
Regelmäßige Emergency Room (E.R.)-Zuschauende könnten sich durchaus einbilden, zur Durchführung eines Luftröhrenschnittes mittels Sackmesser, Kugelschreiber und Strohhalm in der Lage zu sein. Hyperrealistische Darstellungen medizinischer Praktiken haben sich als führendes Genremerkmal durchgesetzt. Blockbuster wie E.R., Grey’s Anatomy, Chicago Med oder New Amsterdam operieren damit und erzählen Diagnosedramen mit Gegenwartsbezug. Dadurch entstehen Paralleluniversen, in denen kaleidoskopische Zerrbilder der aktuellen Gesundheitsversorgung erzeugt und in die Gesellschaft zurückgespielt werden. Zeit, ein paar Stichproben der einflussreichten Arztserien ins Labor zu schicken und zu untersuchen, in welchen Bereichen der Realismus besonders ausschlägt und wie sich die Werte über die Jahre verändert haben.
Konstruierter Realismus – das Heroin der Arztserien

Quelle: imdb.com
Der Auftritt von Dr. Konrad Styner (gespielt von Richard Boone) in der 30-minütigen Anthologie-Serie Medic (1954–1956) markierte den Einzug des Realismus in das Genre. Medic beanspruchte für sich, ein ungeschminktes Bild der modernen Medizin zu präsentieren. Dadurch hob sich die Serie deutlich von beliebten Seifenopern wie Dr. Kildare und Dr. Christian ab und setzte mit einer Mischung aus Drama und Dokumentation neue Maßstäbe. Jede Episode basierte auf einer realen Fallstudie und zeigte den gesamten Prozess von der Diagnose über die Therapie bis zur Genesung oder zum Tod. „Observationes“ – schon im 17. Jahrhundert auch von Laien gelesene Krankenbeobachtungen – zur Primetime!
Der Realitätsanspruch hatte seinen Preis: Mit einem Budget von 25.000 Dollar pro Folge war die Einrichtung eines Spitalsets samt Operationssaal reines Wunschdenken. Daher gingen die Produzenten eine Kooperation mit der Los Angeles County Medical Association (LACMA) ein. Diese ermöglichte Filmdrehs in Spitälern, ließ den Drehbuchautor im Arbeitsalltag Dialoge aufschreiben und erlaubte das Aufnehmen von Geburten und Operationen. Im Gegenzug forderte die LACMA die Kontrolle über die „medizinische Akkuratheit“ jedes Skripts.
Dafür stellte sie eine Expertenkommission mit bis zu zwanzig Mitgliedern zusammen. Da diese fürchtete, dass Fehler oder Kontroversen in der Serie ihr Ansehen beeinträchtigen könnten, desinfizierten sie so lange an den Skripten rum, bis jegliche Kontaminationsgefahr gebannt schien. Ihre Eingriffe zugunsten der „medizinische Akkuratheit“ reichten von der Wahl der „richtigen“ Automarke für die Protagonisten bis zum Verbot für die TV-Ärzte, während der Fallbesprechung Kaffee zu trinken, weil das zu wenig engagiert wirkte. Die Autoren mussten diese bittere Pille schlucken, denn sie hatten sich komplett von der Gunst der LACMA abhängig gemacht.
