Nirgends lässt sich Drama so gut inszenieren wie in Reality-TV-Shows – und in Serien über das Erwachsenwerden. Im Reality-TV sorgen explosive Settings (eine ganze Schulklasse von Frauen oder Männern kämpft auf RTL um den einen Bachelor oder die Bachelorette) und gewieftes Storytelling in Kombination mit geschickter Montage dafür, dass alltägliche Probleme zu Melodramen aufgebläht werden. Die Zuschauer:innen ihrerseits haben die Möglichkeit, den ebenso epischen wie peinlichen Kampf um die ,große Liebe‘ als Lebenshilfe ernstzunehmen oder ironisch als Trash-TV zu rezipieren, der das heteronormative Wertesystem und die Erzählung vom Märchenprinzen (oder der Prinzessin) ad absurdum führt. Queere Dating-Shows wie Prince oder Princess Charming laden dazu ein, Bachelor und Bachelorette noch einmal anders zu schauen.
Doch was hat Reality-TV mit den Coming-of-Age-Serien zu tun, um die es hier gehen soll? Um es gleich vorwegzunehmen: Mit Joss Whedons Buffy the Vampire Slayer (1997–2004) wurde die Coming-of-Age-Serie als Metagenre entdeckt, als Raum, in dem über das Erzählen in populären Genres und über das spannungsreiche Verhältnis von Jugend und Medienkultur reflektiert werden kann. Seit der sogenannten Lesesuchtdebatte im 18. Jahrhundert, bei der die Vielleserei von Romanen von aufklärerischen Pädagogen wie Johann Heinrich Campe (1746–1818) in Analogie zu sexuellen Exzessen als schädlich für Körper, Seele und Gesellschaft gegeißelt wurde, steht der jugendliche Medienkonsum – heute etwa das ‚Bingen‘ von TV-Serien – in der Kritik. Coming-of-Age-Serien spielen daher sämtliche Gefahren genüsslich durch, denen sich Jugendliche ausgesetzt sehen, und greifen dabei immer auch aktuelle Debatten auf. Zum Beispiel den Terror, den die Omnipräsenz von Social Media ermöglicht; alles, was die Jugendlichen tun, wird gefilmt und gleich gepostet.
Damit provozieren die Serien heftige Reaktionen bei Teilen des erwachsenen Publikums und Begeisterung bei den jugendlichen Zuschauer:innen. 13 Reasons Why (2017–2020) thematisierte Mobbing und sexuelle Gewalt an einer US-High School, Euphoria (2019–) erzählt von Drogensucht, Sexarbeit und Gewalt in allen denkbaren Formen. Auch wenn es heitere Gegenbeispiele gibt wie Sex Education (2019–) oder Heartstopper (2022–) und ins Groteske kippende Variationen wie Tim Burtons Wednesday (2023–), so zeichnen die meisten Serien das Bild einer zerrütteten, feindseligen, paranoiden Gesellschaft. In den fiktionalen Welten, die in Coming-of-Age-Serien entworfen werden, ist Paranoia die einzig vernünftige Haltung. Auch wenn viele der jugendlichen Protagonist:innen nicht besonders nett sind – an die Gleichgültigkeit, Selbstbezogenheit und Grausamkeit der Erwachsenen kommen sie nicht heran.
Geisterhafte Fantasiefiguren
Dass in Erzählungen vom Erwachsenwerden mit großem Ernst und ebensolchem Pathos ausgehandelt wird, was es heißt, in einer von multiplen Krisen überschatteten Welt zu leben, hat viel mit der Teenager:in als Projektionsfigur zu tun. Das Hineinwachsen in die Gefahrenzone des jungen Erwachsenenlebens ist nur eine Seite davon. Die literarische Tradition von Goethes Werther (1774) über Salingers Catcher in the Rye (1951) bis zu Benedict Wells’ Hard Land (2021) – ja, die klassischen Coming-of-Age-Erzählungen drehen sich um männliche Protagonisten – aber auch popularisiertes Wissen über die Entwicklungspsychologie der Adoleszenz prägt die Gestaltung fiktionaler Figuren mit. Sie erleben Gefühle mit einer Intensität, von der Erwachsene nur noch träumen können – was diese auch ausgiebig tun: die Autor:innen von Teenie-Serien und Adoleszenzromanen sind in aller Regel Erwachsene. Die Faszination für jugendliche Figuren entzündet sich denn auch an nostalgisch gefärbten Fantasien des Anfangens, Anfängen, die … immer schon verloren sind: erstes Verliebtsein, erster Sex, sich zum ersten Mal leidenschaftlich für eine Sache engagieren. Was die Literaturwissenschaftlerin Kathleen Bond Stockton über das Kind als kulturelle Projektionsfigur sagt, gilt auch für Jugendliche: sie erscheinen als geisterhafte, unerreichbare Fantasie in Erzählungen über das Erwachsenwerden.
