Der „Sex“ ist wieder zum Einsatz in der politischen Auseinandersetzung geworden. An der Sexfront stehen sich Diversity- und traditionelle (Hetero-)Sex-Kultur gegenüber und ringen um die hegemoniale (d.h. vor allem männliche) Sexualität.

  • Franz X. Eder

    Franz X. Eder lehrt Wirtschafts-, Sozial- und Kultur­geschichte an der Uni­versi­tät Wien und arbeitet zur Ge­schichte der Sexua­lität und des Konsu­mierens sowie zur Diskurs­forschung.

Die Front­li­nien dieses Konfliktes lassen sich rasch abste­cken: Für die Diversity-Kultur hat sich der „Sex“ in den letzten Jahr­zehnten in den Plural aufge­löst. Selbst den „Sexua­li­täten“ oder „Neose­xua­li­täten“ wird noch ein Beigeschmack gouver­ne­men­taler Identitäts- und Subjek­ti­vie­rungs­po­litik attes­tiert, welche das neoli­be­rale Selbst zurück­führen möchte in eine essen­tiell abgrenz­bare Sexua­lität, die man/frau eben „hat“. Das kämp­fe­ri­sche Queer-Motto hingegen lautet: Lebe die Offen­heit des perfor­ma­tiven Flows und setze dich einer womög­lich expe­ri­men­tellen Sexu­al­praxis aus – und miss­traue jeder Art sexu­eller Kate­go­ri­sie­rung und Zuschrei­bung! Ob man/frau sich dabei als Mann, Frau, Trans, Inter oder sonst wie in der bunten „Geschlechter“-Welt verortet, gilt als im Fluss und zu vernach­läs­si­gendes Problem. Poli­tisch sichtbar und wirksam wurde Diver­sity in all jenen west­li­chen Ländern, in denen sich in den letzten Jahr­zehnten eine (zumin­dest teil­weise) erfolg­reiche Frauen- und Homo­se­xu­el­len­be­we­gung etablieren konnte.

Auf der anderen Seite bringt sich die (Hetero-)Sex-Kultur immer offen­siver in Stel­lung und verwendet das „Hetero“-Bekenntnis nicht selten als poli­ti­schen Akt. Dies obwohl, oder besser, weil der primär von Männern propa­gierte, tradi­tio­nell patriarchal-phallische (Hetero-)Sex als poli­tisch inkor­rekt gilt. Seine popu­lis­ti­sche Message lautet: Was Femi­nis­tinnen, Homos und Transen an Frei­heiten und Gleich­stel­lungen einfor­dern, geht am Alltag, den Einstel­lungen und Erfah­rungen der Mehr­heit der ‚normalen‘ Männer und Frauen vorbei. Diese sind ‚einfach‘ hete­ro­se­xuell orien­tiert, spüren in sich, dass ihr „Sexu­al­trieb“ auf das andere Geschlecht gerichtet ist und sehen in homo-, bi- oder trans­se­xu­ellen Äuße­rungen maximal ein Minder­hei­ten­pro­gramm, das man in Nischen tole­rieren, besten­falls akzep­tieren kann. Nicht selten tritt der wieder­erstarkte Hetero dabei auch für ein iden­ti­täres Wir-Projekt ein, in dem das Andere für die Abgren­zung, Stär­kung und Legi­ti­ma­tion des Eigenen verwendet wird.

Queere Bedro­hungen

Was irri­tiert den Hetero eigent­lich so an der sexu­ellen Diver­sität? Ein Blick in die Gegen­warts­ge­schichte der pluralen Lust und der verwa­schenen Geschlech­ter­grenzen ist aufschluss­reich: Sieht man von einigen früheren eman­zi­pa­to­ri­schen Geplän­keln ab, kam die „Hete­ro­se­xua­lität“ erst­mals mit bzw. nach der soge­nannten „Sexu­ellen Revo­lu­tion“ der späten 1960er und 1970 Jahre unter Beschuss. Als Reak­tion auf die „Sexwelle“, welche Männer als „freie“ bzw. „befreite“ sexu­elle Subjekte vor sich hertrug und Frauen als deren „Sexob­jekt“ entwarf, forderten Femi­nis­tinnen eine nicht-patriarchale, sondern egali­täre und geschlech­ter­sen­sible Sexua­lität. Die zweite Verun­si­che­rung des (Hetero-)Sex resul­tierte aus der Homo­se­xu­el­len­be­we­gung, welche eine selbst­be­wusste schwule und lesbi­sche Iden­tität propa­gierte. Wer sich in den 1970er und 1980er Jahren als „homo­se­xuell“ outete, unter­stellte sich aller­dings weiter der Hete­ro­nor­ma­ti­vität, welche die Hete­ro­se­xua­lität als Norm und die Homo­se­xua­lität als Abwei­chung davon defi­nierte. Wobei die Diffe­renz­bil­dung auch in die Gegen­rich­tung funk­tio­nierte: Indem man/frau sich als nicht-homosexuell dekla­rierte, fiel man/frau dem Hete­rosex zu.

