Wenn die anspruchsvollen Fernsehserien unserer Zeit, wie oft gesagt worden ist, Wiedergänger der großen Romane des 19. Jahrhunderts sind, was bedeutet dies für ihre Fähigkeit, von der Vergangenheit zu erzählen? Die Frage ist weniger abwegig als sie auf den ersten Blick vielleicht scheint. Denn die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts brachte ja nicht nur jene großen Gesellschaftsromane hervor, die vor allem seit dem Erfolg der HBO-Produktion The Wire (2002-2008) immer wieder als Referenz des (vor allem amerikanischen) Quality TV herangezogen worden sind. Mit ihnen entstand auch das Genre des historischen Romans, der jenes ungesicherte Terrain der Geschichte für sich reklamierte, in dem es der sich zeitgleich etablierenden Geschichtswissenschaft an Quellen mangelte. Wo sich mit der neuen „historischen Methode“ nicht klären ließ, wie es eigentlich gewesen war, waren begründete Spekulation darüber umso reizvoller, wie es wohlmöglich hatte gewesen sein können. Historischer Roman und historiographische Darstellung entwarfen sich so im späten 19. Jahrhundert als konkurrierende, aber ebenso als komplementäre Formen der Geschichtsschreibung, die vor allem eine gemeinsame Geschichtsvorstellung einte: Indem historische Romane ihre fiktiven Geschichtserzählungen auf den Tatsachen der Geschichtswissenschaft aufbauten, folgten sie dem grundsätzlichen Geschichtsbild der Zeit, das Geschichte vor allem als Abfolge politischer Ereignisse begriff, in denen „historische Persönlichkeiten“ Geschichte machten, und „einfachen Leute“ sie durchleben und durchleiden mussten.
Von dieser Vorstellung hat sich die Geschichtswissenschaft natürlich schon lange emanzipiert. Insofern ist durchaus erstaunlich, dass die allermeisten, der seit einigen Jahren boomenden Geschichtsserien sich weiterhin recht gut in mehr als 100 Jahre zuvor entstandene Modell der literarischen Personalisierung oder Personifizierung der politischen Ereignisgeschichte fügen: Noch immer stehen gerade in den besonders populären Serienformaten mit historischen Stoffen die große Männer und (heute auch) Frauen im Mittelpunkt, die Geschichte machten, oder erdachten „gewöhnliche Leute“, deren Schicksal die Zuschauer:innen epochale Wendungen der Vergangenheit mehr oder weniger exemplarisch miterleben lassen soll. Abseits dieser Publikumslieblinge, die mit dem Versprechen locken, ihre Zuschauer:innen „zurück in die Vergangenheit zu streamen“, lassen sich aber auch historische Serien finden, die Geschichte bemerkenswert anderes zu erzählen vermögen. Eine von ihnen ist The Deuce, auch eine Produktion des amerikanischen Pay-TV-Senders HBO, der mit ihr 2017 den Erfolg von The Wire zu wiederholen suchte. Auch sie stammt von dem The Wire-Macher David Simon, die für dieses Projekt viele Personen aus der damaligen Crew vor und hinter der Kamera wieder zusammenbrachte. Ein ähnlicher Erfolg blieb der Serie zwar verwehrt. Doch ihre in drei Staffeln gedrehten 25 Folgen führen ebenso leichtgängig wie eindrucksvoll vor, was serielles Geschichtsfernsehens im 21. Jahrhundert auch sein kann.
New York, 42nd Street: 1971-1984

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The Deuce erzählt für die 1970er und frühen 1980er Jahre von einer Nachbarschaft im Herzen Manhattans, wo in den Straßen um die 42nd Street (Fourty Deuce) zwischen Stundenhotels, grellen Lichtspielhäusern, Striptease-Bars, Schnellrestaurants und Bars vor allem nachts der Teufel los ist. Wo heute – ein Epilog führt dies am Ende der Serie vor – die Glasfassaden der Hochhäuser großer amerikanischer Firmen das Straßenbild bestimmen (auch HBO hat dort seinen Sitz), bevölkern damals Prostituierte und ihrer Zuhälter, Barmänner, Sexshop-Besitzer, Porno-Regisseure, Kriminelle und zahllose Passanten, Touristen, Theatergänger und Freier das New Yorker Vergnügungsviertel. Die Leuchtreklamen der Kinos und Theater lenken dabei nur mäßig vom Müll und Dreck auf der Straße ab. Die Kriminalität ist hoch, die Mafia allgegenwärtig. Sie sucht ihren Anteil am Geschäft mit dem käuflichen Sex, dessen Ökonomie das Leben der Bewohner:innen dieser Straßen antreibt und das die ersten Folgen der Serie detailliert sezieren.