Die Adoleszenz war in der Literatur und in audiovisuellen Medien immer schon prekär, gefährdet, ambivalent. Werther steht nach wie vor für den radikalen Absturz aus der glühenden Leidenschaft in den Tod, Benedict Wells’ wohltemperierter Protagonist Sam für die ‚Euphancholie‘, die adoleszenzspezifische Mischung aus Euphorie und Melancholie. In den letzten Jahren hat sich die kulturelle Figur der* Jugendlichen allerdings gewandelt. Die Ambivalenz von Euphorie und Melancholie, von leidenschaftlichem Anteilnehmen an allem, was das Leben zu bieten hat und Weltschmerz, hat sich durch den Aktivismus der ‚Klimajugend‘ auf der einen und die Schlagzeilen über das erschreckende Maß der Verbreitung psychischer Probleme bei Jugendlichen seit der Pandemie auf der anderen Seite politisch zugespitzt. Entsprechend sind die populären Fiktionen über das Erwachsenwerden sehr viel düsterer geworden.
Abgezeichnet hat sich diese Entwicklung bereits bei der Serie Stranger Things, die in den 1980er Jahren spielt und damit gezielt mit der Nostalgie der Generation X operiert. Die Serie, die dieses Jahr in die fünfte Staffel geht, arbeitet fast systematisch die dunkle Seite einer idealisierten Jugend vor Digitalisierung, Finanzkrisen und Klimawandel heraus; schon die vierte Staffel von 2022 gab den Modalitäten des Horrorgenres mehr Raum als allen anderen. Und Sam Levinsons für Sex-, Gewalt- und Drogenexzesse berüchtigte Serie Euphoria beginnt gleich damit, dass Rue (Zendaya), die Protagonistin und Erzählerin der Geschichte im Voice Over-Verfahren, ihre eigene traumatische Lebensgeschichte mit dem Trauma der USA kurzschließt: „I was born three days after 9/11. My mother and father spent two days in the hospital holding me under the soft glow of the television, watching the towers fall over and over again, until the feelings of grief gave way to numbness. And then, without warning, a middle-class childhood in an american suburb.“
Coming-of-Age-Serien haben sich zu einem Genre entwickelt, in dem in zugespitzter Form von den Unzumutbarkeiten des Erwachsenwerdens erzählt wird. Klassische Coming-of-Age-Motive wie die Suche nach der eigenen Identität, Konflikten in der Peer Group und die Auseinandersetzung mit den Eltern und Lehrpersonen sowie individualpsychologische Diskurse spielen dabei nach wie vor eine Rolle, doch im Mittelpunkt steht, wie die Anfangsszene von Euphoria zeigt, die Frage, wie politische Traumata mit den psychischen Problemen der Jugendlichen verflochten sind. Die These der Serien lässt keinen Zweifel: Therapie brauchen nicht die jungen Menschen, Therapie bräuchte die Gesellschaft als Ganze.
Wirklichkeit als poröse Membran
Zwei aktuelle Serien entscheiden sich klar fürs Horrorgenre, um von Jugendlichen als Opfer grausamer Praktiken des Missbrauchs zu erzählen. In der Miniserie The Crowded Room (USA 2023; Idee: Akiva Goldsman und Todd Graff) muss sich der Protagonist Danny (prominent besetzt durch den Spiderman-Darsteller Tom Holland) ganz allein mit seiner schweren posttraumatischen Belastungsstörung herumschlagen. Sogar seine Peer Group ist phantasmatisch; der ganze Freundeskreis, den die Zuschauer:innen in den ersten Folgen kennenlernen, besteht aus Stimmen in Dannys Kopf; abgespaltene Alter Egos. Polizei und Justiz – die Serie spielt in den 1970ern – ist das herzlich egal; doch mit Hilfe der Psychotherapeutin Rya (Amanda Seyfried) lernt Danny auf für das Publikum erbauliche Weise, seine Persönlichkeit zu integrieren. Viel verstörender wirkt die BBC Three-Netflix-Koproduktion Red Rose (UK 2023, Idee: Clarkson Brothers), weil sie den Horror bis zum Schluss immer mehr zuspitzt und auf ein Therapienarrativ verzichtet. Sie stellt den Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Lust an der medialen Auflösung von Grenzen zwischen Realität und Fiktion und der Obsession mit Jugendlichen als medialen Projektionsfiguren heraus.