Die ständigen Eingriffe hatten verheerende Folgen für die Dramaturgie und Charakterentwicklung. Die Ärzte wirkten wie seelenlose und omnipotente Idealschablonen, die ständig das Publikum belehrten. Höhepunkt der ärztlichen Selbstdarstellung war der Vorspann: Von bedeutungsschwangeren Worten begleitet, zoomte die Kamera von einem Äskulapstab in Nahaufnahme heraus und enthüllte die symbolischen Attribute eines idealen Arztes: die Augen eines Adlers, das Herz eines Löwen und die Hände einer Dame (obwohl es nur Ärzte waren). So will es eine alte Redewendung und so wollte es auch die LACMA. In Medic herrschten Halbgötter in Weiß:
Guardian of birth, healer of the sick, comforter of the aged, to the profession of medicine, to the men and women who labor in its cause, this story is dedicated” (Dr. Konrad Styner, Intro „Medic“)
Mitten in den Babyboom-Jahren legte Medic den Fokus der Pilotfolge, „White Is The Color“, auf die Geburtshilfe. Sie erzählt die Geschichte einer leukämiekranken Schwangeren, die während der Geburt ihres Kindes stirbt. Für die Geburtsszenen wurden Originalaufnahmen eines Neugeborenen kurz nach der Entbindung, bei der Beatmung und bei Wiederbelebungsmaßnahmen durch Kalt-Warmbäder gezeigt. Ein echter Überlebenskampf, eingewoben in die Fiktion. Medizin IST Drama! Die Szene katapultiere Medic sofort in den Serienhimmel und manche Zuschauenden ohnmächtig auf den Teppichboden. Die meisten TV-Kritiker:innen waren begeistert und lobten den Mut, die „harte medizinische Realität“ zu zeigen. In den US-Wohnzimmern flimmerten nun regelmäßig echte Chirurgenhände über den Bildschirm, die an Kieferknochen rumhämmerten, Fußfehlstellungen korrigierten und Organteile herausschnippelten, die Kamera immer direkt auf das Operationsfeld gerichtet.
1956 wurden jedoch die Grenzen des medizinischen Realismus sichtbar, als die Produzenten einen Kaiserschnitt auf den TV-Operationsplan setzten. Damit zogen sie den Zorn eines einflussreichen römisch-katholischen Kirchenvertreters auf sich. In einer Beschwerde an die NBC stellte dieser klar, dass Geburtsaufklärung Sache der Sexualerziehung und damit der Kirche sei und solche Szenen nichts in einem Unterhaltungsformat zu suchen hätten. Es folgte eine veritable Medienschlacht. Die NBC knickte ein und zensierte die Episode, was wiederum die LACMA zum Kochen brachte. Kurze Zeit später wurde die Serie für tot erklärt. Das Erbe von Medic blieb dennoch die Wunderdroge Realismus und die damit verbundene Abhängigkeit von medizinischem Expertenwissen.
Substitutionstherapie in den 1970er-Jahren
Je nach gesellschaftlichem Klima kann Realismus allerdings nicht hochdosiert und pur verabreicht werden. Dann setzen Serien zur Substitutionsbehandlung mit schwarzem Humor und indirekten Anspielungen an. Das Paradebeispiel hierfür ist die 1972 lancierte Sitcom M*A*S*H* (1972–1983). Sie basiert auf dem gleichnamigen Buch und Film. M*A*S*H*, spielt im Koreakrieg in einem fiktiven „Mobile Army Surgical Hospital“ und porträtiert das Leben des medizinischen Personals. Das Paralleluniversum M*A*S*H* spielte zwar zwanzig Jahre in der Vergangenheit, adressierte aber die damalige Gegenwart mitten im Vietnamkrieg. Die in Blödeleien verstrickten Figuren wurden jeweils jäh von den Schrecken des Krieges eingeholt, die sich in Form von blutenden, verletzten, verstümmelten und sterbenden Soldatenkörpern manifestierten. Der Operationssaal fungierte als primärer Ort der Ernsthaftigkeit und präsentierte sich als eine einzige klaffende Wunde.

M*A*S*H*, 1977; Quelle: life.com
Die dargestellte Kriegsmedizin konfrontierte das Publikum aber auch mit Mangellagen und dürftiger Ausstattung. In der sechsten Folge der ersten Staffel, Yankee Doodle Doctor, besucht ein Militärfilmer das Camp. Die Protagonist:innen sind aber derart genervt über die Kriegspropaganda, dass sie den Film vernichten und selbst eine Mockumentary drehen. Am Schluss durchbricht der Hauptcharakter Hawkeye Pierce (Alan Alda) vor einem Verwundeten sitzend die vierte Wand und gibt ein eindringliches Statement ab:
Three hours ago, this man was in a battle. Two hours ago, we operated on him. He’s got a fifty-fifty chance. We win some, we lose some. That’s what it’s all about. No promises. No guaranteed survival. Guns and bombs and anti-personnel mines have more power to take life than we have to preserve it. Not a very happy ending to a movie. But then again, no war is a movie. (Hawkeye Pierce)
In M*A*S*H* zeigte sich bereits, dass sich TV-Mediziner:innen sehr gut – ja vielleicht sogar besser als ihre realen Vorbilder – für politische Statements eignen.
