Mit der neoliberalen Transformation der westlichen Gesellschaften seit den 1970er Jahren hat sich eine Fortschrittserzählung etabliert, gemäß der die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse notwendigerweise mit sexueller Vielfalt einhergeht. Die starren Raster geschlechtsspezifischer Arbeits- und Rollenteilung wurden, so diese Erzählung, nicht nur zugunsten einer Flexibilisierung der Arbeitsweisen, sondern eben auch der sexuellen Identitäten aufgebrochen. Und nach dem Ende der „real existierenden“ sozialistischen Regime am Ende der 1980er Jahre schien dann auch für Zentral- und Osteuropa die Zeit gekommen, in der sich auf Marktfreiheit sexuelle (Wahl-)Freiheit reimte. Im Zuge dieser Liberalisierung erschien vor allem Homosexualität als weitgehend von jedem Stigma befreit.
Es bedurfte allerdings nicht erst des Massakers im schwulen Szene-Club Pulse in Orlando oder der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, um an diesem Optimismus zu zweifeln. Denn Neoliberalismus verträgt sich auch gut mit Neotraditionalismus. Gegenwärtig zeichnet sich sogar die mögliche Hegemonie eines autoritären Neoliberalismus ab, in dem sexuelle Vielfalt, wenn überhaupt, nur in sehr engen Grenzen geduldet, nicht selten aber auch offen bekämpft wird (Ludwig/Woltersdorff 2018). In großen Teilen der Gesellschaft zeigt sich eine neue „sexuelle Panik“, die sexuelle Vielfalt mit Perversion und Dekadenz gleichsetzt. „Sexuelle Freiheit gefährdet unsere Kinder“, skandieren besorgte Eltern mit deutlich homosexuellenfeindlichen Untertönen, zum Beispiel auf Demonstrationen gegen die Rahmenrichtlinien im Bildungsplan von Baden-Württemberg.

Demonstration in Augsburg, 2016; Quelle: forumaugsburg.de
Kann man also zwischen einem rückwärtsgewandten homofeindlichen Neotraditionalismus und einem nach wie vor „fortschrittlichen“ homofreundlichen Neoliberalismus unterscheiden? Das wäre ein Missverständnis. Ich vertrete die These, dass beide untrennbar zusammengehören und plädiere dafür, neoliberale Verhältnisse grundsätzlich zu überdenken, wenn uns an der wirksamen Emanzipation sexueller und geschlechtlicher Differenz gelegen ist.
Der Preis der Freiheit – und wer ihn bezahlt
Schon 1983 hatte der US-amerikanische Historiker und Genderforscher John D’Emilio festgestellt, dass der Kapitalismus ein widersprüchliches Verhältnis zur sogenannten „Heteronormativität“ unterhalte: Der Kapitalismus braucht zu seiner Reproduktion die „normale“, d.h. zweigeschlechtliche, ungeteilte und damit die „Norm“ darstellende Familie, die er aber zugleich durch seine gesellschaftliche Dynamik unterminiere. Dieses Aufbrechen und gleichzeitige Festzurren heteronormativer Strukturen bilden ein unauflösbares Spannungsverhältnis. Die Familie und die Intimsphäre sind zum einen mit der ihr zugewiesenen Aufgabe, soziale, psychische und ökonomische Reproduktionsanforderungen und auch Notlagen abzufangen, überfordert. Die durch die Auflösung der heteronormativen Zwänge den Individuen gewährten Freiräume sind zum anderen aber nie allen gleich zugänglich. In Krisenzeiten kommen diese Freiräume dann auf den Prüfstand.
Konkret: Sexuelle Freiheit hatte schon immer einen Preis. Sie galt nicht für alle und nicht für alle im selben Maß. Die dabei entstehende Unzufriedenheit begünstigt anti-liberale Gegenbewegungen. Von den Freiheiten, die Flexibilisierung und Deregulieren in den letzten Jahrzehnten zweifellos eröffneten, profitierten diejenigen Individuen und Gruppen am stärksten, die mit genug symbolischem, kulturellem, sozialem und ökonomischem „Kapital“ ausgestattet sind (also z.B. der passenden Klassen- und Geschlechtszugehörigkeit, dem passenden Pass und der passenden Hautfarbe). Die Enge und Vertrautheit der traditionellen heteronormativen Identitäten kann aber umgekehrt für all jene, die deren Flexibilisierung als Verunsicherung (und als Privilegienverlust!) erfahren, vermeintlich Sicherheit garantieren. Die Soziologinnen Christine Wimbauer, Mona Motakef und Julia Teschlade haben kürzlich empirisch nachgewiesen, dass gerade diejenigen, die von gesellschaftlicher Prekarisierung betroffen oder bedroht sind, zur Ablehnung von Geschlechtergleichstellung und zur Homophobie neigen (in Hark/Villa 2015).