Was als klassische Coming-of-Age-Erzählung beginnt, mit einer exzessiven Party zum Schulabschluss, Konflikten in der Peer Group und Hinweisen auf familiäre Traumata, entwickelt sich im Lauf der ersten Staffel zu Horror pur – beziehungsweise einer Mischung aus The Ring, Halloween und Black Mirror. Ganz neu ist das nicht, zumal der wohl grösste Teenie-Serien-Erfolg der letzten Jahre auf Netflix, Stranger Things (USA 2016–) immer entschiedener mit Horror-Elementen operiert, insbesondere wenn es darum geht, traumatische Erfahrungen der jugendlichen Protagonist:innen audiovisuell erfahrbar zu machen. Doch bereits die Konzeption des fiktionalen Schauplatzes beruht auf einem Horror-Setting: Der Boden, auf dem die Wirklichkeit vermeintlich fest verankert ist, entpuppt sich als poröse Membran. Denn auf der anderen Seite befindet sich das ‚Upside Down‘, eine von Monstern und Dämonen beherrschte Gegendimension der Wirklichkeit, in der alles Bedrohliche, ganz im Sinne von Freuds Unbewusstem, verdrängt wird. Die Monster des Upside Down haben es besonders auf die Teenager:innen abgesehen, die sich, lebenslustig und neugierig, aber auch durch häusliche Gewalt und den Tod von Angehörigen, als wehrlose Opfer anbieten.
Paranoia und Interpretation
Red Rose lässt sich durchaus vom Erfolgsmodell Stranger Things inspirieren, treibt das Grauen aber weiter bis zum Anschlag. Zunächst sind die Jugendlichen älter (und damit auch das Publikum), vor allem spielt die Serie in der nordenglischen Stadt Bolton, in der die Clarkson Brothers aufgewachsen sind. Im Gespräch mit dem Guardian beschreibt Michael Clarkson den Ort als “an industrial Mecca that became a Thatcherite graveyard” und benennt mit dem Verweis auf die sozioökonomischen Prekarität als Folge von Margaret Thatchers Politik den Kontext, in dem das Drama seinen Lauf nimmt. Die jugendlichen Protagonist:innen wissen nichts darüber, ebensowenig wie über die Hintergründe ihrer eigenen Familiengeschichte – den Suizid von Rochelles Mutter, die Gewalttätigkeit von Wrens Vater. Institutionen scheinen kaum zu existieren; die einzige Hoffnung liegt auf privaten sozialen Netzen, die aber ohne den Rahmen eines Sozialstaats die Last individueller Katastrophen nicht tragen können. Die Jugendlichen sind ganz mit ihrer Peer Group und ihren Handys beschäftigt, sehnen sich aber nach etwas unbestimmtem Anderen.
Und das wird ihnen zum Verhängnis. Rochelle, die schlagfertige Anführerin der ‚Dickheads‘, wie sich die fünf Freund:innen nennen, bemüht sich in der Gruppe darum, möglichst cool zu sein; und weil sich eine Konkurrenz zwischen ihr und ihrer besten Freundin Wren um die Gunst des netten und ganz untoxischen Noah abzeichnet, schlägt sie sich ganz allein mit ihren Problemen herum. Als auf ihrem Handy eine App namens Red Rose erscheint, die sie wie Aschenputtel im Märchen anspricht und ihr drei Wünsche zu erfüllen verspricht, lässt sie sich sofort auf das Spiel ein. Die App weiß aber, dass ihr tiefster Wunsch nicht Macht, Reichtum und Schönheit ist, sondern dass sie ihre tote Mutter zurückhaben möchte. Und sie beginnt, Rochelle seltsame Aufgaben zu stellen und sie mit Videos, in denen der Geist der toten Mutter auftritt, zu traktieren. Am Ende der zweiten Folge ist das Mädchen tot.
Der eigentliche Schocker, mit dem die Serie aufwartet, ist die Analyse der aktuellen Medienkultur und der Obsession mit Jugendlichen als Projektionsfiguren. Red Rose greift nicht nur die Ängste und Sehnsüchte auf, die auf ‚die Jugend‘ projiziert werden. Jugendliche sollen gleichzeitig die Verantwortung für die Zukunft übernehmen, als von gefährlichen Ideologien angetriebene Aktivist:innen für Klima und Diversität aber auch zum Schweigen gebracht werden. Dieses Spannungsfeld wird viel diskutiert und auch als eine Quelle der massiven Zunahme psychischer Probleme bei Jugendlichen in der realen Welt ausgemacht. Die Aggression hingegen, die in solchen Zuschreibungen steckt, bleibt weitgehend unsichtbar.