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Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem die dandyhaften Zuhälter, die ihre „Mädchen“ ebenso zu Arbeit antreiben, wie sie sie dabei beschützen; die Trost und Anteilnahme, Kost und Logis spenden, wie Zwang und Gewalt ausüben. An der Brutalität ihres Regimes lässt die Serie keine Zweifel, zeigt es aber auch in seiner inneren Tauschlogik von Arbeits- und Reproduktionsleistungen: Der jungen Lori, die in der ersten Folge aus der Provinz nach New York kommt, eröffnet es Möglichkeiten, einen Platz in der Großstadt zu finden. Wer hingegen wie die Sex-Arbeiterin Candy die beständigen Angebote der Zuhälter ausschlägt, kann auch alleine an der Deuce stehen. Zugleich schafft die Sexarbeit Verdienstmöglichkeiten und Freiräume für andere Menschen: Für die Studentin Abby etwa, die hier den Barkeeper Vince kennen lernt und zu ihm zieht, um Studium und Elternhaus hinter sich zu lassen. Vince selbst steigt mit Mafiageld zum Besitzer mehrerer gut laufender Bars auf, in denen sich das umfangreiche Personal der Serie immer wieder begegnet. Auch Homosexuelle wie der Barbesitzer Paul finden im Schatten der Deuce Freiräume und individuelle Möglichkeiten. Und dann sind da noch sozialkritische Journalistinnen, feministische Aktivistinnen und eine nur wenig präsente Polizei.

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Die eröffnenden Folgen der ersten, 1971 einsetzenden Staffel zeigen das Mit- und Gegeneinander dieser Menschen dabei als eingespieltes Sozialgefüge. Man kennt sich in der Deuce, läuft sich nachts auf der Straße über den Weg, begegnet sich in Bars und Schnellrestaurants. Manchmal hilft man sich, hört einander zu. Manchmal schaut man weg. Beständig gibt es Konflikte und Streit, die nicht selten in Gewalt münden. Doch selbst die Polizei, die jede Nacht ein paar Sex-Arbeiterinnen von der Straße sammeln, ist Teil des routinierten Mit- und Nebeneinanders. Auch hier kennt man sich, bestellt auf dem Polizeirevier gemeinsam Essen. In der nächsten Nacht beginnt das Spiel von vorne: „Neuer Tag, neues Glück“.
Doch wie es ist, bleibt es nicht. Mit der sich zunehmenden Liberalisierung der Pornografieregulierung gerät das ökonomische und soziale Gefüge des Quartiers ins Rutschen. Vor allem die sich am Rand der Legalität entwickelnde Sexfilm-Produktion eröffnet manchen Bewohner:innen neue Chancen und bedroht Einfluss und Einkommen Anderer – eine schleichende Entwicklung, die mit der Freigabe der Pornografie durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofes Mitte der ersten Staffel unaufhaltsam wird und das bestehende System der Straßenprostitution in kurzer Zeit zu einer neuen Sex-Industrie transformiert. Sie folgt anderen wirtschaftlichen Logiken, bringt neue Akteure und Profiteure in Spiel, stellt bisherige Rollen und Lebensmodelle in Frage und produziert damit gleichermaßen Unsicherheiten, Risiken und neue Gewalt wie sie individuelle Chancen eröffnet.
Blickpunktbestimmung mit der Kamera
Bemerkenswert ist an alle dem nicht nur, dass The Deuce so schon damit die gut erprobten Erzählweisen populärer Geschichtsserien verlässt, indem sie sich einen historischen Moment vornimmt, der gerade nicht durch seine Ereignishaftigkeit bestimmt ist. Die Veränderungen vollziehen sich schleichend und ungelenk. Als historischer Prozess, als der sie im Rückblick zu erkennen sind, bleiben sie den Protagonisten der Serie verborgen. Vor allem beeindruckt The Deuce aber damit, was ihre Macher aus diesem Stoff nicht gemacht haben: kein Sozialdrama über misshandelte Frauen, auch wenn die mit der Sexarbeit einhergehende Gewalt in der Serie alle Veränderungen des Sex-Geschäftes überdauert; keine aufregende Mafia-Geschichte; keine Geschichte sozialer Aufsteiger, die die Gunst des Augenblicks zu nutzen wissen, um sich aus der Gosse herauszukämpfen; keinen verkappten Sex-Film; keinen Wirtschaftskrimi, in dem Mafia, Porno-Studios, Banken, Investoren und korrupte Polizisten um ihren Stück vom Kuchen ringen; und auch keine nostalgische Schnulze über ein untergegangenes, noch aufregendes New York, die den Verlust von Freiräumen und die Verdrängung der kleinen Leute betrauert. Von alle dem – und mehr – finden sich in den 25 Folgen der Serie viele Momente, die aber in eine Weise ineinander montiert werden, die gerade nicht darauf zielt, die Zuschauer:innen mit einem bestimmten Handlungsbogen die tiefgreifende Transformation der Deuce miterleben zu lassen. Die Serie erhebt sie vielmehr zu Beobachter:innen eines unübersichtlichen historischen Geschehens.