Notfallmedizin auf Steroiden
Emergency Room (1994–2009) prägte das Genre über fünfzehn Jahre. Das Skript von Michael Crichton, einem Anthropologen und Mediziner, entstand bereits 1974, landete aber zugunsten seines Buchprojekts über Dinosaurier-DNA in der Schublade. Nachdem Steven Spielberg daraus Jurassic Park gemacht hatte, wurde E.R. 1993 wiederbelebt.

Emergency Room, 1994: Quelle: imdb.com
Die Welt war eine andere geworden: Das US-Gesundheitssystem befand sich in der Krise, die Spitäler zeigten Erosionserscheinungen und die Arztserien plätscherten mit mäßigen Einschaltquoten vor sich hin. Ursprünglich waren alle fünf Hauptfiguren als weiße Männer angelegt. Das erschien nun nicht mehr zeitgemäß. So wurde Dr. Lewis eine Frau (Sherry Stringfield) und Dr. Peter Benton Schwarz (Eriq La Salle). E.R. zeigte authentisches Personal unterschiedlichen Alters, Herkunft und Körperformen mit vielfältigen Charaktereigenschaften. Die Hauptfiguren waren fehlbar, trafen fragwürdige Entscheidungen, waren herzlich und fies zugleich und durften sogar ab und an Kaffee trinken. E.R. initiierte einen Diversifikationsprozess, auf den spätere Serien wie Scrubs und Grey’s Anatomy aufbauten. In anderen Aspekten blieb die Serie traditionell: Sie drehte sich um eine Notaufnahme in einer Großstadt, in der technisch hochgerüstete Spitzenmedizin gezeigt wurde und Ärzt:innen im Mittelpunkt standen..
Die Pilotfolge von E.R., 24-Hours, beginnt mit einem schnarchenden Dr. Mark Greene (Anthony Edwards), der von der Notfallpflegerin Lydia Wrigth (Ellen Crawford) geweckt wird. Auch sie sieht müde und abgekämpft aus. Wenige Minuten später wird die leitende Notfallschwester Carol Hathaway (Julianna Margulies) mit einer Medikamentenüberdosis eingeliefert. Das System kollabiert. Ursprünglich hätte Hathaway sterben sollen, doch das Testpublikum reagierte derart negativ auf ihren Tod, dass sie stattdessen zur einzigen Hauptfigur befördert wurde, die kein Medizinstudium hatte. Trotz Rettung blieb der Suizidversuch ein Aufreger, besonders unter US-Pflegefachkräften, die sich an der notorisch schlechten Darstellung ihres Berufsstandes störten und den Suizidversuch der kompetenten und engagierten Schwester als Makel ansahen. Ihr Vorwurf war nicht unbegründet. Während Ärztegesellschaften seit 1954 dafür gesorgt hatten, dass der Ruf ihres Berufsstandes mehrheitlich unangetastet blieb, konnten sich die Filmemacher bei den Krankenschwestern ungebremst negativer Klischees bedienen.
Ärzt:innen sind die besseren Patient:innen
Manchmal geben Serien dem Publikum aber nicht, was es will, sondern was es braucht. Hathaway litt weiter unter Depressionen. In E.R. bestand die Tendenz, Hauptfiguren oder ihre Liebsten mit einschneidenden Diagnosen zu belegen. Ärzt:innen sind mittlerweile zu den überzeugendsten Patient:innen im Genre geworden. Das hat zwei Gründe. Erstens: Time Matters! E.R. ist Notfallmedizin auf Speed. Alles ist beschleunigt, die Kamera fliegt nur so durch die Gänge. Schnelle Schnitte und rasch wechselnde Szenen vermitteln Dringlichkeit. Die Patient:innen müssen daher rasch zu ihrem medizinischen Höhepunkt kommen. Ihre Symptome entwickeln sich im Zeitraffer, das Pflegepersonal legt in Lichtgeschwindigkeit Blasenkatheter und alle (!) Ärzt:innen sind in der Lage eine Computertomografie in Millisekunden zu interpretieren. Es folgt die Blitztherapie. Frisch transplantiert, vernäht und versorgt verschwinden die Patient:innen im Spitaluniversum und werden vergessen. Für eine Krankheitsentwicklung oder den langwierigen Genesungsprozess bleibt keine Zeit. Psychotherapie? Fehlanzeige. Ergotherapie? Inexistent. Rehabilitation? Weggelassen. Pflege? Nein! Physio? Pff! Diese Verkürzung zählt zu den problematischsten Aspekten von Arztserien, denn sie evozieren völlig falsche Vorstellungen von der Tragweite der angewandten Eingriffe.