Wie Red Rose zeigt, erlauben es erst die Genremodalitäten des Horrors, diese Verbindung sichtbar zu machen. Denn die Gruppe, die mit der Red-Rose-App Jugendliche in den Tod treibt, besteht aus namenlosen und weitgehend gesichtslosen erwachsenen Spieler:innen, denen es gelingt, die medienaffinen Mädchen und Jungen auf Schritt und Tritt zu überwachen und via Social Media zu manipulieren. Die Figuren in Bolton glauben lieber an die Schicksalshaftigkeit der Herkunft, an die transgenerationelle Weitergabe der Neigung zu Gewalt, als an paranoide Verschwörungsszenarien. Auf diese Problematik hat der Soziologe Luc Boltanski in seiner Studie Rätsel und Komplotte hingewiesen; das Gewebe hinter der Realität, das in der Fiktion erstmal entdeckt und in einem zweiten Schritt enträtselt werden muss, erlaubt es überhaupt, die Konstruktion der Wirklichkeit zu untersuchen. Horror ist insofern ein altmodisches Genre, weil es, im Gegensatz zu Reality-TV, auf der radikalen Trennung von Fiktion und Wirklichkeit besteht. Verschwörungen in der Fiktion haben denn eine völlig andere Funktion als im Alltag, denn es geht ihnen nicht – oder nur in langweiligen Erzählungen – darum, die Funktionsweise der außerfiktionalen Wirklichkeit aufzuzeigen, sondern in der Verdichtung und Überzeichnung zu zeigen, wie mediale und narrative Verfahren funktionieren und wie sie sich dechiffrieren und interpretieren lassen.
Red Rose lässt sich insofern als Dekonstruktion der Coming-of-Age-Serie lesen. Sie verweist mit aller Drastik darauf hin, dass Jugendliche entgegen allen Behauptungen, sie seien ,unsere Zukunft‘ und ,unsere Hoffnung‘, von Erwachsenen grausam behandelt werden, wenn ihr Leiden an der Vergangenheit und an der Zukunft als beliebtes Unterhaltungsformat inszeniert wird. Die Kritik an Serien wie 13 Reasons Why oder Euphoria als jugendgefährdend fällt so auf die Kritiker:innen zurück. Denn nicht die düstere Analyse, die die Serien leisten, ist das Problem, sondern die sadistischen Unterhaltungsbedürfnisse des erwachsenen Publikums, das sich so gerne empört, aber doch immer wieder aufs Neue sehen will, wie Jugendliche misshandelt werden und leiden.
So kehrt das Coming-of-Age-Genre mit seiner aktuellen Affinität für Horror an seine Anfänge zurück, wenn man Joss Whedons Buffy als Matrix für die gesellschaftskritische und ästhetisch verspielte Teenie-Serie gelten lässt. Dass Greta Gerwig, dank Barbie im Moment die kommerziell erfolgreichste Regisseurin Hollywoods, mit Lady Bird (2017) einen der schönsten Coming-of-Age-Filme mit einer weiblichen Protagonistin gedreht hat, ist immerhin als Fußnote zu vermerken. Wut ist in Lady Bird, wie es sich für einen feministischen Film gehört, nicht nur erlaubt, sondern der Weg zur eigenen Handlungsmacht – deshalb braucht es den Horror nicht.
PROJEKTIONSFIGUREN Zitat „Der eigentliche Schocker, […] mit Jugendlichen als Projektionsfiguren. Red Rose greift nicht nur die Ängste und Sehnsüchte auf, die auf ‚die Jugend‘ projiziert werden“ Der gesamte Ansatz dieser gdg-Serie scheint mir aussergewöhnliche Kraft zu besitzen. Eben durch den Blick von einem jeweils Konkreten aufs Ganze. Sehr, sehr spannend, bespricht es doch unausgesprochen gesellschaftlich-öffentliche Phänomene, die uns offensichtlich paradoxerweise eben auch ‚innerlich‘ um die Ohren fliegen. Bleibt dieses ‚unbekannte‘ GANZE jedoch sehr wage im Hintergrund – als Schattendasein, als NICHT fassbar – trotz, logisch, höchster Relevanz neben unser aller konkreten individuellen Subjektivität? Will man doch Erkenntnis darüber ob man als… Mehr anzeigen »