„A group of business people celebrate their team success“; Quelle: linkedin.com
Im Neoliberalismus geht also Vielfalt mit Ungleichheit und Unsicherheit einher. Das heißt, Differenzen etwa der sexuellen Ausrichtung und Identität tendieren dazu, Ungleichbehandlung zu legitimieren und zu naturalisieren – mit andern Worten, Differenz zu einer Sache der „Natur“ zu machen. Exemplarisch zeigt sich das am sogenannten Diversity Management. Dieses läuft meistens auf die Reproduktion von „kulturellen“ oder „ethnischen“ Klischees hinaus: Differenzen des Geschlechts, der „Herkunft“ oder der Hautfarbe werden dann (und nur dann) gelobt und gefördert, wenn sie sich für eine Firma z.B. hinsichtlich ihres „fortschrittlichen“ Images auszahlen. Reale Machtkämpfe und Emanzipationsbestrebungen hingegen werden dabei nicht selten unter den Tisch gewischt bzw. im Ideal eines harmonischen Miteinanders gleichsam eingefroren.
Die neoliberale Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt hat also einen hohen Preis, den nicht alle zahlen können oder wollen. Sie privatisiert entstehende Risiken und Belastungen. Sie fördert nur diejenigen Formen sexueller und geschlechtlicher Pluralität, die sich verwerten lassen, und das auch nur, solange sie sich verwerten lassen. Die toleranzpluralistische Integration ist, mit anderen Worten, eine hierarchische Integration: Erstens löst sie die Ungleichheit etwa zwischen Homos und Heteros nicht auf, sondern ersetzt nur die frühere Rigidität durch eine flexiblere Normalisierung, die aber die geltenden Normen nicht außer Kraft setzt. Zweitens werden nicht alle Homos im gleichen Ausmaß in den neuen gesellschaftlichen Werte-Konsens integriert, sondern nur jene, die in ihrer Stellung und ihrem Verhalten – etwa einer stabile Partnerbindung – am ehesten der heteronormativen Norm ähneln. Und schließlich geht diese Integration mit einer allgemeinen Veränderung des Ehemodells einher, das Risiken tendenziell privatisiert. Die neuen Freiheiten sind dadurch prekäre Freiheiten, mit denen auch die alten Sicherheiten der traditionellen Ehe prekär werden. Die Privatisierung des Risikos betrifft alle, darunter auch diejenigen, deren Risiken vormals staatlicherseits übernommen wurde, z.B. im relativen Erhalt der Einkommensklasse männlicher Familienernährer bei Erwerbslosigkeit oder im Schutz der Hausfrauenrolle durch die Sozialgesetzgebung des Eherechts. Diese allgemeine Prekarisierung produziert Verlusterfahrungen, für die Homos verantwortlich gemacht werden können, weil sie die Ehe „verwässert“ haben.
Homotoleranz im neoliberalen Projekt westlicher Eliten

Ellen DeGeneres, Time, 1997; Quelle: missmalini.com
Regierende Politiker*innen haben die Einführung der Homo-Ehe zur Ikone einer gesamtgesellschaftlichen Modernisierung erhoben. So konnte Homotoleranz als ein Projekt der westlichen Eliten wahrgenommen werden. Vor allem schwule Männer gelten als Gewinner der neoliberalen Transformation. Deren erfolgreiche Anpassung hat die an der New York University (NYU) lehrende Historikerin Lisa Duggan als „homonormativ“ kritisiert. Allerdings gerieten dabei jene aus dem Blick, denen die erfolgreiche Integration in den Neoliberalismus nicht gelang, weil sie sich die „homonormative“ Lebensweise nicht leisten konnten oder wollten. Denn die neuen Einschlüsse von erfolgreichen Homos gingen mit Ausschlüssen von Menschen einher, die diesen neuen Erwartungen als marktförmiger Flexibilität nicht entsprechen. Doch noch mehr: In den Politikstrategien des sogenannten „Homonationalismus“ oder des „sexuellen Exzeptionalismus“ bildete der Einschluss homosexueller Staatsbürger_innen sogar die Grundlage für neue rassistische und nationalistische Ausschlüsse von „Anderen“ aus dem Raum der Gesellschaft und des Politischen.
