Bei Toleranz gegenüber sexuellen und geschlechtlichen Differenzen wird meistens nach der Liberalität und Offenheit des gesellschaftlichen Zeitgeistes gefragt. Selten wird dabei über die materiellen und ökonomischen Bedingungen nachgedacht, die diese Differenzen ermöglichen, verschärfen oder abschwächen und Toleranz begünstigen oder behindern.

  • Volker Woltersdorff

    Volker Woltersdorff (alias Lore Logorrhöe), Jg. 1971, Dr. phil., ist ehrenamtlicher Queertheoretiker und Bio-Bauer im Berliner Speckgürtel. Forschungsschwerpunkte: Sexualität, Geschlecht und Herrschaft, Sadomasochismus, subkulturelle Ästhetik und die intersektionale Analyse von Heteronormativität und Kapitalismus.

Mit der neoli­be­ralen Trans­for­ma­tion der west­li­chen Gesell­schaften seit den 1970er Jahren hat sich eine Fort­schritts­er­zäh­lung etabliert, gemäß der die Durch­set­zung kapi­ta­lis­ti­scher Verhält­nisse notwen­di­ger­weise mit sexu­eller Viel­falt einher­geht. Die starren Raster geschlechts­spe­zi­fi­scher Arbeits- und Rollen­tei­lung wurden, so diese Erzäh­lung, nicht nur zugunsten einer Flexi­bi­li­sie­rung der Arbeits­weisen, sondern eben auch der sexu­ellen Iden­ti­täten aufge­bro­chen. Und nach dem Ende der „real exis­tie­renden“ sozia­lis­ti­schen Regime am Ende der 1980er Jahre schien dann auch für Zentral- und Osteu­ropa die Zeit gekommen, in der sich auf Markt­frei­heit sexu­elle (Wahl-)Freiheit reimte. Im Zuge dieser Libe­ra­li­sie­rung erschien vor allem Homo­se­xua­lität als weit­ge­hend von jedem Stigma befreit.

Es bedurfte aller­dings nicht erst des Massa­kers im schwulen Szene-Club Pulse in Orlando oder der Wahl Donald Trumps zum Präsi­denten der USA, um an diesem Opti­mismus zu zwei­feln. Denn Neoli­be­ra­lismus verträgt sich auch gut mit Neotra­di­tio­na­lismus. Gegen­wärtig zeichnet sich sogar die mögliche Hege­monie eines auto­ri­tären Neoli­be­ra­lismus ab, in dem sexu­elle Viel­falt, wenn über­haupt, nur in sehr engen Grenzen geduldet, nicht selten aber auch offen bekämpft wird (Ludwig/Woltersdorff 2018). In großen Teilen der Gesell­schaft zeigt sich eine neue „sexu­elle Panik“, die sexu­elle Viel­falt mit Perver­sion und Deka­denz gleich­setzt. „Sexu­elle Frei­heit gefährdet unsere Kinder“, skan­dieren besorgte Eltern mit deut­lich homo­se­xu­el­len­feind­li­chen Unter­tönen, zum Beispiel auf Demons­tra­tionen gegen die Rahmen­richt­li­nien im Bildungs­plan von Baden-Württemberg.

Demons­tra­tion in Augs­burg, 2016; Quelle: forumaugsburg.de

Kann man also zwischen einem rück­wärts­ge­wandten homof­eind­li­chen Neotra­di­tio­na­lismus und einem nach wie vor „fort­schritt­li­chen“ homo­freundlichen Neoli­be­ra­lismus unter­scheiden? Das wäre ein Miss­ver­ständnis. Ich vertrete die These, dass beide untrennbar zusam­men­ge­hören und plädiere dafür, neoli­be­rale Verhält­nisse grund­sätz­lich zu über­denken, wenn uns an der wirk­samen Eman­zi­pa­tion sexu­eller und geschlecht­li­cher Diffe­renz gelegen ist.

