gute alte Zeit“, anstatt die Poten­tiale der Gegen­wart zu stärken? Man kann ja einer­seits, wie es die konser­va­tive Kultur­kritik seit jeher tut, Atomi­sie­rung durch Indi­vi­dua­li­sie­rung beklagen. Man kann aber auch, wie es etwa der Sozio­loge Chris­toph Kuck­lick tut, fest­stellen, dass mit einer höheren Anzahl von Parti­keln die Anzahl mögli­cher Verbin­dungen und Schnitt­stellen steigt. Und tatsäch­lich sind doch aller­orten neue Verbände, Gemein­schaften, Kollek­tive, Korpo­ra­tionen, Orga­ni­sa­tionen und Parteien in Entste­hung begriffen – wie in allen Über­gangs­zeiten, die nicht zuletzt von neuen Tech­no­lo­gien getrig­gert werden, wirkt dieser Prozess zwar chao­tisch und weckt Ängste, wird jedoch zu Konso­li­die­rungen und Konzen­tra­tionen fördern. Wäre es da nicht besser, aktiv neue Schnitt­stellen zu gene­rieren oder die entste­henden zu fördern anstatt nost­al­gisch die Segnungen der Vergan­gen­heit zu beschwören?

III.

Ihrer Ansicht nach ist das „Iden­ti­täts­ge­rede“ schuld am Verfall der Bürger­ge­sell­schaft. Diese Sicht erscheint mir stark verkürzt. Ich stehe Iden­tity Poli­tics eben­falls skep­tisch gegen­über, weil sie mir die Wider­sprüche, ja den Irrsinn des Iden­ti­täts­kon­zepts zu verviel­fäl­tigen, anstatt zu redu­zieren scheinen und zudem – unfrei­willig – Wasser auf die Mühlen der Neuen Rechten ist (Stich­wort: Ethno­plu­ra­lismus). Doch es können kaum Zweifel daran bestehen, dass sehr viel gewich­ti­gere Entwick­lungen die Erosion des Bürger­tums ausge­löst haben – Entwick­lungen, die para­do­xer­weise vom Bürgertum selbst ihren Ausgang nahmen, insbe­son­dere Kapi­ta­lismus, Globa­li­sie­rung, Digi­ta­li­sie­rung. Das poten­tiell unend­liche Wachstum, dem die west­li­chen Gesell­schaften anhängen, führt implizit zu deren Hybri­di­sie­rung und Diffu­sion. Ohne die Kolon­a­li­sie­rung hätte es die Globa­li­sie­rung in heutiger Form nicht gegeben und auch keine vergleich­bare Selbst­exo­ti­sie­rung des Westens. Die Digi­ta­li­sie­rung wiederum fördert die Genese der „granu­laren Gesell­schaft“ (Kuck­lick) unter markt­wirt­schaft­li­chen Vorzei­chen: je indi­vi­du­eller die Kunden, desto viel­fäl­tiger die Produkt­pa­letten und die Vermark­tungs­mög­lich­keiten. Ist die Bürger­ge­sell­schaft also nicht eher ein Opfer jener ökono­mi­schen Geister, welche sie selbst rief, als irgend­wel­cher links­pro­gres­siver Universitätsseminare?

IV.

Als Public Intellec­tual wundern Sie sich mitunter, dass Kritiker Ihre Aussagen nicht im Zusam­men­hang Ihres Gesamt­werkes sehen. Dies voraus­zu­setzen ist jedoch ein frommer Wunsch, wie ich selbst schon schmerz­lich fest­stellen musste. Wer sich in Massen­me­dien zu Wort meldet, muss damit rechnen, dass die Lese­rInnen nicht mit dem wissen­schaft­li­chen oder welt­an­schau­li­chen Kontext vertraut sind, in dem die Aussagen entstanden sind. Umso bedachter sollte sich äußern, wer Miss­ver­ständ­nisse vermeiden will. In diesem Zusam­men­hang empfinde ich Ihre Inter­ven­tionen als wider­sprüch­lich. Einer­seits formu­lieren Sie scharf, spitzen Sie zu, provo­zieren Sie, verwenden Sie Kollek­tiv­sin­gu­lare wie „die Linke“, argu­men­tieren Sie häufig weltanschaulich-selektiv, nicht wissenschaftlich-intersubjektiv. Fallen die Gegen­re­ak­tionen jedoch ähnlich zuge­spitzt und konfron­tativ aus, reagieren Sie verletzt, fühlen Sie sich miss­ver­standen. Pole­misch gefragt: Muss ein Boxer im Einste­cken nicht ebenso versiert sein wie im Austeilen?

V.

Ein Mitar­beiter der Eidgenössischen-Technischen Hoch­schule Zürich schrieb kürz­lich auf seinem Blog: „Bei Jörg Babe­rowski verschmelzen die Rollen, es verschmelzen die verschie­denen Hüte (Der Osteuropa-Professor, Der Feuilleton-Professor bzw. -Kommen­tator, der besorgte Bürger, der gepei­nigte Privat­mann) – und damit die Verletz­bar­keiten – in ein und demselben Menschen, in ein und derselben perso­nalen Iden­tität. […] Macht der Hinweis darauf, dass Babe­rowski … ein in seinem Fach aner­kannter Professor sei, Kritik an in irgend­einer seiner anderen Rollen gemachten Aussagen hinfällig?“ Was würden Sie hierauf erwidern?