Queer Acti­vist Jack Fertig, aka Sister Boom Boom, 1984; Quelle: sfweekly.com

In den späten 1980er und den 1990er Jahren regte sich Wider­stand gegen eine solche Essen­tia­li­sie­rung von Hetero- und Homo­se­xua­lität – und „Queer“ trat auf die Bühne. Unter Negie­rung jegli­cher Kate­go­ri­sie­rungen und Iden­ti­täts­for­de­rungen sollte das Sexu­elle nun als provi­so­risch und kontin­gent gelten und mittels perfor­ma­tiver Akte einem perma­nenten Wandel unter­liegen. Zwischen biolo­gi­schem Geschlecht, sozialen Geschlech­ter­rollen und sexu­ellem Begehren dürfte es keine stabilen Verbin­dungs­achsen mehr geben. Damit kamen die bislang devi­anten Ränder der Normal­se­xua­lität in den Fokus: LGBTQI (ein Akronym für Lesbian, Gay, Bise­xual, Trans­gender, Trans­se­xual, Queer, Intersex) steht seitdem für alle mögli­chen Formen der sexu­ellen und geschlecht­li­chen Grenz­über­schrei­tung und Grenzverwischung.

Queer erschüt­terte nicht nur die Mauern der Hetero-/Homosexualität, sondern brachte auch die Mann-Frau-Dichotomie durch­ein­ander. Die Wahl­mög­lich­keiten des sich selbst erfin­denden Subjekts sollten selbst vor dem Geschlecht nicht halt­ma­chen. Diese radi­kale Perfor­ma­ti­vität wurde aller­dings von Anfang an auch kriti­siert. Wie die Praxis zeigte, können Geschlechter- und Geschlechts­ka­te­go­rien wie auch die sexu­elle Orien­tie­rung nicht per Willens­ent­schei­dung im Hier und Jetzt geän­dert werden, sondern unter­liegen einem lang­fris­tigen Habitualisierungs- und Verkör­per­li­chungs­pro­zess und besitzen eine zähe oder sogar resis­tente biolo­gi­sche Basis. So blieb unklar, wie weit die Dena­tu­ra­li­sie­rung bzw. Kultu­ra­li­sie­rung von Geschlecht/ern und Sexualität/en gehen und das scheinbar ufer­lose Fließen der sexu­ellen Signi­fi­kanten zumin­dest in tempo­räre Selbstwahrnehmungs- und Subjek­ti­vie­rungs­formen über­führt werden kann.

Conchita Wurst an den Golden Globe Awards, 2015; Quelle: trendencias.com

All dies hätte den einge­fleischten Hetero wohl kaum sonder­lich tangiert, wenn sich die Vertre­te­rInnen von Femi­nismus, Homo und Queer nicht in den letzten Jahr­zehnten durch die Insti­tu­tionen gear­beitet und poli­ti­sche, soziale und mediale Posi­tionen und Räume besetzt hätten. Sexu­elle und Gender-Diversität gehört heute mehr oder weniger zum Main­strea­ming der mode­raten linken wie rechten Parteien. Zahl­reich sind auch die gesell­schaft­li­chen Felder, in denen ihr Einsatz Wirkung zeigte – wie einge­tra­gene Part­ner­schaften, Ehen und Adop­ti­ons­recht für Homo­se­xu­elle, gender­sen­sible Sprach­re­ge­lungen, geschlechts­ver­än­dernde Opera­tionen, Regenbogen-Großevents, Gleich­be­hand­lungs­kom­mis­sionen, Diversity-Beauftragte usw. Nicht zu vernach­läs­sigen ist, dass sich hier auch ein Markt­seg­ment für neue Kunden eröff­nete und sich Insti­tu­tionen und Firmen mit dem Bekenntnis zu „Diver­sity & Tole­rance“ medi­en­wirksam insze­nieren können.