Vor diesem Hintergrund bemühen sich rechte und nationalpopulistische Bewegungen erfolgreich, neoliberale Homotoleranz mit der politischen und ökonomischen Dominanz von Eliten zu assoziieren, die von diesen Bewegungen bekämpft werden. Diese Strategie war bislang vor allem in den postsozialistischen Transformationsgesellschaften erfolgreich. Unter Ausblendung lokaler Emanzipationsbewegungen wurden dort „Brüssel“ und westliche Wirtschaftsmächte – oder überhaupt der „Liberalismus“ – als Akteure identifiziert, die Homotoleranz propagieren.
Diese Kritik erfolgt nicht ganz zufällig. Denn eine allein an den Markt gebundene, als marktförmig gedachte Integration von Differenz – so eben auch von Homosexualität – gerät dann sofort an ihre Grenzen, wenn der Markt seine Versprechen nicht mehr einlösen kann. Zentral- und Osteuropa mag hier als Testfall für Westeuropa und Nordamerika gelten. Nach einer anfänglichen Aufbruchsstimmung in den 1990er Jahren sind unter dem Druck einer radikal neoliberalen Transformation der post-sozialistsichen Gesellschaft schon sehr viel früher als im Westen rechtspopulistische Tendenzen erstarkt, in denen sich die Abgehängten und Verunsicherten repräsentiert glauben.

Prague Pride 2011; Quelle: suitelife.com
So war noch vor zehn Jahren einer der Organisatoren der Warschauer „Gleichheitsparade“ Parada Równośći, Tomasz Bączkowski, davon überzeugt, das Bild des reichen westlichen Schwulen habe genug Strahlkraft, um die Pol*innen davon zu überzeugen, dass Toleranz gegenüber sexueller Differenz der notwendige Preis für die erfolgreiche Integration in den westlichen Neoliberalismus sei. Zehn Jahre später zeigt sich, dass über die ikonische Figur des erfolgreichen „liberalen“ Schwulen eher Abwehraffekte genährt wurden.
Sexuelle Differenz ohne Sonderstatus
Man kann heute schon das Fazit ziehen, dass die neoliberalen Integrationsangebote an sexuelle Minderheiten nicht nachhaltig waren. Sie stellen deren Sonderstatus nicht ernsthaft infrage, sondern halten sie in einer prekären Zwischenlage. Die glückliche Verwandlung der Homos vom dekadenten Auswuchs der Gesellschaft zur Konsumavantgarde kann schnell wieder kippen. Schon vor über dreißig Jahren fragte deshalb D’Emilio: „Wie vermeiden wir, immer die Sündenböcke und politischen Opfer der sozialen Instabilität zu sein, die der Kapitalismus hervorbringt?“ Ihm zufolge liegt die Lösung in einem breiten Bündnis für soziale Sicherheit, ohne die sexuelle Freiheit nicht möglich sei. Es müssen deshalb die materiellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, um das Recht, auch sexuell anders zu sein, wahrzunehmen und notfalls einzuklagen.
Ebenso muss sexuelle Sicherheit nachhaltig werden, indem Prekarisierung durch sexuelle, aber auch ökonomische Ungleichheit bekämpft wird. Die sexuelle Freiheit von wenigen muss die sexuelle Freiheit aller werden, um nachhaltig garantiert zu sein. Ansonsten werden Homotoleranz und sexuelle Freiheit als ein Projekt der Eliten wahrgenommen, weil nur diese angemessen davon profitieren können. Die schwulendominierte Homosexuellenbewegung zahlt heute den Preis dafür, dass sie glaubte, ein einzelnes Unterdrückungsverhältnis isoliert betrachten und bekämpfen zu können, und deshalb nicht merkte, dass ihre Siege neoliberal vergiftete Siege waren. Es braucht auch politisch das, was die akademische Soziologie einen „intersektionalen“ Ansatz nennt, das heißt ein Denken, das unterschiedliche Unterdrückungs- und Differenzerfahrungen zugleich in den Blick nehmen und zusammendenken kann. Wie sich ein solcher Ansatz konkret in eine politische Bewegung übersetzen lässt, ist daher die eigentliche Herausforderung unserer Zeit.