Arztserien gehören seit den 1950er Jahren weltweit zu den erfolgreichsten TV-Formaten. Mit ihrer hohen Reichweite prägen sie die Vorstellungen von Medizin, Gesundheitsversorgung und den Gesundheitsberufen massgeblich – und haben (un)erwünschte Nebenwirkungen.

  • Nadia Pettannice

    Nadia Pettannice ist Historikerin. Sie doktoriert derzeit an der Universität Zürich und arbeitet Teilzeit im Kulturarchiv der Stadt Winterthur. Ihre Forschungsschwerpunkte und Interessen liegen in der jüngeren Psychiatrie- und Medizingeschichte sowie im Bereich der Geschichtsvermittlung. Seit einigen Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit Digital Marketing, Fotografie und Motion Design. Bei Geschichte der Gegenwart ist sie für den Kundenservice und das Marketing zuständig.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Seri­en­sommer, Folge 2: Drama, hochdosiert
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Regel­mä­ßige Emer­gency Room (E.R.)-Zuschau­ende könnten sich durchaus einbilden, zur Durch­füh­rung eines Luft­röh­ren­schnittes mittels Sack­messer, Kugel­schreiber und Stroh­halm in der Lage zu sein. Hyper­rea­lis­ti­sche Darstel­lungen medi­zi­ni­scher Prak­tiken haben sich als führendes Genre­merkmal durch­ge­setzt. Block­buster wie E.R., Grey’s Anatomy, Chicago Med oder New Amsterdam operieren damit und erzählen Diagno­se­dramen mit Gegen­warts­bezug. Dadurch entstehen Paral­lel­uni­versen, in denen kalei­do­sko­pi­sche Zerr­bilder der aktu­ellen Gesund­heits­ver­sor­gung erzeugt und in die Gesell­schaft zurück­ge­spielt werden. Zeit, ein paar Stich­proben der einfluss­reichten Arzt­se­rien ins Labor zu schi­cken und zu unter­su­chen, in welchen Berei­chen der Realismus beson­ders ausschlägt und wie sich die Werte über die Jahre verän­dert haben.

Konstru­ierter Realismus – das Heroin der Arztserien

Quelle: imdb.com

Der Auftritt von Dr. Konrad Styner (gespielt von Richard Boone) in der 30-minütigen Anthologie-Serie Medic (1954–1956) markierte den Einzug des Realismus in das Genre. Medic bean­spruchte für sich, ein unge­schminktes Bild der modernen Medizin zu präsen­tieren. Dadurch hob sich die Serie deut­lich von beliebten Seifen­opern wie Dr. Kildare und Dr. Chris­tian ab und setzte mit einer Mischung aus Drama und Doku­men­ta­tion neue Maßstäbe. Jede Episode basierte auf einer realen Fall­studie und zeigte den gesamten Prozess von der Diagnose über die Therapie bis zur Gene­sung oder zum Tod. „Obser­va­tiones“ – schon im 17. Jahr­hun­dert auch von Laien gele­sene Kran­ken­be­ob­ach­tungen – zur Primetime!

Der Reali­täts­an­spruch hatte seinen Preis: Mit einem Budget von 25.000 Dollar pro Folge war die Einrich­tung eines Spital­sets samt Opera­ti­ons­saal reines Wunsch­denken. Daher gingen die Produ­zenten eine Koope­ra­tion mit der Los Angeles County Medical Asso­cia­tion (LACMA) ein. Diese ermög­lichte Film­drehs in Spitä­lern, ließ den Dreh­buch­autor im Arbeits­alltag Dialoge aufschreiben und erlaubte das Aufnehmen von Geburten und Opera­tionen. Im Gegenzug forderte die LACMA die Kontrolle über die „medi­zi­ni­sche Akku­rat­heit“ jedes Skripts.