Dass Queer in der Mitte der Gesell­schaft ange­kommen ist, zeigt sich am augen­schein­lichsten in den Medien. Ein beson­ders signi­fi­kantes Beispiel dafür ist die Travestie-Figur Conchita Wurst, Gewinner/in des Euro­vi­sion Song Contests 2014, der/die durch bzw. trotz der ‚künst­li­chen’ Verwi­schung der Geschlech­ter­grenzen (eine weib­liche Figur, die Voll­bart trägt) bei gleich­zei­tiger Verwir­rung über ihre/seine sexu­elle Orien­tie­rung und/oder womög­liche A-Sexualität den pop-musikalischen Olymp erklimmen konnte.

Bastionen des (Hetero-)Sex

Jenseits der queeren Irri­ta­tionen und Bedro­hungen stellt sich die Frage, was denn der (Hetero-)Sex selbst an Eigen­schaften ins Spiel zu bringen hat. Auf welche Formen des sexu­ellen Begeh­rens, Fühlens und Handelns, auf welche damit einher­ge­henden Geschlech­ter­cha­rak­tere kann der/die ‚rich­tige’ und ‚normale’ Hete­ro­se­xu­elle heute über­haupt zurück­greifen bzw. auf welche Rollen­an­ge­bote kann er/sie sich stützen? Auch hier bieten sich kultu­relle Vorbilder und genea­lo­gi­sche Tradi­ti­ons­li­nien an.

Marilyn Monroe als Cover-Girl, 1950: Quelle: madmenart.com

Wer den (Hetero-)Sex histo­risch zurück­ver­folgen möchte, sollte zumin­dest in die zweite Hälfte des 20. Jahr­hun­derts blicken, denn da setzte im deutsch­spra­chigen Raum die Geschichte des „Sex“-Begriffes und seiner Konno­ta­tionen und Asso­zia­tionen ein. Als früher Vorläufer ließe sich in den 1930er Jahren noch der „Sex-Appeal“ fest­ma­chen, wie damals „das eine norma­li­sie­rende ameri­ka­ni­sche Schlag­wort für moderne Frauen“ hieß (so ein zeit­ge­nös­si­scher öster­rei­chi­scher Reporter). Die Hausse des „Sex“ begann aller­dings erst mit der Anru­fung des norma­li­sierten weib­li­chen „Sex-Objekts“ nach 1945, welches in Form von „Sexbomben“ und „sexy Girls“ aus den USA impor­tiert wurde. Mit Verweis auf die Kinsey-Reports konnte man in den frühen 1950er Jahren den „Sex“ dann schon ausführ­lich in den deutsch­spra­chigen Illus­trierten und Maga­zinen proble­ma­ti­sieren und dabei den weib­li­chen Körper „sexy“, heißt spär­lich bekleidet, abbilden. Der propa­gierte Normalsex stand für den west­li­chen Lebens­stil und winkte als Lust-Bonus in der sich etablie­renden fordis­ti­schen (Massen-)Konsumgesellschaft. In dieser hieß es nicht nur fleißig zu arbeiten, um konsu­mieren zu können – und umge­kehrt zu konsu­mieren, damit die Wirt­schaft produ­zierte und man selbst Arbeit hatte –, sondern in der Folge auch die Verhei­ßungen des „Sex“ (und seiner viel­fäl­tigen Konsum­güter) zu reali­sieren. 1960 war die „Sexwelle“ so weit ange­schwollen, dass der Begriff in das Duden-Wörterbuch aufge­nommen wurde und fortan zum Bestand­teil des „lebenden Fremd­wort­gutes unserer Gegen­warts­sprache“ gehörte.

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Aufklä­rungs­buch, 1970

Ende der 1960er und in den 1970er Jahren zeigte sich in nuce, worum es beim „Sex“(-Begriff) eigent­lich ging: Er meinte eine hete­ro­se­xu­elle, norma­li­sierte und an „Sextech­niken“ ausge­rich­tete Sexu­al­form, die Männer als Subjekte und Akteure sowie Frauen als deren „Sexob­jekte“ verstand und sich bestens (etwa in Sexfilmen und Ratge­ber­li­te­ratur) kommer­zia­li­sieren und zur Ware machen ließ. Deshalb wiesen schon damals kriti­sche Autoren wie Herbert Marcuse und Reimut Reiche darauf hin, dass sich hinter dem Impe­rativ der „sexu­ellen Befreiung“ eine „repres­sive Entsub­li­mie­rung“ verbarg, die zur Aufrecht­erhal­tung des Patri­ar­chats und der kapi­ta­lis­ti­schen Markt­wirt­schaft beitrug. In diese Rich­tung zielte 1970 auch Günter Amendts Best­seller „Sexfron/t“, in dem der (Hetero-)Sex als Motor der Leistungs- und Konsum­ge­sell­schaft dekon­stru­iert wurde. Michel Foucault meinte ange­sichts dieser hinter­häl­tigen Macht­wir­kungen im Jahr 1977, dass man eigent­lich „Nein zum König Sex“ sagen sollte.