Der Preis der Frei­heit – und wer ihn bezahlt

Schon 1983 hatte der US-amerikanische Histo­riker und Gender­for­scher John D’Emilio fest­ge­stellt, dass der Kapi­ta­lismus ein wider­sprüch­li­ches Verhältnis zur soge­nannten „Hete­ro­nor­ma­ti­vität“ unter­halte: Der Kapi­ta­lismus braucht zu seiner Repro­duk­tion die „normale“, d.h. zwei­ge­schlecht­liche, unge­teilte und damit die „Norm“ darstel­lende Familie, die er aber zugleich durch seine gesell­schaft­liche Dynamik unter­mi­niere. Dieses Aufbre­chen und gleich­zei­tige Fest­zurren hete­ro­nor­ma­tiver Struk­turen bilden ein unauf­lös­bares Span­nungs­ver­hältnis. Die Familie und die Intim­sphäre sind zum einen mit der ihr zuge­wie­senen Aufgabe, soziale, psychi­sche und ökono­mi­sche Repro­duk­ti­ons­an­for­de­rungen und auch Notlagen abzu­fangen, über­for­dert. Die durch die Auflö­sung der hete­ro­nor­ma­tiven Zwänge den Indi­vi­duen gewährten Frei­räume sind zum anderen aber nie allen gleich zugäng­lich. In Krisen­zeiten kommen diese Frei­räume dann auf den Prüfstand.

Konkret: Sexu­elle Frei­heit hatte schon immer einen Preis. Sie galt nicht für alle und nicht für alle im selben Maß. Die dabei entste­hende Unzu­frie­den­heit begüns­tigt anti-liberale Gegen­be­we­gungen. Von den Frei­heiten, die Flexi­bi­li­sie­rung und Dere­gu­lieren in den letzten Jahr­zehnten zwei­fellos eröff­neten, profi­tierten dieje­nigen Indi­vi­duen und Gruppen am stärksten, die mit genug symbo­li­schem, kultu­rellem, sozialem und ökono­mi­schem „Kapital“ ausge­stattet sind (also z.B. der passenden Klassen- und Geschlechts­zu­ge­hö­rig­keit, dem passenden Pass und der passenden Haut­farbe). Die Enge und Vertraut­heit der tradi­tio­nellen hete­ro­nor­ma­tiven Iden­ti­täten kann aber umge­kehrt für all jene, die deren Flexi­bi­li­sie­rung als Verun­si­che­rung (und als Privi­le­gi­en­ver­lust!) erfahren, vermeint­lich Sicher­heit garan­tieren. Die Sozio­lo­ginnen Chris­tine Wimbauer, Mona Motakef und Julia Tesch­lade haben kürz­lich empi­risch nach­ge­wiesen, dass gerade dieje­nigen, die von gesell­schaft­li­cher Preka­ri­sie­rung betroffen oder bedroht sind, zur Ableh­nung von Geschlech­ter­gleich­stel­lung und zur Homo­phobie neigen (in Hark/Villa 2015).

„A group of busi­ness people cele­brate their team success“; Quelle: linkedin.com

Im Neoli­be­ra­lismus geht also Viel­falt mit Ungleich­heit und Unsi­cher­heit einher. Das heißt, Diffe­renzen etwa der sexu­ellen Ausrich­tung und Iden­tität tendieren dazu, Ungleich­be­hand­lung zu legi­ti­mieren und zu natu­ra­li­sieren – mit andern Worten, Diffe­renz zu einer Sache der „Natur“ zu machen. Exem­pla­risch zeigt sich das am soge­nannten Diver­sity Manage­ment. Dieses läuft meis­tens auf die Repro­duk­tion von „kultu­rellen“ oder „ethni­schen“ Klischees hinaus: Diffe­renzen des Geschlechts, der „Herkunft“ oder der Haut­farbe werden dann (und nur dann) gelobt und geför­dert, wenn sie sich für eine Firma z.B. hinsicht­lich ihres „fort­schritt­li­chen“ Images auszahlen. Reale Macht­kämpfe und Eman­zi­pa­ti­ons­be­stre­bungen hingegen werden dabei nicht selten unter den Tisch gewischt bzw. im Ideal eines harmo­ni­schen Mitein­an­ders gleichsam eingefroren.