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Statt den historischen Romanen des 19. Jahrhunderts gleicht die Spielfilmserie The Deuce damit in Vielem eher heutigen historischen Sach- und Fachbüchern, die ja längst das Erzählen für sich entdeckt haben, aber eben ohne die Fiktion auskommen, Geschichte unmittelbar erlebbar machen zu können. Sie halten ihren gegenwärtigen Blickpunkt in der eigenen Darstellung ebenso bewusst wie sie ihn zu reflektieren vermögen – und The Deuce gelingt mit spielfilmerischen Mitteln durchaus Ähnliches. Hierfür ist insbesondere ihre Kameraarbeit entscheidend, die gerade keinem dokumentarischen Stil folgt. Vielmehr imitiert die Serie gekonnt die Ästhetik des New Hollywood-Kino, was ihre Folgen in das Bildgedächtnis der Zuschauer:innen aus Taxi Driver und anderen New York-Filmen der Zeit einfügt. Dies weist die Serie nicht nur offen als Fiktion aus; ein Umstand, an den auch das immer wieder prominent ins Bild gerückte Filmequiment der Porno-Industrie erinnert. Es hat vor allem den Effekt, dass die Serie einem filmischen Stil folgt, dessen Entstehung sie in der Deuce zugleich selbst verfolgt. In den Theatern des Off-Broadway in den Straßen um die 42nd Street hatten ja viele Regisseure des neuen amerikanischen Films der 1970er Jahre ihre Schauspieler:innen gefunden. Nicht nur diese Experimentalbühnen haben ihren Auftritt in der Serie. Ebenso zeigt sie, wie fließend die Grenzen zwischen pornografischem Film und Autorenkino in den 1970er Jahren noch waren: Larry, einer der Zuhälter, den die Transformation der Sex-Industrie seine Existenz raubt, gelangt über ein eigenes Engagement als Pornodarsteller schließlich an richtigen Schauspielrollen. Und besonders intensiv verfolgt die Serie die Bemühungen der ehemaligen Prostituierten Candy, sich als Regisseurin von feministischen Pornofilmen durchzusetzen, die Lust auch mit Handlung und Dialogen zu erzeugen suchen. Am Ende streicht Candy die Sexsenen aus ihrem zweiten Film, der, wie der Epilog bemerkt, zwar erfolglos blieb, in der fiktiven Gegenwart des Serienendes aber unter Filmliebhabern zu einem feministischer Kultklassiker geworden ist.
Sexbetrachtungen

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Besonders deutlich wir die mit der Kamera geleistete Reflexion des eigenen Erzählstandpunkt in den Sexszenen, die die Serie notgedrungen enthält. Bis zur ersten dauert es eine halbe Stunde, dann sieht man die junge Studentin Abby, die mit einem ihrer Dozenten schläft und ins Lachen kommt, weil er beim Orgasmus ein seltsames Gesicht macht. „Wenn die Leute mal sehen könnten, wie sie beim Sex aussehen“, kommentiert Abby, „wäre es sofort vorbei. Wenn es nicht so geil wäre, wäre es lächerlich“. Kommentar und Szene formulieren dabei einen Anspruch, den sich die Serie setzt, und mit einer ausgesprochen nuancierten Sex-Darstellung tatsächlich bis zum Ende einzulösen vermag: (auch) eine Serie über Pornografie zu sein, aber den mit der Sex-Industrie entstehenden pornografischen Blick mit der eigenen Kamera nicht zu wiederholen. Pornografische Aufnahmen finden sich in der Serie insofern tatsächlich nur als jene Produkte, die ihre Protagonisten herstellen. In ihrer eigenen Kameraarbeit stelle die Serie diesen stereotypen Bildern zahllose andere Blickwinkel und Aufnahmen gegenüber, die insbesondere im Fall der vielen gezeigten Pornodrehs immer wieder neue Perspektiven finden. Sie zeigen Sex als intime Begegnung von Liebenden, als brutale Gewalt, als nüchternes Tauschgeschäft, als Form der Demütigung, als Notwendigkeit, als Peinlichkeit, als Schauspiel – und führen damit vor, dass es, als der Sex mit dem Siegeszug der Pornografie plötzlich für alle zu sehen war, nur deshalb nicht „vorbei“ war, weil er in ihren Bildern gar nicht sichtbar wurde.