Hauptfiguren hingegen können ihre Probleme und Symptome über mehrere Episoden entwickeln bis sie ihre dramatische Zuspitzung erfahren. Jeanie Boulet (Gloria Reuben) bekam 1:38 Sendezeit, um Dr. Kerry Weaver (Laura Innes) zu sagen, dass sie HIV-positiv ist, und der an Alzheimer erkrankte Dr. Gabriel Lawrence (Alan Alda) erhielt satte 4:00 Minuten für die Einsicht, dass er nicht mehr praktizieren kann. Dr. Kerry Weaver ihrerseits brauchte fünf Staffeln bis sie sich 2001 gegenüber ihrem homophoben Vorgesetzten, Dr. Robert Romano (Paul McCrane), als lesbisch outete, um eine Kollegin vor einer missbräuchlichen Kündigung zu schützen:
Dr. Robert Romano: You had better choose your battles very carefully, Kerry. You are the Chief of Emergency Medicine. Not the County’s lesbian advocate.
Dr. Kerry Weaver : That’s where you are wrong, Robert. I am the Chief of Emergency Medicine and I am a lesbian. And if you pursue this matter any further I’ll take it to the County Board of Supervisors, the ACLU, the press and anyone else who cares to listen. So I suggest that you choose your battles very carefully.
Potentes Kombinationspräparat
Eingefleischte E.R.-Fans hatten anfangs sicher Mühe mit Shonda Rhimes’ Grey’s Anatomy (2005–). Das Grey Sloan Memorial Hospital strahlte wie Zähne nach dem Bleaching und die Figuren waren intensiv mit ihren Liebeleien beschäftigt, während sie medizinisch Einschneidendes oft kaffeeschlürfend besprachen (Kaffeebecher sind wirklich eine Pest in Grey’s Anatomy, während echtes Gesundheitspersonal tagtäglich vor sich hin dehydriert). Sehr viel Detailliebe hingegen wird in die Medizinal- und Operationstechnik investiert und auch neue Errungenschaften erhalten regelmäßige Gastauftritte: Davinci Operationsroboter, 3D-Herzhologramme, MasSpec Pens und gezüchtete Organe erobern das Grey Sloan meist vor ihrer seriellen Einführung. Ein ganzes Team beschäftigt sich mit der Herstellung überzeugender Requisiten – vom schlagenden Herzen über tuberkulöse Darmabschnitte bis zu tonnenweise Kaffeebechern. Dabei wird nicht nur auf Silicon zurückgegriffen. Die meisten gezeigten Organe stammen von Tieren, darunter Kuhherzen und Lammgehirne. Das Blut besteht aus einer stinkenden Mischung aus Hühnerfett und Gelee. Die enge Beziehung zwischen Tier und Medizin bleibt selbst im Paralleluniversum unhinterfragt. Die Attrappen faszinieren so sehr, dass Requisitenchefin Angela Whiting ihnen mit @greysprops einen eigenen Twitter-Kanal gewidmet hat.