Die neoli­be­rale Aner­ken­nung sexu­eller und geschlecht­li­cher Viel­falt hat also einen hohen Preis, den nicht alle zahlen können oder wollen. Sie priva­ti­siert entste­hende Risiken und Belas­tungen. Sie fördert nur dieje­nigen Formen sexu­eller und geschlecht­li­cher Plura­lität, die sich verwerten lassen, und das auch nur, solange sie sich verwerten lassen. Die tole­ranz­plu­ra­lis­ti­sche Inte­gra­tion ist, mit anderen Worten, eine hier­ar­chi­sche Inte­gra­tion: Erstens löst sie die Ungleich­heit etwa zwischen Homos und Heteros nicht auf, sondern ersetzt nur die frühere Rigi­dität durch eine flexi­blere Norma­li­sie­rung, die aber die geltenden Normen nicht außer Kraft setzt. Zwei­tens werden nicht alle Homos im glei­chen Ausmaß in den neuen gesell­schaft­li­chen Werte-Konsens inte­griert, sondern nur jene, die in ihrer Stel­lung und ihrem Verhalten – etwa einer stabile Part­ner­bin­dung – am ehesten der hete­ro­nor­ma­tiven Norm ähneln. Und schließ­lich geht diese Inte­gra­tion mit einer allge­meinen Verän­de­rung des Ehemo­dells einher, das Risiken tenden­ziell priva­ti­siert. Die neuen Frei­heiten sind dadurch prekäre Frei­heiten, mit denen auch die alten Sicher­heiten der tradi­tio­nellen Ehe prekär werden. Die Priva­ti­sie­rung des Risikos betrifft alle, darunter auch dieje­nigen, deren Risiken vormals staat­li­cher­seits über­nommen wurde, z.B. im rela­tiven Erhalt der Einkom­mens­klasse männ­li­cher Fami­li­en­er­nährer bei Erwerbs­lo­sig­keit oder im Schutz der Haus­frau­en­rolle durch die Sozi­al­ge­setz­ge­bung des Eherechts. Diese allge­meine Preka­ri­sie­rung produ­ziert Verlust­er­fah­rungen, für die Homos verant­wort­lich gemacht werden können, weil sie die Ehe „verwäs­sert“ haben.

Homo­to­le­ranz im neoli­be­ralen Projekt west­li­cher Eliten

Ellen DeGe­neres, Time, 1997; Quelle: missmalini.com

Regie­rende Politiker*innen haben die Einfüh­rung der Homo-Ehe zur Ikone einer gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Moder­ni­sie­rung erhoben. So konnte Homo­to­le­ranz als ein Projekt der west­li­chen Eliten wahr­ge­nommen werden. Vor allem schwule Männer gelten als Gewinner der neoli­be­ralen Trans­for­ma­tion. Deren erfolg­reiche Anpas­sung hat die an der New York Univer­sity (NYU) lehrende Histo­ri­kerin Lisa Duggan als „homo­nor­mativ“ kriti­siert. Aller­dings gerieten dabei jene aus dem Blick, denen die erfolg­reiche Inte­gra­tion in den Neoli­be­ra­lismus nicht gelang, weil sie sich die „homo­nor­ma­tive“ Lebens­weise nicht leisten konnten oder wollten. Denn die neuen Einschlüsse von erfolg­rei­chen Homos gingen mit Ausschlüssen von Menschen einher, die diesen neuen Erwar­tungen als markt­för­miger Flexi­bi­lität nicht entspre­chen. Doch noch mehr: In den Poli­tik­stra­te­gien des soge­nannten „Homo­na­tio­na­lismus“ oder des „sexu­ellen Exzep­tio­na­lismus“ bildete der Einschluss homo­se­xu­eller Staatsbürger_innen sogar die Grund­lage für neue rassis­ti­sche und natio­na­lis­ti­sche Ausschlüsse von „Anderen“ aus dem Raum der Gesell­schaft und des Poli­ti­schen.

Vor diesem Hinter­grund bemühen sich rechte und natio­nal­po­pu­lis­ti­sche Bewe­gungen erfolg­reich, neoli­be­rale Homo­to­le­ranz mit der poli­ti­schen und ökono­mi­schen Domi­nanz von Eliten zu asso­zi­ieren, die von diesen Bewe­gungen bekämpft werden. Diese Stra­tegie war bislang vor allem in den post­so­zia­lis­ti­schen Trans­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaften erfolg­reich. Unter Ausblen­dung lokaler Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gungen wurden dort „Brüssel“ und west­liche Wirt­schafts­mächte – oder über­haupt der „Libe­ra­lismus“ – als Akteure iden­ti­fi­ziert, die Homo­to­le­ranz propagieren.