Kultu­rell geriet diese Art des (Hetero-)Sex spätes­tens in den 1990er Jahren in die Defen­sive. Wie gezeigt, verdrängten ihn Femi­nismus, Homo­se­xu­el­len­be­we­gung und Queer von der poli­ti­schen und medialen Agenda. Doch das hieß nicht, dass ihn ein Gutteil der Bevöl­ke­rung nicht weiter als den ihren ansah und auch lebte. Tatsache ist, dass die Diversity- und Eman­zi­pa­ti­ons­kultur primär ein groß­städ­ti­sches und mediales Phänomen blieb und sich am Land, in klein­städ­ti­schen Milieus und in den Unter­schichten kaum Möglich­keiten ergaben, mit der gelebten Praxis der Anderen – etwa dem ‚schwulen Pärchen im Freun­des­kreis’ – in Kontakt zu kommen. Die medial trans­por­tierte ver-queere Welt machte diesen sozialen Gruppen jeden­falls deut­lich, was ein ‚rich­tiger’ Mann und eine eben­solche Frau nicht waren. Die eigene sexu­elle Heimat fanden sie dort, wo eine stabile Hetero-Ordnung exis­tierte und man/frau sich ‚vor Ort’ in die sexu­ellen Geschlechter- und Macht­spiele einglie­dern konnte.  Glaubt man psychologischen/psychoanalytischen Erklä­rungen, irri­tiert heute den/die Hetero an der sexu­ellen Diver­sität vor allem, dass sein/ihr ‚einfa­ches’ Begehren auf diesem Wege mit den nicht-‚normalen’ sexu­ellen Fanta­sien, Ängsten und Unsi­cher­heiten konfron­tiert wird, die in ihnen schlum­mern – aber auch mit der repe­ti­tiven Gleich­för­mig­keit des eigenen (hetero-)sexuellen Handelns.

Distinkte und irri­tie­rende Gefühle wie diese wurden in den letzten Jahren vom Popu­lismus abge­schöpft und zur Propa­gie­rung des ‚Rich­tigen’, ‚Normalen’ und ‚Eigenen‘ einge­setzt. Heute lassen sich beispiels­weise in der popu­lären Volks­musik „flotte Buam“ und „fesche Madln“ kaum mehr herstellen, ohne dass im Hinter­grund die Queer-Kultur oder der Femi­nismus – oftmals als Kari­katur – mitschwingt oder sogar für einen offenen Seiten­hieb vor den Vorhang gezerrt wird. So beispiels­weise 2015 durch den „Volks-Rock’n’Roller“ Andreas Gaba­lier, der auf seinem Album „Moun­tain Man“ sich und der Figur des „Groß­va­ters“ folgende Reime in den Mund legte:

Andreas Gaba­lier und Sarah Connor, 2014; Quelle: gala.de

„Jetzt hätt i’s fast vergessen, da gibt’s ja no so Frauen, / die auf alles andre als auf Weib­lich­keit baun. / Es schmei­chelt uns sehr, doch es macht uns net an. / Warum muss denn a Dirndl heit sei wie a Mann?

Völlig verbissen schon fast verkrampft eman­zi­piert, / so dass man die ganze Freud am Knus­pern verliert. / Aber jeder von uns steht halt net auf an Mann, / wir beißen vü liaba an an echten Dirndl an.“

Über solche ‚beißenden’ Männer lässt sich leicht lachen, aber sie machen die Majo­rität des (Hetero-)Sex aus. Und wer ausge­lacht wird, schließt sich zusammen und sinnt auf Revanche!

Dies ist auch der Grund, warum sich die Front zwischen den ‚echten Buam’ (und ihren ‚rich­tigen Dirndln’) und den Vertre­te­rInnen des Femi­nismus, der Homo­se­xu­el­len­be­we­gung und des Queer immer mehr zu einem Kultur­kampf auswächst. An der Sexfront werden dabei höchst aktu­elle poli­ti­sche Konflikte ausge­tragen – insbe­son­dere solche zwischen einer pluralen, libe­ralen und tole­ranten Gesell­schaft auf der einen Seite und der patri­ar­chalen, iden­ti­tären und auto­ri­tären Ordnung auf der anderen.