Dafür stellte sie eine Exper­ten­kom­mis­sion mit bis zu zwanzig Mitglie­dern zusammen. Da diese fürch­tete, dass Fehler oder Kontro­versen in der Serie ihr Ansehen beein­träch­tigen könnten, desin­fi­zierten sie so lange an den Skripten rum, bis jegliche Konta­mi­na­ti­ons­ge­fahr gebannt schien. Ihre Eingriffe zugunsten der „medi­zi­ni­sche Akku­rat­heit“ reichten von der Wahl der „rich­tigen“ Auto­marke für die Prot­ago­nisten bis zum Verbot für die TV-Ärzte, während der Fall­be­spre­chung Kaffee zu trinken, weil das zu wenig enga­giert wirkte. Die Autoren mussten diese bittere Pille schlu­cken, denn sie hatten sich komplett von der Gunst der LACMA abhängig gemacht.

Die stän­digen Eingriffe hatten verhee­rende Folgen für die Drama­turgie und Charak­ter­ent­wick­lung. Die Ärzte wirkten wie seelen­lose und omni­po­tente Ideal­scha­blonen, die ständig das Publikum belehrten. Höhe­punkt der ärzt­li­chen Selbst­dar­stel­lung war der Vorspann: Von bedeu­tungs­schwan­geren Worten begleitet, zoomte die Kamera von einem Äsku­lap­stab in Nahauf­nahme heraus und enthüllte die symbo­li­schen Attri­bute eines idealen Arztes: die Augen eines Adlers, das Herz eines Löwen und die Hände einer Dame (obwohl es nur Ärzte waren). So will es eine alte Rede­wen­dung und so wollte es auch die LACMA. In Medic herrschten Halb­götter in Weiß:

Guar­dian of birth, healer of the sick, comforter of the aged, to the profes­sion of medi­cine, to the men and women who labor in its cause, this story is dedi­cated” (Dr. Konrad Styner, Intro „Medic“)

Mitten in den Babyboom-Jahren legte Medic den Fokus der Pilot­folge, „White Is The Color“, auf die Geburts­hilfe. Sie erzählt die Geschichte einer leuk­ämie­kranken Schwan­geren, die während der Geburt ihres Kindes stirbt. Für die Geburts­szenen wurden Origi­nal­auf­nahmen eines Neuge­bo­renen kurz nach der Entbin­dung, bei der Beatmung und bei Wieder­be­le­bungs­maß­nahmen durch Kalt-Warmbäder gezeigt. Ein echter Über­le­bens­kampf, einge­woben in die Fiktion. Medizin IST Drama! Die Szene kata­pul­tiere Medic sofort in den Seri­en­himmel und manche Zuschau­enden ohnmächtig auf den Teppich­boden. Die meisten TV-Kritiker:innen waren begeis­tert und lobten den Mut, die „harte medi­zi­ni­sche Realität“ zu zeigen. In den US-Wohnzimmern flim­merten nun regel­mäßig echte Chir­ur­gen­hände über den Bild­schirm, die an Kiefer­kno­chen rumhäm­merten, Fußfehl­stel­lungen korri­gierten und Organ­teile heraus­schnip­pelten, die Kamera immer direkt auf das Opera­ti­ons­feld gerichtet.

1956 wurden jedoch die Grenzen des medi­zi­ni­schen Realismus sichtbar, als die Produ­zenten einen Kaiser­schnitt auf den TV-Operationsplan setzten. Damit zogen sie den Zorn eines einfluss­rei­chen römisch-katholischen Kirchen­ver­tre­ters auf sich. In einer Beschwerde an die NBC stellte dieser klar, dass Geburts­auf­klä­rung Sache der Sexu­al­erzie­hung und damit der Kirche sei und solche Szenen nichts in einem Unter­hal­tungs­format zu suchen hätten. Es folgte eine veri­table Medi­en­schlacht. Die NBC knickte ein und zensierte die Episode, was wiederum die LACMA zum Kochen brachte. Kurze Zeit später wurde die Serie für tot erklärt. Das Erbe von Medic blieb dennoch die Wunder­droge Realismus und die damit verbun­dene Abhän­gig­keit von medi­zi­ni­schem Expertenwissen.