Spannung und Kontingenz
Neben der Kameraarbeit ist es vor allem die spezielle Erzählweise der Serie, die die Zuschauer:innen in die Position historischer Beobachter:innen drängt. Denn sie kommt ohne Haupt- und Identifikationsfiguren aus. Vielmehr verfolgt The Deuce eine auch für serielles Erzählen außergewöhnlich große Anzahl an Figuren. Manche erhalten dabei mehr Aufmerksamkeit als andere. Aber ein erzählerisches Zentrum lässt sich unter ihnen dennoch nicht ausmachen. The Deuce erzählt so zwar wie alle fiktive Geschichtsschreibung mit erfundenen Figuren von der Vergangenheit. Aber sie betreibt gerade keine Personifizierung von Geschichte, die sie im Schicksal einer Hauptfigur exemplarisch verdichtet hätte. Dies hat den Effekt, dass sich für die Serie kein richtiger Plot umreißen lässt. Natürlich haben alle Figuren ihre Handlungsstränge: Sie machen Pläne, erleiden Schicksalsschläge, verlieben sich, suchen ihren Vorteil in der sich wandelnden Situation, geraten in Konflikte, werden geschlagen und gedemütigt. Aber eine übergreifende Story setzt sich daraus nicht zusammen. Wer sich etwa in der englischen Wikipedia entlang des Episodenguides über The Deuce zu informieren sucht, sieht sich einem Wust unterschiedlicher Entscheidungen und Konflikte des breiten Serienpersonals gegenüber, dem ein erzählerischer Zusammenhang zu fehlen scheint.

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Er findet sich beim Schauen tatsächlich nicht in einer übergreifenden Story, sondern im historischen Prozess selbst, auf den die persönlichen Geschichten des Serienpersonals in unterschiedlicher Weise bezogen sind. In dieser Weise gelingt es The Deuce auch ohne klassiver Mittel wie Cliffhänger oder dramatische Handlungswendungen ihre Zuschauer:innen zum Weiterschauen zu motivieren, indem sie ihren Blick auf die Geschichte selbst lenkt. Den Lebenswegen des Serienpersonals folgt man dabei nur mit distanzierter Anteilnahme. Die Menschen in der Deuce verlieben sich, gewinnen oder verlieren, manche sterben, ohne das Serienpublikum mit ihren Schicksalen in einen Bann zu ziehen. Was in der Serie Spannung erzeugt ist viel mehr das, was Historiker:innen Kontingenz nennen: die Unabsehbarkeit der angestoßenen Veränderungen. Denn gerade weil The Deuce sich den erwartbaren Auslegungen ihres Sujets verweigert, bleiben für ihre Zuschauer:innen Aus- und Fortgang der begonnenen Transformation ebenso unabsehbar wie für die Protagonisten der Serie.
Wenn die Serie am Ende der dritten Staffel im Jahr 1984 angekommen ist, blickt man als Zuschauer zurück auf eine verschlungene Entwicklung, die am Beginn der Serie nicht absehbar war, aber schließlich nicht nur das Leben der Menschen in der Deuce grundlegend verändert hat, sondern auch das Quartier selbst: Die Prostitution hat neue Orte gefunden, Sex mit der Verbreitung der Pornografie ebenso sehr neue Sichtbarkeit gewonnen, wie es aus dem Stadtbild Manhattans verschwunden ist. Viele frühere Bewohner:innen haben das Quartier verlassen, manche ein neues Glück gefunden, andere nur ein anderes, nicht weniger leidvolles Leben. Ein gemeinsames Ende findet sich nicht. Geschichte ist kein Roman.
Sehr schräg, eine Zeit als Geschichte präsentiert zu bekommen, die man selber bereits bewusst zeitgenössisch erlebt hat. Aber gute Analyse, Serie klingt spannend