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Diese Kritik erfolgt nicht ganz zufällig. Denn eine allein an den Markt gebun­dene, als markt­förmig gedachte Inte­gra­tion von Diffe­renz – so eben auch von Homo­se­xua­lität – gerät dann sofort an ihre Grenzen, wenn der Markt seine Verspre­chen nicht mehr einlösen kann. Zentral- und Osteu­ropa mag hier als Test­fall für West­eu­ropa und Nord­ame­rika gelten. Nach einer anfäng­li­chen Aufbruchs­stim­mung in den 1990er Jahren sind unter dem Druck einer radikal neoli­be­ralen Trans­for­ma­tion der post-sozialistsichen Gesell­schaft schon sehr viel früher als im Westen rechts­po­pu­lis­ti­sche Tendenzen erstarkt, in denen sich die Abge­hängten und Verun­si­cherten reprä­sen­tiert glauben.

Prague Pride 2011; Quelle: suitelife.com

So war noch vor zehn Jahren einer der Orga­ni­sa­toren der Warschauer „Gleich­heits­pa­rade“ Parada Równośći, Tomasz Bącz­kowski, davon über­zeugt, das Bild des reichen west­li­chen Schwulen habe genug Strahl­kraft, um die Pol*innen davon zu über­zeugen, dass Tole­ranz gegen­über sexu­eller Diffe­renz der notwen­dige Preis für die erfolg­reiche Inte­gra­tion in den west­li­chen Neoli­be­ra­lismus sei. Zehn Jahre später zeigt sich, dass über die ikoni­sche Figur des erfolg­rei­chen „libe­ralen“ Schwulen eher Abwehr­af­fekte genährt wurden.

Sexu­elle Diffe­renz ohne Sonderstatus

Man kann heute schon das Fazit ziehen, dass die neoli­be­ralen Inte­gra­ti­ons­an­ge­bote an sexu­elle Minder­heiten nicht nach­haltig waren. Sie stellen deren Sonder­status nicht ernst­haft infrage, sondern halten sie in einer prekären Zwischen­lage. Die glück­liche Verwand­lung der Homos vom deka­denten Auswuchs der Gesell­schaft zur Konsu­ma­vant­garde kann schnell wieder kippen. Schon vor über dreißig Jahren fragte deshalb D’Emilio: „Wie vermeiden wir, immer die Sünden­böcke und poli­ti­schen Opfer der sozialen Insta­bi­lität zu sein, die der Kapi­ta­lismus hervor­bringt?“ Ihm zufolge liegt die Lösung in einem breiten Bündnis für soziale Sicher­heit, ohne die sexu­elle Frei­heit nicht möglich sei. Es müssen deshalb die mate­ri­ellen Voraus­set­zungen dafür geschaffen werden, um das Recht, auch sexuell anders zu sein, wahr­zu­nehmen und notfalls einzuklagen.

Ebenso muss sexu­elle Sicher­heit nach­haltig werden, indem Preka­ri­sie­rung durch sexu­elle, aber auch ökono­mi­sche Ungleich­heit bekämpft wird. Die sexu­elle Frei­heit von wenigen muss die sexu­elle Frei­heit aller werden, um nach­haltig garan­tiert zu sein. Ansonsten werden Homo­to­le­ranz und sexu­elle Frei­heit als ein Projekt der Eliten wahr­ge­nommen, weil nur diese ange­messen davon profi­tieren können. Die schwu­len­do­mi­nierte Homo­se­xu­el­len­be­we­gung zahlt heute den Preis dafür, dass sie glaubte, ein einzelnes Unter­drü­ckungs­ver­hältnis isoliert betrachten und bekämpfen zu können, und deshalb nicht merkte, dass ihre Siege neoli­beral vergif­tete Siege waren. Es braucht auch poli­tisch das, was die akade­mi­sche Sozio­logie einen „inter­sek­tio­nalen“ Ansatz nennt, das heißt ein Denken, das unter­schied­liche Unterdrückungs- und Diffe­renz­er­fah­rungen zugleich in den Blick nehmen und zusam­men­denken kann. Wie sich ein solcher Ansatz konkret in eine poli­ti­sche Bewe­gung über­setzen lässt, ist daher die eigent­liche Heraus­for­de­rung unserer Zeit.

Eine längere Version dieses Textes ist erschienen in Detlef Grum­bach (Hg.): Demo.Für.Alle. Homo­phobie als Heraus­for­de­rung, 2017