Substi­tu­ti­ons­the­rapie in den 1970er-Jahren

Je nach gesell­schaft­li­chem Klima kann Realismus aller­dings nicht hoch­do­siert und pur verab­reicht werden. Dann setzen Serien zur Substi­tu­ti­ons­be­hand­lung mit schwarzem Humor und indi­rekten Anspie­lungen an. Das Para­de­bei­spiel hierfür ist die 1972 lancierte Sitcom M*A*S*H* (1972–1983). Sie basiert auf dem gleich­na­migen Buch und Film. M*A*S*H*, spielt im Korea­krieg in einem fiktiven „Mobile Army Surgical Hospital“ und porträ­tiert das Leben des medi­zi­ni­schen Perso­nals. Das Paral­lel­uni­versum M*A*S*H* spielte zwar zwanzig Jahre in der Vergan­gen­heit, adres­sierte aber die dama­lige Gegen­wart mitten im Viet­nam­krieg. Die in Blöde­leien verstrickten Figuren wurden jeweils jäh von den Schre­cken des Krieges einge­holt, die sich in Form von blutenden, verletzten, verstüm­melten und ster­benden Solda­ten­kör­pern mani­fes­tierten. Der Opera­ti­ons­saal fungierte als primärer Ort der Ernst­haf­tig­keit und präsen­tierte sich als eine einzige klaf­fende Wunde.

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M*A*S*H*, 1977; Quelle: life.com

Die darge­stellte Kriegs­me­dizin konfron­tierte das Publikum aber auch mit Mangel­lagen und dürf­tiger Ausstat­tung. In der sechsten Folge der ersten Staffel, Yankee Doodle Doctor, besucht ein Mili­tär­filmer das Camp. Die Protagonist:innen sind aber derart genervt über die Kriegs­pro­pa­ganda, dass sie den Film vernichten und selbst eine Mocku­men­tary drehen. Am Schluss durch­bricht der Haupt­cha­rakter Hawkeye Pierce (Alan Alda) vor einem Verwun­deten sitzend die vierte Wand und gibt ein eindring­li­ches State­ment ab:

Three hours ago, this man was in a battle. Two hours ago, we operated on him. He’s got a fifty-fifty chance. We win some, we lose some. That’s what it’s all about. No promises. No guaran­teed survival. Guns and bombs and anti-personnel mines have more power to take life than we have to preserve it. Not a very happy ending to a movie. But then again, no war is a movie. (Hawkeye Pierce)

In M*A*S*H* zeigte sich bereits, dass sich TV-Mediziner:innen sehr gut – ja viel­leicht sogar besser als ihre realen Vorbilder – für poli­ti­sche State­ments eignen.

Notfall­me­dizin auf Steroiden

Emer­gency Room (1994–2009) prägte das Genre über fünf­zehn Jahre. Das Skript von Michael Crichton, einem Anthro­po­logen und Medi­ziner, entstand bereits 1974, landete aber zugunsten seines Buch­pro­jekts über Dinosaurier-DNA in der Schub­lade. Nachdem Steven Spiel­berg daraus Jurassic Park gemacht hatte, wurde E.R. 1993 wieder­be­lebt.

Emer­gency Room, 1994: Quelle: imdb.com

Die Welt war eine andere geworden: Das US-Gesundheitssystem befand sich in der Krise, die Spitäler zeigten Erosi­ons­er­schei­nungen und die Arzt­se­rien plät­scherten mit mäßigen Einschalt­quoten vor sich hin. Ursprüng­lich waren alle fünf Haupt­fi­guren als weiße Männer ange­legt. Das erschien nun nicht mehr zeit­gemäß. So wurde Dr. Lewis eine Frau (Sherry String­field) und Dr. Peter Benton Schwarz (Eriq La Salle). E.R. zeigte authen­ti­sches Personal unter­schied­li­chen Alters, Herkunft und Körper­formen mit viel­fäl­tigen Charak­ter­ei­gen­schaften. Die Haupt­fi­guren waren fehlbar, trafen frag­wür­dige Entschei­dungen, waren herz­lich und fies zugleich und durften sogar ab und an Kaffee trinken. E.R. initi­ierte einen Diver­si­fi­ka­ti­ons­pro­zess, auf den spätere Serien wie Scrubs und Grey’s Anatomy aufbauten. In anderen Aspekten blieb die Serie tradi­tio­nell: Sie drehte sich um eine Notauf­nahme in einer Groß­stadt, in der tech­nisch hoch­ge­rüs­tete Spit­zen­me­dizin gezeigt wurde und Ärzt:innen im Mittel­punkt standen..