Grey’s Anatomy machte nach zehn Jahren einen Reifeprozess durch. Hinter den Kulissen wurde das toxische Arbeitsklima angegangen und Hauptdarstellerin Ellen Pompeo setzte durch, dass sie besser entlöhnt wird als ihr Sidekick Patrick Dempsey (Derek Sheperd). Nachdem sich die innere Kultur verbessert hatte, rückte die Serie vor der Kamera soziale und gesundheitspolitische Themen immer stärker in den Vordergrund, darunter: Waffengewalt, häusliche Gewalt, Immigrationspolitik, struktureller Rassismus in der Medizin, Sexismus, Transplantationsgesetze, Transfeindlichkeit, Homophobie, Krankenversicherung, Drogen, Diskriminierung und Spitalpolitik. Spätestens seit der 16. Staffel ist die Serie ein politischer Kommentar. In Silent All These Years (2019) wird explizit Date-Rape, Rape-Culture, Victim-Blaming und Slut-Shaming adressiert. In Echtzeit wird die medizinische Beweissicherung nach einem körperlichen Angriff und sexuellem Missbrauch bei Abby Redding (Khalilah Joi) gezeigt. Als Abby in den OP gebracht wird, stellen sich Frauen schützend in den Flur, damit sie keinen Mann ansehen muss. Es handelt sich dabei nicht um Statistinnen, sondern alle Mitarbeiterinnen der Serie. Sie solidarisierten sich mit ihrer „Hallway of Women“ mit der Psychologieprofessorin Christine Blasey Ford, die vor dem US-Justizausschuss unter Eid aussagte und dem damaligen Supreme-Court Kandidaten Brett Kavanaugh vorwarf, sie 1982 sexuell bedrängt und beinahe vergewaltigt zu haben. Ford sah sich dabei heftigen Anfeindungen und Victim-Blaming ausgesetzt und wurde von Donald Trump öffentlich verspottet.

Ellen Pompeo und Chandra Wilson in Grey’s Anatomy, 2021; Quelle: promiflash.de
Als kurze Zeit später die ersten Corona-Viren die vierte Wand durchbrachen und sich in der Serienwelt verbreiteten, weichte Grey’s Anatomy die Grenzen zwischen Paralleluniversum und Realität noch weiter auf. Einerseits musste die Arbeitssicherheit gewährleistet und gleichzeitig überlegt werden, ob und wie die Pandemie in den Plot integriert wird. Manche Serienformate versuchten sie komplett zu ignorieren, bei anderen wurde sie in den Hintergrund gerückt. Für Arztserien mit Realitätsanspruch war dieser Weg nicht opportun. Stattdessen machte Grey’s Anatomy die Pandemie zum Fokus der Staffel 17. Der Cast musste also während der Pandemie eben jene Pandemie spielen. Eigentlich hätte Protagonistin Meredith Grey (Ellen Pompeo) in der Staffel 17 in Rente gehen und die Serie enden sollen, stattdessen machte sie einen schweren Coronaverlauf durch und ließ das Publikum lange Zeit im Ungewissen darüber, ob die erfolgreichste Arztserie der Welt wirklich während der Pandemie dahingerafft wird. Auch Corona ist Drama. Meredith Grey überlebte und die Serie wurde mindestens bis Staffel 20 verlängert. Seit der Pandemie sind die Spitalfiguren vereint – auch in der Impffrage gab es im Gegensatz zu den realen Vorbilder keine Gegner:innen. Feindschaften zwischen den Charakteren gibt es seither nur noch wenige. In der Serie New Amsterdam kommt es gar zum Schulterschluss zwischen medizinischem Leiter und dem Spitalmanagement. Als Reibungspunkt bleiben nur noch die Gesundheitspolitik und sozialen Probleme aus der Gegenwart. „How can I help?“ ist zum neuen Mantra der TV-Ärzt:innen geworden.
Die Kombination zwischen Diagnosedrama und Politik erweist sich als hochwirksam. So steht knapp siebzig Jahre nach der ersten öffentlichen Darstellung des Überlebenskampfes eines Neugeborenen die Gynäkologie und Geburtshilfe wieder im Zentrum. Seit den Verschärfungen der US-Abtreibungsgesetze tragen die Frauenärzt:innen im Grey Sloan schwarz statt rosa:
The female body has become a war zone in this country, and pink is a peace-time color. (Jo Wilson)
Das US-Arztserienkaleidoskop ist seit einigen Jahren auf Realpolitik ausgerichtet und zeigt dem Publikum hartnäckig verschiedene Facetten der Gesellschaft in Form von schmerzlichen Mustern, die vor allem vom weißen Publikum gerne verdrängt werden und nun für einige Unverträglichkeitsreaktionen sorgen. Aus ihren Reihen ertönt oft der Wunsch: „Bitte kehrt zurück zu menschlichen Dramen.“ Wer leidet nun unter Zerrbildern? Die Prognose für die Arztserien ist günstig, ihnen dürfte ein langes Leben beschieden sein. Wem der harte Klinikalltag im Grey Sloan zu viel wird, dem sei ein Kuraufenthalt in der Sachsenklinik empfohlen. Dort ist die Welt noch in Ordnung.