VI.

Wenn ich mir die Kurz­nach­richten auf Ihrem Twitter-Kanal ansehe, erschrecke ich. Da finde ich nichts als selek­tive Wahr­neh­mung und ideo­lo­gi­sche Verzer­rung. Was links steht, unter­ziehen Sie einer harten, teils auch tref­fenden Kritik; nicht aber das, was rechts steht. Man liest viel von Ihnen zum schwarzen Block und zur Doppel­moral der Linken, aber erstaun­lich wenig etwa zur Hetze eines Donald Trump oder zu Angriffen gegen Libe­ra­lismus und Gewal­ten­tei­lung durch Natio­nal­kon­ser­va­tive in Ost(mittel)europa. Wenn Sie – pauschal – eine mangelnde Inte­gra­ti­ons­be­reit­schaft oder -fähig­keit von Flücht­lingen beklagen, so trifft die unter­stellte Ableh­nung von Demo­kratie, Rechts­staat­lich­keit, Bürger­sinn, Libe­ra­lismus, etc. ebenso für Neonazis, Reichs­bürger oder Teile der AfD zu. Dazu schweigen Sie jedoch. Stellen Sie hier nicht Ihre persön­liche Verletzt­heit – und ich kann Ihre Empö­rung über Ihre Kritiker aus der Steinzeit-Linken im Grunde gut nach­voll­ziehen – über die Dring­lich­keit, gegen Pola­ri­sie­rung, Eska­la­tion, Ideo­logie und anti­de­mo­kra­ti­schen oder -libe­ralen Haltungen im Allge­meinen vorzu­gehen? Machen Sie sich nicht der Gesin­nungs­ethik verdächtig, da Sie offenbar mit zwei­erlei Maß messen? Tun Sie nicht das, was Sie (‚der‘) Linken vorwerfen, sich nämlich zum „Gefan­genen eines Stammes“ zu machen? Was dialek­tisch gemeint sein mag, also als Gegen­ge­wicht zu einer – mutmaß­li­chen – Diskurs­he­ge­monie der Linken, entwi­ckelt eine gänz­lich undia­lek­ti­sche Eigen­dy­namik, die sich letzt­lich Ihrer Kontrolle entzieht. Bräuchten wir nicht ein öffent­li­ches Enga­ge­ment von Intel­lek­tu­ellen und Wissen­schaft­lern, das nüch­terner, diffe­ren­zierter, unpar­tei­ischer und gerade deshalb über­zeu­gender ist?

VII.

Als beson­ders befremd­lich empfinde ich es, dass einige Ihrer Diagnosen sowohl tref­fend als auch abwegig sind, was eine Kern­stra­tegie des Popu­lismus darstellt: An der Vorder­türe ratio­nale, auch für Gemä­ßigte nach­voll­zieh­bare Forde­rungen stellen, während man die Hinter­türe für Irra­tio­nales, Myst­ago­gi­sches und Demago­gi­sches öffnet. Darin exzel­liert derzeit etwa die PiS in Polen. Ein Beispiel aus Ihrem erwähnten NZZ-Essay: „Die Globa­li­sie­rung hat den Gebil­deten und Wohl­ha­benden neue Perspek­tiven eröffnet, den Armen aber wenig gegeben. Die einen können auf den Natio­nal­staat verzichten, weil sie den Folgen des Wandels auswei­chen können, die anderen indessen haben keine Wahl, weil sie am Ort bleiben und die Konse­quenzen poli­ti­scher Entschei­dungen tragen müssen.“ Natür­lich ist Ihnen als Wissen­schaftler bekannt, dass die (abso­lute) Armut und die Ungleich­heit im globalen Maßstab abnehmen (über kultu­relle Armut und Ungleich­heit ließe sich disku­tieren). Inner­halb einzelner Länder, darunter Deutsch­land, nehmen sie jedoch zu. Von einem Wissen­schaftler würde ich mir solche Diffe­ren­zie­rungen erwarten. Was Sie offenbar eigent­lich sagen wollen ist dies: „Dass die Ungleich­heit in der Welt abnimmt, das inter­es­siert mich nicht. Dass sie in Deutsch­land zunimmt, das inter­es­siert mich.“ Treiben Sie da nicht den Beel­zebub des Globa­lismus mit dem Teufel des Natio­na­lismus aus? Die Fähr­nisse der Globa­li­sie­rung sind, aus meiner Sicht, kein Grund dafür auszu­blenden, dass die Geschichte von Natio­nal­staat und Natio­na­lismus mit körper­li­cher und diskur­siver Gewalt, irra­tio­naler Über­hö­hung und genau dem „Iden­ti­täts­ge­rede“, das Sie kriti­sieren, verbunden ist. Oder anders gefragt: Warum sollte man die Fehler der Vergan­gen­heit wieder­holen, um die Probleme der Gegen­wart zu lösen?

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