Die Pilot­folge von E.R., 24-Hours, beginnt mit einem schnar­chenden Dr. Mark Greene (Anthony Edwards), der von der Notfall­pfle­gerin Lydia Wrigth (Ellen Craw­ford) geweckt wird. Auch sie sieht müde und abge­kämpft aus. Wenige Minuten später wird die leitende Notfall­schwester Carol Hathaway (Juli­anna Margu­lies) mit einer Medi­ka­men­ten­über­dosis einge­lie­fert. Das System kolla­biert. Ursprüng­lich hätte Hathaway sterben sollen, doch das Test­pu­blikum reagierte derart negativ auf ihren Tod, dass sie statt­dessen zur einzigen Haupt­figur beför­dert wurde, die kein Medi­zin­stu­dium hatte. Trotz Rettung blieb der Suizid­ver­such ein Aufreger, beson­ders unter US-Pflegefachkräften, die sich an der noto­risch schlechten Darstel­lung ihres Berufs­standes störten und den Suizid­ver­such der kompe­tenten und enga­gierten Schwester als Makel ansahen. Ihr Vorwurf war nicht unbe­gründet. Während Ärzte­ge­sell­schaften seit 1954 dafür gesorgt hatten, dass der Ruf ihres Berufs­standes mehr­heit­lich unan­ge­tastet blieb, konnten sich die Filme­ma­cher bei den Kran­ken­schwes­tern unge­bremst nega­tiver Klischees bedienen.

Ärzt:innen sind die besseren Patient:innen

Manchmal geben Serien dem Publikum aber nicht, was es will, sondern was es braucht. Hathaway litt weiter unter Depres­sionen. In E.R. bestand die Tendenz, Haupt­fi­guren oder ihre Liebsten mit einschnei­denden Diagnosen zu belegen. Ärzt:innen sind mitt­ler­weile zu den über­zeu­gendsten Patient:innen im Genre geworden. Das hat zwei Gründe. Erstens: Time Matters! E.R. ist Notfall­me­dizin auf Speed. Alles ist beschleu­nigt, die Kamera fliegt nur so durch die Gänge. Schnelle Schnitte und rasch wech­selnde Szenen vermit­teln Dring­lich­keit. Die Patient:innen müssen daher rasch zu ihrem medi­zi­ni­schen Höhe­punkt kommen. Ihre Symptome entwi­ckeln sich im Zeit­raffer, das Pfle­ge­per­sonal legt in Licht­ge­schwin­dig­keit Blasen­ka­theter und alle (!) Ärzt:innen sind in der Lage eine Compu­ter­to­mo­grafie in Milli­se­kunden zu inter­pre­tieren. Es folgt die Blitz­the­rapie. Frisch trans­plan­tiert, vernäht und versorgt verschwinden die Patient:innen im Spital­uni­versum und werden vergessen. Für eine Krank­heits­ent­wick­lung oder den lang­wie­rigen Gene­sungs­pro­zess bleibt keine Zeit. Psycho­the­rapie? Fehl­an­zeige. Ergo­the­rapie? Inexis­tent. Reha­bi­li­ta­tion? Wegge­lassen. Pflege? Nein! Physio? Pff! Diese Verkür­zung zählt zu den proble­ma­tischsten Aspekten von Arzt­se­rien, denn sie evozieren völlig falsche Vorstel­lungen von der Trag­weite der ange­wandten Eingriffe.

Haupt­fi­guren hingegen können ihre Probleme und Symptome über mehrere Episoden entwi­ckeln bis sie ihre drama­ti­sche Zuspit­zung erfahren. Jeanie Boulet (Gloria Reuben) bekam 1:38 Sende­zeit, um Dr. Kerry Weaver (Laura Innes) zu sagen, dass sie HIV-positiv ist, und der an Alzheimer erkrankte Dr. Gabriel Lawrence (Alan Alda) erhielt satte 4:00 Minuten für die Einsicht, dass er nicht mehr prak­ti­zieren kann. Dr. Kerry Weaver ihrer­seits brauchte fünf Staf­feln bis sie sich 2001 gegen­über ihrem homo­phoben Vorge­setzten, Dr. Robert Romano (Paul McCrane), als lesbisch outete, um eine Kollegin vor einer miss­bräuch­li­chen Kündi­gung zu schützen:

Dr. Robert Romano: You had better choose your battles very carefully, Kerry. You are the Chief of Emer­gency Medi­cine. Not the County’s lesbian advocate.

Dr. Kerry Weaver : That’s where you are wrong, Robert. I am the Chief of Emer­gency Medi­cine and I am a lesbian. And if you pursue this matter any further I’ll take it to the County Board of Super­vi­sors, the ACLU, the press and anyone else who cares to listen. So I suggest that you choose your battles very carefully.

Potentes Kombi­na­ti­ons­prä­parat

Einge­fleischte E.R.-Fans hatten anfangs sicher Mühe mit Shonda Rhimes’ Grey’s Anatomy (2005–). Das Grey Sloan Memo­rial Hospital strahlte wie Zähne nach dem Blea­ching und die Figuren waren intensiv mit ihren Liebe­leien beschäf­tigt, während sie medi­zi­nisch Einschnei­dendes oft kaffee­schlür­fend bespra­chen (Kaffee­be­cher sind wirk­lich eine Pest in Grey’s Anatomy, während echtes Gesund­heits­per­sonal tagtäg­lich vor sich hin dehy­driert). Sehr viel Detail­liebe hingegen wird in die Medizinal- und Opera­ti­ons­technik inves­tiert und auch neue Errun­gen­schaften erhalten regel­mä­ßige Gast­auf­tritte: Davinci Opera­ti­ons­ro­boter, 3D-Herzhologramme, MasSpec Pens und gezüch­tete Organe erobern das Grey Sloan meist vor ihrer seri­ellen Einfüh­rung. Ein ganzes Team beschäf­tigt sich mit der Herstel­lung über­zeu­gender Requi­siten – vom schla­genden Herzen über tuber­ku­löse Darm­ab­schnitte bis zu tonnen­weise Kaffee­be­chern. Dabei wird nicht nur auf Silicon zurück­ge­griffen. Die meisten gezeigten Organe stammen von Tieren, darunter Kuhherzen und Lamm­ge­hirne. Das Blut besteht aus einer stin­kenden Mischung aus Hühner­fett und Gelee. Die enge Bezie­hung zwischen Tier und Medizin bleibt selbst im Paral­lel­uni­versum unhin­ter­fragt. Die Attrappen faszi­nieren so sehr, dass Requi­si­ten­chefin Angela Whiting ihnen mit @greysprops einen eigenen Twitter-Kanal gewidmet hat.

Grey’s Anatomy machte nach zehn Jahren einen Reife­pro­zess durch. Hinter den Kulissen wurde das toxi­sche Arbeits­klima ange­gangen und Haupt­dar­stel­lerin Ellen Pompeo setzte durch, dass sie besser entlöhnt wird als ihr Side­kick Patrick Dempsey (Derek Sheperd). Nachdem sich die innere Kultur verbes­sert hatte, rückte die Serie vor der Kamera soziale und gesund­heits­po­li­ti­sche Themen immer stärker in den Vorder­grund, darunter: Waffen­ge­walt, häus­liche Gewalt, Immi­gra­ti­ons­po­litik, struk­tu­reller Rassismus in der Medizin, Sexismus, Trans­plan­ta­ti­ons­ge­setze, Trans­feind­lich­keit, Homo­phobie, Kran­ken­ver­si­che­rung, Drogen, Diskri­mi­nie­rung und Spital­po­litik. Spätes­tens seit der 16. Staffel ist die Serie ein poli­ti­scher Kommentar. In Silent All These Years (2019) wird explizit Date-Rape, Rape-Culture, Victim-Blaming und Slut-Shaming adres­siert. In Echt­zeit wird die medi­zi­ni­sche Beweis­si­che­rung nach einem körper­li­chen Angriff und sexu­ellem Miss­brauch bei Abby Redding (Khalilah Joi) gezeigt. Als Abby in den OP gebracht wird, stellen sich Frauen schüt­zend in den Flur, damit sie keinen Mann ansehen muss. Es handelt sich dabei nicht um Statis­tinnen, sondern alle Mitar­bei­te­rinnen der Serie. Sie soli­da­ri­sierten sich mit ihrer „Hallway of Women“ mit der Psycho­lo­gie­pro­fes­sorin Chris­tine Blasey Ford, die vor dem US-Justizausschuss unter Eid aussagte und dem dama­ligen Supreme-Court Kandi­daten Brett Kava­n­augh vorwarf, sie 1982 sexuell bedrängt und beinahe verge­wal­tigt zu haben. Ford sah sich dabei heftigen Anfein­dungen und Victim-Blaming ausge­setzt und wurde von Donald Trump öffent­lich verspottet.

Ellen Pompeo und Chandra Wilson in Grey’s Anatomy, 2021; Quelle: promiflash.de

Als kurze Zeit später die ersten Corona-Viren die vierte Wand durch­bra­chen und sich in der Seri­en­welt verbrei­teten, weichte Grey’s Anatomy die Grenzen zwischen Paral­lel­uni­versum und Realität noch weiter auf. Einer­seits musste die Arbeits­si­cher­heit gewähr­leistet und gleich­zeitig über­legt werden, ob und wie die Pandemie in den Plot inte­griert wird. Manche Seri­en­for­mate versuchten sie komplett zu igno­rieren, bei anderen wurde sie in den Hinter­grund gerückt. Für Arzt­se­rien mit Reali­täts­an­spruch war dieser Weg nicht opportun. Statt­dessen machte Grey’s Anatomy die Pandemie zum Fokus der Staffel 17. Der Cast musste also während der Pandemie eben jene Pandemie spielen. Eigent­lich hätte Prot­ago­nistin Meredith Grey (Ellen Pompeo) in der Staffel 17 in Rente gehen und die Serie enden sollen, statt­dessen machte sie einen schweren Coro­na­ver­lauf durch und ließ das Publikum lange Zeit im Unge­wissen darüber, ob die erfolg­reichste Arzt­serie der Welt wirk­lich während der Pandemie dahin­ge­rafft wird. Auch Corona ist Drama. Meredith Grey über­lebte und die Serie wurde mindes­tens bis Staffel 20 verlän­gert. Seit der Pandemie sind die Spital­fi­guren vereint – auch in der Impf­frage gab es im Gegen­satz zu den realen Vorbilder keine Gegner:innen. Feind­schaften zwischen den Charak­teren gibt es seither nur noch wenige. In der Serie New Amsterdam kommt es gar zum Schul­ter­schluss zwischen medi­zi­ni­schem Leiter und dem Spital­ma­nage­ment. Als Reibungs­punkt bleiben nur noch die Gesund­heits­po­litik und sozialen Probleme aus der Gegen­wart. „How can I help?“ ist zum neuen Mantra der TV-Ärzt:innen geworden.

Die Kombi­na­tion zwischen Diagno­se­drama und Politik erweist sich als hoch­wirksam. So steht knapp siebzig Jahre nach der ersten öffent­li­chen Darstel­lung des Über­le­bens­kampfes eines Neuge­bo­renen die Gynä­ko­logie und Geburts­hilfe wieder im Zentrum. Seit den Verschär­fungen der US-Abtreibungsgesetze tragen die Frauenärzt:innen im Grey Sloan schwarz statt rosa:

The female body has become a war zone in this country, and pink is a peace-time color. (Jo Wilson)

Das US-Arztserienkaleidoskop ist seit einigen Jahren auf Real­po­litik ausge­richtet und zeigt dem Publikum hart­nä­ckig verschie­dene Facetten der Gesell­schaft in Form von schmerz­li­chen Mustern, die vor allem vom weißen Publikum gerne verdrängt werden und nun für einige Unver­träg­lich­keits­re­ak­tionen sorgen. Aus ihren Reihen ertönt oft der Wunsch: „Bitte kehrt zurück zu mensch­li­chen Dramen.“ Wer leidet nun unter Zerr­bil­dern? Die Prognose für die Arzt­se­rien ist günstig, ihnen dürfte ein langes Leben beschieden sein. Wem der harte Klinik­alltag im Grey Sloan zu viel wird, dem sei ein Kurauf­ent­halt in der Sach­sen­klinik empfohlen. Dort ist die Welt noch in Ordnung.